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Warum ist die pathohistologische Diagnostik von Tumoren kleiner Speicheldrüsen viel schwieriger und damit gefährlicher als die von Tumoren großer Speicheldrüsen?

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Warum ist die pathohistologische Diagnostik von Tumoren kleiner Speicheldrüsen viel schwieriger und damit gefährlicher als die von Tumoren großer Speicheldrüsen?

Lukas Greber 1,2, Stephan Ihrler 3,4

1 Sanitätsversorgungszentrum Altenstadt

2 Medizinische Fakultät, Zahnmedizin, Ludwig-Maximilians-Universität

3 DERMPATH München

4 Pathologisches Institut, Ludwig-Maximilians-Universität

Einleitung

Tumore der kleinen Speicheldrüsen umfassen nur ca. 20 % aller Speicheldrüsentumore, z.T. in Form von speziellen, sehr seltenen Entitäten und gelten im Vergleich zu den viel häufigeren Tumoren der großen Speicheldrüsen vielfach nur als „seltene Speicheldrüsentumore in anderer Lokalisation“. Jedoch sind Tumore der kleinen Speicheldrüsen durch vielfältige Besonderheiten gekennzeichnet, die wenig bekannt sind, aber zu vielen Problemen in der klinisch-pathologischen Zusammenarbeit führen [1][2]. So ist die pathohistologische Diagnostik von Tumoren kleiner Speicheldrüsen offenbar schwieriger und führt augenscheinlich häufiger zu Fehldiagnosen. Zudem ist das therapeutische Prozedere oftmals unterschiedlich. Da kaum umfassende Literatur zu diesem für die Patientenversorgung sehr relevanten Thema vorliegt, wurde diese Untersuchung veranlasst.

Eine Gegenüberstellung von Daten aus einer eigenen großen Konsilserie und umfangreichen Normalserien aus der Literatur (Metaanalyse) ermöglichte einen statistischen Vergleich zwischen Tumoren der großen Speicheldrüsen und Tumoren der kleinen Speicheldrüsen hinsichtlich zahlreicher potenzieller Ursachen und Konsequenzen dieses Unterschieds. Es wurden dazu bewusst Daten aus einer eigenen Konsilserie herangezogen, da es sich bei Konsilmaterial naturgemäß um Fälle mit hoher diagnostischer Schwierigkeit handelt [3][4]. Nur durch diese besondere Konstellation konnten Kriterien für diagnostische Schwierigkeiten bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen identifiziert und statistisch überprüft werden. Erfahrungen und subjektive Besonderheiten aus der Literatur und der eigenen diagnostischen Arbeit (S.I.) komplettieren die Belege.

Material und Methoden

Die eigene Serie umfasste 809 konsekutive Konsil-Fälle von primären epithelialen Tumoren der Speicheldrüsen (S.I., DERMPATH München) der Jahre 2016 bis 2019, davon 428 Tumore der großen Speicheldrüsen und 378 der kleinen Speicheldrüsen (davon 180 am Gaumen). Bezüglich detaillierter Inklusions- und Exklusions-Kriterien, ausgewerteter klinischer und histologischer Befunde sowie diagnostisch eingesetzter Molekularpathologie wird auf die Originalarbeit verwiesen.

Auf Basis einer systematischen Suche in der englischsprachigen Literatur wurden 249 Publikationen identifiziert, welche in unterschiedlichem Umfang relevante Informationen zu Tumoren der Speicheldrüsen enthielten. Die Daten von 25 Publikationen erfüllten die Voraussetzung für einen Einschluss in den statistischen Vergleich (mit insgesamt 6380 Fällen).

Ergebnisse und Diskussion

Tumore der kleinen Speicheldrüsen umfassen im Normalkollektiv 21,6 % aller Speicheldrüsentumore. Dies bedeutet in allen Aspekten in Klinik und Pathologie weniger Erfahrung und weniger sichere wissenschaftliche Erkenntnisse als bei Tumoren der großen Speicheldrüsen. Dagegen umfassen Tumore der kleinen Speicheldrüsen in der eigenen Konsilserie 46,7 % aller Speicheldrüsenfälle (im Vergleich signifikant überpräsentiert). Da in aller Regel nur diagnostisch schwierige bzw. unklare Tumore zu einer konsiliarischen Mitbeurteilung versandt werden, war bereits dies ein erster klarer statistischer Hinweis auf eine größere diagnostische Schwierigkeit bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen.

Im Normalkollektiv waren Tumore der kleinen Speicheldrüsen mehr als doppelt so häufig maligne (54,1 %). Eine derart größere relative Häufigkeit von Malignität in kleinen Speicheldrüsen bedeutet für die Patienten eine größere prognostische und therapeutische Relevanz und für die Pathologie eine starke Konzentration auf schwierigere Fälle.

Die Karzinome der kleinen Speicheldrüsen waren in der eigenen Konsilserie signifikant häufiger gut differenziert (93,7 %) als die der großen Speicheldrüsen (72,9 %; Literaturdaten völlig fehlend). Gut differenzierte Karzinome der Speicheldrüsen zeigen häufig nur geringe oder fehlende Zellatypien, keine gesteigerte proliferative Aktivität und in bestimmten Konstellationen (v. a. bei Biopsien, dazu weiter unten mehr) keine eindeutige Infiltration. Somit liegen oftmals keine sicheren klassischen histologischen Kriterien für Malignität vor. Daher ist die Abgrenzung von benignen Adenomen sehr schwierig oder gar nicht möglich.

Es ist in der Pathologie allgemein anerkannt, dass bei kleinen und/oder oberflächlichen Probebiopsien eine eindeutige Diagnosestellung schwieriger und damit weniger sicher ist als an einem kompletten Tumorresektat. Gründe sind u. a. eine Einschränkung der Repräsentativität für den Gesamttumor, ein fehlender oder nicht möglicher Nachweis von Invasion, ein fehlender Bezug zum Oberflächenepithel sowie assoziierte artifizielle Veränderungen (Quetschung, Fragmentierung u. a.). Eine häufig grundlegend unterschiedliche operative Strategie bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen spielt hier eine wichtige, aber zu wenig beachtete Rolle.

Eine in der Konsilserie circa 8-mal höhere Rate an initialen Probebiopsien bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen (54,5 %) im Vergleich zu Tumoren großer Speicheldrüsen (6,8 %; signifikant; dazu keine Daten in der Literatur) dürfte nach unserer Einschätzung im Vergleich zu allen anderen Gründen den wichtigsten Faktor für eine größere diagnostische Schwierigkeit bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen bedingen.

Es kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: Während Tumore der großen Speicheldrüsen in der Regel von in der Speicheldrüsenchirurgie erfahrenen Operateuren (HNO und Kieferchirurgie, meist in größeren Zentren) reseziert werden, werden Probebiopsien von mukosalen tumorösen Läsionen zusätzlich von einer potenziell großen Zahl von operativ weniger erfahrenen Medizinern (Zahnärzte, meist ambulant in Einzelpraxen) durchgeführt. Eine mangelnde Erfahrung grundsätzlich mit Tumoren der Speicheldrüsen (mitunter bedingt durch ihre Seltenheit) kann in dieser Konstellation häufiger zu sehr kleinen und/oder oberflächlichen, mithin schwierig oder nicht diagnostizierbaren, Biopsaten führen (persönliche subjektive Erfahrung; dazu keine Daten verfügbar). Der Gaumen, als häufigste Lokalisation von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen, spielt hierbei eine besondere Rolle.

Abb. 1: Die spezielle topographische Konstellation am harten Gaumen: a: Die anatomische Darstellung [6] demonstriert den sehr engen Raum zwischen Gaumenknochen und Gaumenschleimhaut (Rechteck). b: Ein kleines pleomorphes Adenom (Pfeile) arrodiert den Gaumenknochen, da Ausdehnung in Richtung Schleimhaut sehr erschwert. c: Kleines Myoepitheliom mit Schleimhautulkus in Folge einer partiellen ischämischen Tumornekrose. d: Gaumenresektat mit diffuser Infiltration durch adenoidzystisches Karzinom (Sterne), rechts weicher Gaumen, links harter Gaumen mit Knocheninfiltration (Pfeile, dadurch bereits pT4) (Bildquellennachweis: beim Verfasser)

Auf Grund beengter Platzverhältnisse, vor allem an der speziellen anatomischen Lokalisation des harten Gaumens, ist die unabdingbare Tumorexpansion stark eingeschränkt (Abbildung 1). Konsekutive Durchblutungsstörungen führen hier häufig zu Tumornekrose, Ulzeration und entzündlichen Überlagerungen mit möglichen sekundären Veränderungen wie Plattenepithelmetaplasie. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass Tumore am harten Gaumen häufig nicht bekapselt sind und so das Bild einer Pseudoinfiltration entstehen kann. Der sehr enge Raum am harten Gaumen bedingt ein weiteres Phänomen: Die Nähe zum Gaumenknochen kann zu einer frühen Knocheninfiltration von z.T. noch kleinen Karzinomen (pathognomonisch beim adenoidzystischen Karzinom; Abbildung 1d) und damit zu operativen Problemen und massiver Verschlechterung der Prognose führen (pT1 wird direkt zu pT4). Auch gutartige Adenome können den eng benachbarten Knochen arrodieren und damit einen radiologisch malignitätsverdächtigen Befund verursachen (Abbildung 1b).

Diese Besonderheiten am Gaumen, die oben aufgeführte Überpräsentation von gut differenzierten Tumoren und die hohe Rate an initialen Probebiospien bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen können die Schwierigkeit in der Diagnostik erklären. Der für die Fragestellung allerdings aussagefähigste Beleg und damit Konsequenz einer diagnostischen Schwierigkeit war der Nachweis einer wesentlichen Diagnose-Diskrepanz zwischen der initialen Einsende-Diagnose und der abschließenden Konsil-Diagnose. Dieser Vergleich war allein fokussiert auf die Frage der Dignität (benigne vs. maligne). Eine signifikant häufigere Diagnose-Diskrepanz bezüglich der Dignität war bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen (20,5 %) im Vergleich zu Tumoren der großen Speicheldrüsen (13,7 %) wohl das aussagefähigste statistische Argument für eine größere diagnostische Schwierigkeit bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen (dazu keine Daten in der Literatur).

Schlussfolgerungen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die „diagnostische Schwierigkeit“ bei Tumoren der kleinen Speicheldrüsen im Vergleich zu den viel häufigeren Tumoren großer Speicheldrüsen durch die vorliegende Untersuchung substanziell und statistisch signifikant gestützt bzw. wohl bewiesen ist und damit Tumore der kleinen Speicheldrüsen viel mehr sind als nur „Speicheldrüsentumore in anderer Lokalisation“. Die drei wichtigsten Gründe für die diagnostische Schwierigkeit sind die hohe Häufigkeit einer low-grade Graduierung (gut differenziert) der ­malignen Tumore und häufige initiale Probebiopsien ­sowie anatomische Besonderheiten des Gaumens (Abbildung 2).

Abb. 2: 14 unterschiedliche Gründe, warum die Diagnostik von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen schwieriger ist als die der viel häufigeren Tumoren der großen Speicheldrüsen; ­Ergebnisse aus *Normalserien bzw. °Konsilserie.

Die Kenntnis dieser Besonderheiten führt zu einer Reihe von Empfehlungen sowohl für die Klinik (Zahnmedizin, MKG, HNO) als auch für die Pathologie: Bei kleinen Tumoren der kleinen Speicheldrüsen wird im Allgemeinen eine Resektion (Exzisionsbiopsie) anstelle einer Probe- (Inzisions) biopsie empfohlen. Bei unklarer Diagnose in der initialen Probebiopsie sollte eine Resektion erfolgen (keine zweite Probebiopsie). Bei allen sind eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und insbesondere das Einreichen und Weitergeben klinischer Informationen von sehr hoher Relevanz.

Der Sanitätsdienst zeichnet sich durch einen interdisziplinären und approbationsübergreifenden Ansatz aus (Bundeswehrkrankenhäuser und auch in der Regionalität durch Sanitätsversorgungszentren mit meist zahn- und humanmedizinischen Bereichen) und schafft so opti­male Vorrausetzungen, um Schwierigkeiten und Unzuläng­lichkeiten bei der korrekten pathohistologischen Diagnostik von Tumoren der kleinen Speicheldrüsen zu überwinden. Zudem bestärkt dieser Ansatz den angestrebten Paradigmenwechsel in der Zahnmedizin „Weg von Ästhetik, Kosmetik und Wellness hin zu oral-medizinischen Zusammenhängen“, da (intraorale) Tumore der kleinen Speicheldrüsen vor allem in der initialen Diagnostik in das Tätigkeitsfeld der Zahnmedizin fallen [5].

Literatur

1. Ihrler S, Guntinas-Lichius O, Haas C, Mollenhauer M: Neues zu Tumoren der Speicheldrüsen. Der Pathologe 2018; 39(1): 1-17. mehr lesen

2. Turk AT, Wenig BM: Pitfalls in the Biopsy Diagnosis of Intraoral Minor Salivary Gland Neoplasms: Diagnostic Considerations and Recommended Approach. Advances in Anatomic Pathology 2014; 21(1): 1-11. mehr lesen

3. Chiosea SI, Peel R, Barnes EL, Seethala RR: Salivary type tumors seen in consultation. Virchows Archiv 2009; 454(4): 457-466. mehr lesen

4. Eveson JW, Cawson RA: Tumours of the minor (oropharyngeal) salivary glands: a demographic study of 336 cases. J Oral Pathology & Medicine 1985; 14(6): 500-509. mehr lesen

5. Frankenberger R: Orale Medizin und Immunkompetenz oder: Was kann Zahnmedizin? Quintessenz Zahnmedizin 2020; 71: 1311. mehr lesen

6. Paulsen F, Waschke J, Sobotta J: Atlas der Anatomie. In: Vol 24. München: Elsevier Urban & Fischer 2017; 83.

Für die Verfasser:

Stabsarzt Lukas Greber

Sanitätsversorgungszentrum Altenstadt

Burglachbergstraße 30, 86972 Altenstadt,

E-Mail: lukasgreber@bundeswehr.org

Heinz-Gerngross-Förderpreis 2022 PDF

Virtuelle Naturumgebungen für Soldatinnen und Soldaten mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung – mit welcher Technik sollen sie dargeboten werden?

Thiemo Knaust1 , Helge Höllmer1

1 Zentrum für Seelische Gesundheit, Bundeswehrkrankenhaus Hamburg

Hintergrund

Die Jahresberichte der Wehrbeauftragten zeigen, dass die Anzahl der jährlichen neuerkrankten Personen mit einer einsatzassoziierten psychischen Störung auf einem gleichbleibenden hohen Niveau ist [1]. Kohärent hierzu steigt die Gesamtanzahl zu versorgender Soldatinnen und Soldaten kontinuierlich. Die Berichte heben hervor, dass sich einsatzassoziierte psychische Erkrankungen nicht kurzfristig therapieren lassen und sich eine Behandlung häufig über mehrere Jahre erstreckt. Das Bild der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) stellt innerhalb der einsatzassoziierten psychischen Erkrankungen nicht nur eine besondere Herausforderung dar, sondern ist auch seit mehreren Jahren die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung in diesem besonderen Kontext [1]. Eine Beobachtung, die auch international geteilt wird. So berichten immer mehr Länder von dem Phänomen der therapieresistenten PTBS – speziell bei Militärangehörigen [2][4]. Aufgrund der kontinuierlich steigenden Anzahl an einsatzassoziierten psychischen Erkrankungen in den Bundeswehrkrankenhäusern und dem zunehmenden internationalen Stellenwert der therapieresistenten PTBS gibt es einen Bedarf an innovativen Versorgungsformen. Eine Möglichkeit stellt der adjuvante Einsatz von immersiv dargebotenen Entspannungsinterventionen, wie z. B. virtuellen Naturumgebungen, dar [4].

Immersion beschreibt dabei die technischen Eigenschaften der virtuellen Umgebung, welche sich aus dem Zusammenspiel zwischen Hard- und Software ergeben und systematisch mit der Inclusiveness, Extensiveness, Surrounding und Vividness beschrieben werden können [5]. Mit Inclusiveness wird dargestellt, inwiefern die reale Umgebung durch die Technik substituiert bzw. ersetzt wird. Wie viele Sinne durch die Technik angesprochen werden, konkretisiert Extensiveness. Surrounding gibt das Sichtfeld des Nutzenden wieder und wird mit dem Field-of-View erfasst. Die technischen Charakteristika wie hohe Auflösung der virtuellen Umgebung, realistische und lebendige Gestaltung sowie Interaktionsmöglichkeiten (z. B. Three Degrees of Freedom, 3DoF vs. Six Degrees of Freedom, 6DoF) lassen sich unter dem Begriff Vividness zusammenfassen.

Allgemein gilt der stressreduzierende Effekt von realen Naturumgebungen auf das psychische und physische Wohlbefinden als gesichert [6]. Für virtuelle Naturumgebungen ist eine Grundannahme, dass diese bei Darbietung mittels immersiver Technologie realen Naturum­gebungen ähneln und deshalb auch vergleichbare Entspannungseffekte erwartet werden können [3]. Allerdings ist anhand der bestehenden Datenlage eine gesicherte empirische Schlussfolgerung, ob und wie sich immersive von realen Naturumgebungen unterscheiden, noch nicht möglich. Bisherige Studien fanden zwar überwiegend nicht-signifikante Unterschiede hinsichtlich des psychischen und physischen Wohlbefindens zwischen immersiv dargebotenen im Vergleich zu realen Naturumgebungen; allerdings waren die Teststärken dieser Studien nicht ausreichend hoch, um Äquivalent- und/oder Nicht-Unterlegenheitshypothesen gesichert nachweisen zu können [3][4]. Unabhängig davon ist der Zugang zu realen Naturumgebungen, besonders während der stationären Versorgung psychischer Störungsbilder in Großstadtkrankenhäusern sowie der Abhängigkeit dieser Therapiemethode von der Witterung und jahreszeitlichen Bedingungen, stark limitiert. Speziell unter solchen Rahmenbedingungen zeigt sich das Potenzial immersiv dargebotener Naturumgebungen, da die unterschiedlichsten Naturumgebungen über ein Head-Mounted Display (HMD) (nahezu) ortsunabhängig präsentiert werden können. Zudem könnten sie zeitlich flexibel, zum Beispiel beim intrusiven Wiedererleben in der Nacht, und unbegrenzt oft genutzt werden. Sie gelten als easy-to-use und fordern der Patientenschaft wenig Energie und Antrieb ab, was eine gute Akzessibilität und Nutzung vermuten lässt [4].

Die derzeitig populärste Umsetzung virtueller Naturumgebungen sind monoskopische 360°Naturvideos, welche über ein HMD dargeboten werden [3]. Verglichen mit stereoskopischen 360°Naturvideos und/oder 3D computerprogrammierten Naturumgebungen, profitieren sie von niedrigen Produktions- und Anschaffungskosten, einer relativ einfachen Bedienung sowie Postproduktion, was die Realisierbarkeitswahrscheinlichkeit, sie zukünftig als eigenständige Leistung innerhalb der Bundeswehr flächendeckend einsetzen zu können, erhöht. Für die Behandlung von Soldatinnen und Soldaten mit einer PTBS könnte ihre entspannende, emotionsregulative und distraktorische Wirkung anfallenden postkonfrontativen Disstress und Hyperarousal reduzieren und so zur Traumatherapieadhärenz beitragen [4]. Zudem könnte der entspannungsinduzierende Effekt auch für die Behandlung weiterer stressassoziierter psychischer Störungsbilder wie Depressionen oder Anpassungsstörung genutzt werden.

Allerdings ist aktuell unklar, mit welcher Hardware monoskopische 360°Naturvideos präsentiert werden sollten, um einen möglichst großen Entspannungseffekt zu erzeugen. Auch aus einer praktischen Perspektive stellt sich diese Frage, um zu entscheiden, ob zum Beispiel HMDs für die Nutzung von monoskopischen 360°Naturvideos angeschafft werden sollen oder auch ein ähnlicher Entspannungseffekt mit herkömmlicher Hardware (PC-, TV-Bildschirme, Tablets etc.) erzielt werden kann. Auch bezüglich der immersionsreduzierenden Eigenschaften monoskopischer 360°Naturvideos stellt sich diese Frage, da sie die immersiven Funktionseigenschaften aktueller HMDs nicht vollumfänglich ausschöpfen [3]. So ist die Interaktionsmöglichkeit mit der virtuellen Naturumgebung auf 3DoF (anstatt 6DoF) limitiert. Demnach kann sich der Rezipient/die Rezipientin zum Beispiel nicht frei in der virtuellen Naturumgebung bewegen und/oder virtuelle Objekte können nicht berührt, herangezogen oder weggeworfen etc. werden. Die Interaktion beschränkt sich auf das Angucken der virtuellen Naturumgebung mit einem 360°Rundumblick aus der Ich-Perspektive. Darüber hinaus wird das Videomaterial zweidimensional anstatt dreidimensional abgespielt, was auch durch weniger immersive Hardware (PC- und/oder TV-Bildschirme) möglich ist [3]. Für die Darbietung via HMD spricht hingegen die vollständige Substitution der realen Umgebung sowie die blickpunktabhängige Bildgenerierung. Letztendlich bleibt unklar, ob der Immersionsunterschied zwischen monoskopischen 360°Naturvideos via HMD und PC- oder TV-Bildschirmen ausreichend hoch ist, um Entspannungsunterschiede detektieren zu können oder hierfür nicht weniger-immersive bzw. herkömmlichere Hardware ausreichend ist.

Methode

Dieser grundlagenorientierten Forschungsfrage ist das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg mit einer randomisierten, kontrollierten, ausbalancierten inner-subject-design Studie mit gesunden Teilnehmenden (N = 102; 40.2 % Frauen; Alterspanne: 19–62, MAlter = 36.5, SDAlter = 12.6) nachgegangen [3]. Die Entspannung wurde mit selbstberichteten und psychophysiologischen Parametern (Hautleitfähigkeit, kurz: SCL und Herzrate, kurz: HR) operationalisiert. Die Probandinnen und Probanden sahen ein monoskopisches 360°Naturvideo via HMD (Strand), das gleiche Video via PC-Bildschirm und durchliefen eine Kontrollbedingung ohne Strandvideo. Vor der jeweiligen Experimentalbedingung wurden den Teilnehmenden Kopfrechenaufgaben gestellt, um das physiologische Aktivierungsniveau zu erhöhen (Abbildung 1 visualisiert den Versuchsablauf und Abbildung 2 zeigt einen Ausschnitt des Strandvideos).

Abb. 1: Eindruck des Versuchsablaufes

Abb. 2: Dargebotene Strandaufnahme (© Atmosphaeres)

Ergebnisse

In der varianzanalytischen Untersuchung mit Messwiederholungen zeigte sich eine signifikant größere Abnahme der SCL in der VR (Cohen’s d = 0.24, p = .008) und PC-Bedingung (Cohen’s d = 0.28, p = .004) als in der Kontrollbedingung. Es bestand aber kein signifikanter Unterschied zwischen der VR- und PC-Bedingung ­Cohen’s d = 0.017, p = .465). Für die HR waren keine signifikanten Unterschiede zwischen den Experimentalbedingungen nachweisbar; vermutlich mitbedingt durch einen Bodeneffekt. Allerdings wurde die VR-Bedingung subjektiv als signifikant entspannender erlebt als die PC-­(Cohen’s d = 0.62, p ≤ .001) und Kontrollbedingung ­(Cohen’s d = 0.60, p ≤ .001), wobei es keine signifikanten Unterschiede zwischen der PC- und der Kontrollbedingung (Cohen’s d = 0.03, p = .293) gab (siehe Abbildung 3). Explorative Analysen zeigten, dass sowohl die psychophysiologischen als auch selbstberichteten Entspannungsratings nicht durch das Alter, das Geschlecht oder die Technologieangst der Probandinnen und Probanden moderiert wurden [3].

Abb. 3: Raincloud Plots zu der selbstberichteten Entspannung

Schlussfolgerung

Die Ergebnisse zeigen, dass ein monoskopisches 360°Strandvideo via HMD signifikant entspannender erlebt wird als das gleiche Video via PC-Bildschirm oder einer Kontrollbedingung. Die Ergebnisse werden nicht vom Alter, Geschlecht oder der Technologieängstlichkeit der Probandinnen und Probanden beeinflusst. Dies spricht für eine breite Anwendbarkeit. Keine unserer teilnehmenden Personen brach das HMD, zum Beispiel aufgrund von Schwindelgefühlen oder Übelkeit, vorzeitig ab, weshalb wir die Wahrscheinlichkeit von Motion Sickness und Cyber Sickness durch monoskopische 360°Naturvideos als gering einschätzen. Allerdings zeigten die psychophysiologischen Zielparameter keine Unterschiede zwischen der VR- und PC-Bedingung. Gleichwohl diese Divergenz die Aussagekraft der selbstberichteten Entspannung einschränkt, ist das Potenzial virtueller Naturumgebungen klar erkennbar.

Ausblick

Aus den Ergebnissen schlussfolgern wir, dass virtuelle Naturumgebungen ein zukunftsträchtiges Entspannungsadjuvant für an PTBS erkrankte Personen darstellen können. Allerdings ist es bisher weder deduktiv-nomologisch noch empirisch geleitet möglich, sicher schlussfolgern zu können, welche Hardware die optimaleren Therapiebedingungen für den Entspannungseffekt liefert [3]. Dieses werden wir mit einem groß angelegten Pilotierungsvorhaben systematisch evaluieren. Bevor mit einer randomisiert kontrollierten Pilotstudie der therapiesteigernde Effekt im Sinne eines postkonfrontativen Entspannnungsadjuvants untersucht wird, sollte jedoch zunächst nachgewiesen werden, ob der Entspannungseffekt von gesunden Probandinnen und Probanden auf Soldatinnen und Soldaten mit einer diagnostizierten PTBS reproduzierbar ist und welche Technik die Soldatinnen und Soldaten präferieren [4]. Hierfür plant das Bundeswehrkrankenhaus Hamburg aktuell die Durchführung einer vollausbalancierten, randomisierten, kontrollierten Mixed-Method-Machbarkeitsstudie. Eingeschlossen werden ausschließlich Soldatinnen und Soldaten mit einer diagnostizierten PTBS, die bei uns im Haus vorstellig werden. Im Einklang mit internationalen CONSORT-Richtlinien für Pilot- und Machbarkeitsstudien wird empirisch überprüft, ob der Entspannungseffekt von monoskopischen 360°Naturvideos auf Soldatinnen und Soldaten mit einer PTBS übertragbar ist, ob dieser größer ist verglichen mit dem gleichen Video via PC-Bildschirm und einer Kontrollbedingung, in der die Patientinnen und Patienten ausschließlich Naturgeräusche hören werden [4]. Die Entspannung wird hierbei sowohl mit selbstberichteten Entspannungsparametern zum Prä-Post-Zeitpunkt sowie psychophysiologisch während der jeweiligen Bedingungen gemessen. Zudem folgen leitfadengestützte Interviews, um zusätzliche Informationen qualitativ zu explorieren. Abschließend variieren wir systematisch die Dosierungsdauer (5 vs. 10 Minuten) und informieren somit zukünftige konfirmatorische Studiendesigns.

Literaturverzeichnis

  1. Bundeswehr: Bundeswehr-Statistik zu Posttraumatische Belastungsstörung und psychischen Erkrankungen. , letzter Aufruf 23. Oktober 2022. mehr lesen
  2. Knaust T, Felnhofer A, Kothgassner OD, et al.: Virtual trauma interventions for the treatment of post-traumatic stress disorders: a scoping review. Front Psychol 2020; 11:562506: 1–29. mehr lesen
  3. Knaust T, Felnhofer A, Kothgassner OD, et al.: Exposure to virtual nature: the impact of different immersion levels on skin conductance level, heart rate, and perceived relaxation. Virtual Real-London 2021; 26: 925–938. mehr lesen
  4. Knaust T, Felnhofer A, Kothgassner OD, et al.: Nature videos for PTSD: protocol for a mixed-methods feasibility study. Eur J Psychotraumato 2022; 13(2): 1–13. mehr lesen
  5. Slater M, Sanchez-Vives MV: Enhancing our lives with immersive virtual reality. Front Robot AI 2016; 3:751: 1–47. mehr lesen
  6. World Health Organization: Urban green spaces and health.Copenhagen: WHO regional office for Europe 2016; 1–63. mehr lesen

Für die Verfasser

Oberleutnant Thiemo Knaust, M.Sc.

Bundeswehrkrankenhaus Hamburg

Zentrum für Seelische Gesundheit

Lesserstraße 18022049 Hamburg

E-Mail: thiemo1knaust@bundeswehr.org

Zeitschriften
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