100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie – Einflüsse der Berufsgenossenschaften, der Weltkriege und des Sanitätsdienstes der Bundeswehr im Spiegel der Zeit
100 Years of German Society for Trauma Surgery – Influences of the Professional Associations, the World Wars and the Bundeswehr Medical Service in the Mirror of Time
Benedikt Friemerta, Gerhard Achatza, Paul-Alfred Grütznerb, Erhard Grunwaldc
a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
b Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Ludwigshafen, Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
c Ehemals Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Zusammenfassung
Die enge Verbindung zwischen der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU), einzelnen militärischen Unfallchirurgen und dem gesamten Sanitätsdienst der Bundeswehr wird durch eine Reihe von Ereignissen verdeutlicht. In Jahr 1950 wurde die Fachgesellschaft für Unfallchirurgie nach dem zweiten Weltkrieg wiedergegründet, 1956 erfolgte die formale Aufstellung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. 1968 beschloss der Deutsche Ärztetag, die Unfallchirurgie als chirurgisches Fachgebiet zu etablieren. 1992 wurde die Unfallchirurgie als Subspezialität der Chirurgie in der (Muster-)Weiterbildungsordnung anerkannt. 1995 legte der Sanitätsdienst der Bundeswehr die Grundsätze für die medizinische Versorgung von Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz fest. Nicht zuletzt wurde 2013 die Arbeitsgemeinschaft Einsatz-, Katastrophen- und taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie gegründet. Diese Reihe von Veranstaltungen gipfelte in einer Absichtserklärung für eine enge Zusammenarbeit, die 2017 von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und dem Sanitätsdienst der Bundeswehr unterzeichnet wurde. Auf der Mitgliederversammlung der DGU im Jahr 2019 wurde ein Sanitätsoffizier der Bundeswehr zum Präsidenten der Gesellschaft für das Jahr 2020 gewählt – das Jahr, in dem die DGU ihr 100-jähriges Bestehen feierte. Mit dieser Wahl wurde ein Prozess abgeschlossen, der vor siebzig Jahren mit der Neugründung der Fachgesellschaft für Unfallchirurgie begann.
Schlüsselwörter: Chirurgie, Unfallchirurgie, Sanitätsdienst, Berufsgenossenschaft, Bundeswehr, Fachgebiet, Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
Summary
The close ties between the German Trauma Society (DGU), individual military trauma surgeons, and the entire Bundeswehr Medical Service are highlighted by a series of events. In 1950, the professional society for trauma surgery was re-established. In 1956, the Bundeswehr Medical Service was put into commission. In 1968, the German Medical Assembly decided to establish trauma surgery as a surgical subspecialty. In 1992, trauma surgery was acknowledged as a subspecialty of surgery in the (model) Specialty Training Regulations. In 1995, the Bundeswehr Medical Service determined the principles guiding the provision of medical care to military personnel on operations abroad. Last but not least in 2013, the Deployment, Disaster and Tactical Surgery Working Group of the German Trauma Society (AG EKTC) was founded. This series of events culminated in a letter of intent for close cooperation that was signed by the German Trauma Society and the Bundeswehr Medical Service in 2017. At the General Meeting of the DGU in 2019, a Bundeswehr medical officer was elected president of the society for 2020 – the year that marks the 100th anniversary of the DGU. This election completed a process that started seventy years ago with the re-establishment of the professional society for trauma surgery.
Keywords: surgery, trauma surgery, military medical service, professional association, Bundeswehr, specialization, German Trauma Society
Zur Geschichte der DGU
Am 23.September 1922 wurde die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) an der Universität Leipzig als „Deutsche Gesellschaft für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin“ gegründet [7][10]. Sie feiert somit in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. In diesem Artikel sollen die Zusammenhänge der Entwicklung der Deutschen Unfallchirurgie, der Entstehung der Berufsgenossenschaften, der Kriegserfahrungen und der Entwicklung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr nach dem 2. Weltkrieg beleuchtet werden.
Anfänglich war diese Gesellschaft nur ein Zusammenschluss von Ärzten, hauptsächlich von Chirurgen, die sich schwerpunktmäßig für die Behandlung von Unfallverletzten interessierten. Aber auch Internisten, Gerichtsmediziner, ja sogar Juristen, konnten Mitglieder sein, ebenso Sanitätsoffiziere. Jedoch muss bei der Frage nach einer institutionalisierten Beziehung der Militärmedizin mit der DGU thematisch zuerst das Verhältnis zur „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ (DGCH, Gründung 1872) vorgestellt werden [7].
Im Rahmen ihrer Gründung wurde die Berliner Universität 1810 auch zur Ausbildungsstätte der angehenden preußischen Militärärzte, die seit 1818 im „Medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelms-Institut“, das 1895 in „Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militär-ärztliche Bildungswesen“ umbenannt wurde, zusammengefasst waren. Dieser Punkt ist deshalb von Interesse, weil durch das „einheitliche Examen“ die letzten Unterschiede in der Ausbildung zwischen Zivil- und Militärärzten beseitigt wurden, die teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert stammten. Diese Basis der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung besteht bis heute.
Kriegserfahrungen zur Entwicklung der Verwundungen vor dem 1. Weltkrieg
Es darf auch nicht übersehen werden, dass trotz aller Fortschritte in der Medizin bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten Kriegen rein numerisch gesehen mehr Soldaten an Krankheiten und Seuchen als an den Folgen ihrer Verwundungen verstarben [11]. Höhepunkt dieser Entwicklung war der Krimkrieg 1853–1856, der erste neuzeitliche Stellungskrieg, in dem die mangelhafte Beherrschung der Seuchen, hier hauptsächlich Cholera, Typhus und Ruhr, in Verbindung mit katastrophalen hygienischen Zuständen und fehlender Lazarette sowie anderer Sanitätseinrichtungen zu einer hohen Sterblichkeit führte. So wurde durch die historische Aufarbeitung nach dem Krieg festgestellt, dass es zu 165 000 Opfern gekommen war, davon waren 104 000 nicht an der Front, sondern an Seuchen und Krankheiten gestorben [11].
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 war der Wendepunkt hinsichtlich der Wirkung von Seuchen und Infektionen. Die Sterblichkeit bei den deutschen Soldaten infolge von Verwundungen einschließlich der unmittelbar Gefallenen betrug 3,5 Prozent, an Krankheiten verstarben dagegen rund 1,8 Prozent [11]. Hier zeigten sich schon die ersten Erfolge in der Medizin, die auf der Basis naturwissenschaftlicher Grundlagen und Methoden enorme Fortschritte machte; für die Militärmedizin von Bedeutung waren neben der Forschung auf dem Gebiet der Mikrobiologie und Hygiene in der Chirurgie die Entwicklung zur erhaltenden Chirurgiegegenüber der Praxis der frühen Amputation [8]. Viele namhafte Wegbereiter der Medizin waren gleichzeitig als Wissenschaftler, Kliniker und hochrangige Militärärzte tätig.
Das Sanitätsoffizierskorps um die Jahrhundertwende 1900
Das Sanitätsoffizierskorps stand hinsichtlich seiner Rechte und Pflichten neben dem Offizierskorps des Heeres bzw. der Marine. Damit erhielten die Sanitätsoffiziere eine ähnlich privilegierte gesellschaftliche Stellung wie das Offizierskorps im wilhelminischen Kaiserreich und waren sicherlich in ihrem Selbstverständnis gleichermaßen wie das Offizierskorps von elitären und obrigkeitsstaatlichen Überlegungen geprägt, wie dieses auch in der zivilen ärztlichen Standesethik im ausgehenden 19. Jahrhundert gesehen wurde; gemeinsam sah man sich als staatstragende Elite, der entsprechende gesellschaftliche Privilegien zustünden, was zu einer engen Beziehung zwischen der zivilen und militärischen Ärzteschaft führte.
Diese gesellschaftliche Einstellung kann deutlich an den Gründungsmitgliedern der 1872 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“ aufgezeigt werden. Ihr erster Vorsitzender war Bernhard von Langenbeck (1810–1887), der an allen deutschen Einigungskriegen im Range eines Generalstabsarztes der preußischen Armee teilnahm; zum ersten Schriftführer wurde Richard von Volkmann (1830–1889) gewählt, der den persönlichen Rang eines Generalarztes im deutsch-französischen Krieg innehatte. Aber auch Heinrich Adolf von Bardeleben (1819–1895), der im Ausschuss der neuen Gesellschaft saß, stand ebenfalls im Rang eines Generalarztes. In den Einigungskriegen haben diese drei Beispiele als „Beratende Ärzte“, ohne dass es diese Bezeichnung schon gab, gedient und sich später bei der Weiterentwicklung des Sanitätsdienstes große Verdienste erworben [10].
Der Begriff des Beratenden Arztes bzw. Chirurgen und seine Aufgaben sind erstmalig in der Kriegssanitätsordnung vom 28. September 1907 beschrieben worden [5]. Hier heißt es, dass bei jedem Generalkommando dem Korpsarzt ein Beratender Chirurg, der sich vorher durch seine wissenschaftliche Tätigkeit entsprechend qualifiziert hatte, zugeteilt wird. Ihre Hauptaufgabe sollte die Beratung von Militärärzten in den Lazaretten des Feldheeres bzw. auf den Hauptverbandplätzen sein.
Diese so engen Beziehungen zwischen aktivem Sanitätsoffizierskorps und hervorragenden Vertretern der medizinischen Fachgebiete zeigte sich auch in der Tatsache, dass viele Hochschullehrer dem 1901 gegründeten Wissenschaftlichen Senat der Kaiser-Wilhelms-Akademie angehörten und hier ihre beratende Tätigkeit zur Weiterentwicklung des preußischen Sanitätsdienstes in fachlicher, aber auch organisatorischer Hinsicht einbringen konnten. Diese Tradition der Verbindung zwischen Hochschulmedizin und Sanitätsdienst versuchen wir heute wieder auf Initiative des Inspekteurs des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Baumgärtner, an den Standorten Ulm und Koblenz wiederzubeleben.
Die Entstehung der Berufsgenossenschaften und Ihre Bedeutung
Zu dieser Zeit, Mitte des 1900 und Anfang des 20. Jahrhunderts, gab es noch eine weitere Entwicklung, die für die Unfallchirurgie damals und später auch für den Sanitätsdienst von herausragender Bedeutung war bzw. noch werden sollte.
Im Zuge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert kam es parallel zur Produktionssteigerung zu einer exorbitanten Zunahme der Arbeitsunfälle. Arbeiter, die in den Fabriken verletzt wurden, waren gegen die Folgen nicht abgesichert. Für die kinderreichen Familien bedeutete dies den sozialen Abstieg bis hin zu Hunger und Obdachlosigkeit. Politisierung und Organisation der Arbeiter nahmen zu. Als Reaktion darauf verlas 1881 Bismarck in Vertretung des Kaisers die kaiserliche Botschaft mit einem neuen sozialpolitischen Programm für den Aufbau einer Sozialversicherung incl. einer gesetzlichen Unfallversicherung. Damit sollte die „soziale Frage“ gelöst werden. Ein wesentlicher Bestandteil war das Unfallversicherungsgesetz von 1884 [1]. Es schaffte die rechtlichen Voraussetzungen für die Einrichtung der Berufsgenossenschaften (BG). 1885 wurde die erste Berufsgenossenschaft, die Buchdrucker-BG, gegründet. Bereits ein Jahr nach Gründung der Berufsgenossenschaften waren über 3,8 Millionen Personen gegen Arbeitsunfälle versichert. Bereits 1886 wurden erste Unfallverhütungsvorschriften erlassen. 1890 gründeten die Berufsgenossenschaften eine Klinik unter eigener Trägerschaft zur Behandlung von Arbeitsunfallverletzten, das BG-Klinikum Bergmannsheil, die älteste Unfallklinik der Welt. Mittlerweile stehen neun BG-Kliniken und eine Klinik für Berufskrankheiten unter Trägerschaft der Berufsgenossenschaften. Das Prinzip der Berufsgenossenschaften ist die Haftungsabtretung. Erleidet ein Arbeitnehmer während seiner beruflichen Tätigkeit einen Arbeitsunfall, so haftet prinzipiell der Arbeitgeber. Dieses entspricht auch der heutigen Sichtweise des Sanitätsdienstes. Dieses gerade für kleine Betriebe nicht unerhebliche Risiko wird an die Berufsgenossenschaften abgetreten, die dann den Leistungsanspruch des Arbeitnehmers wie Akutbehandlung, Rehabilitation oder Gewährung einer Verletztenrente erfüllen. Zwangsläufig ist dieses System ein Motor der Unfallverhütung. Die Prävention der gesetzlichen Unfallversicherung ist eine beispiellose Erfolgsgeschichte. So hat sich die Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle seit den 1950er Jahren um etwa 90 % reduziert. Prävention vor Rehabilitation, Rehabilitation vor Rente. Dabei kümmerten sich die Berufsgenossenschaften um die Patienten von der Prävention über die Behandlung bis zur Rehabilitation und Wiedereingliederung. So ist das Grundprinzip der gewerblichen Unfallversicherung bis heute unverändert gültig und dieses Grundprinzip hat sich die DGU bis heute zu eigen gemacht, nämlich der Kümmerer des unfallverletzten Patienten zu sein.
Bedeutung der Weltkriege für die Entwicklung der Unfallheilkunde
Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges sahen sich die Sanitätsdienste des Deutschen Heeres und der kaiserlichen Marine gut aufgestellt. Viele namhafte deutsche Chirurgen, hauptsächlich Ordinarien bzw. leitende Oberärzte, übernahmen die Aufgaben eines Beratenden Chirurgen; so z. B. August Bier (1861–1949), der als Marinegeneralarzt beim XVIII. Armee-Korps eingesetzt war. Im Rahmen seiner zahlreichen Lazarettbesuche wurde er auf die Problematik der vielen Kopfverletzungen aufmerksam und war so entscheidend 1916 an der Entwicklung des deutschen Stahlhelms beteiligt. Die Beratenden Chirurgen wurden auf Vorschlag des Generalstabsarztes des preußischen Sanitätsdienstes vom Kaiser ernannt; sie übten eine rein wissenschaftliche und fachärztliche Tätigkeit aus. Sie durften Operationen in den Lazaretten nach eigenem Ermessen vornehmen und vor allem die jungen Frontärzte beraten und weiterbilden.
Doch es kam im Ersten Weltkrieg anders als erwartet: die zermürbenden Stellungs- und Grabenkämpfe mit ihren Schusswunden und die verstümmelnden Granatverletzungen mit entsprechenden Wundinfektionen führten zu knapp sechs Millionen Verwundeten, sodass sich die „Kriegschirurgie“ dieser Problematik mit neuen Therapien stellen musste. Bei Kriegsbeginn bestand eine mehr konservative abwartende Wundbehandlung, während sich im Verlauf des Krieges eine aktiv-chirurgische Versorgung durchsetzte, um die gefürchteten Wundinfektionen zu verhindern. Komplizierte Schussverwundungen in Verbindung mit infizierten Problemwunden, wie sie zu Kriegsbeginn nicht erwartet worden waren, stellten somit die Kriegschirurgie vor völlig neue Anforderungen. So schätzte Erwin Payr (1871–1946), der ebenfalls als beratender Generalarzt eingesetzt war, dass 60–70 % aller Schrapnellverletzungen infiziert waren [8].
Dieser personell umfangreiche Einsatz chirurgischer Professoren führte allerdings dazu, dass hochqualifizierte Wissenschaftler ihrer originären wissenschaftlichen Tätigkeit sowie der Lehre entzogen wurden und stattdessen in die sanitätsdienstliche Krankenversorgung eingebunden waren. So hatte die Forschungslandschaft doch erheblich unter den Kriegsbedingungen zu leiden.
Die im Krieg engagierten Hochschullehrer wie auch Militärärzte verarbeiteten dann die Niederlage 1918 durch eine literarische Verklärung ihrer Arbeit im Kriege. Zu den positiven Veröffentlichungen zählte hingegen das 1922 von Erwin Payr herausgegebene „Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918“, in dessen ersten Teil die Kriegserfahrungen und die Weiterentwicklung der Chirurgie unter Mitwirkung zahlreicher universitärer Wissenschaftler beschrieben wurden [8].
Eine wesentliche Kriegserfahrung fasste Wilhelm Klemm (1881–1968), Leipziger Lyriker und Unterarzt, eingesetzt als chirurgischer Assistent im 3. Feldlazarett des XIX. sächsischen Armeekorps vor Ypern, nur wenige Wochen nach Kriegsbeginn in einem Brief an seine Frau am 5. November 1914 zusammen [4]:
„Ich habe jetzt 3 Säle, wo heute 82 Verwundete sind. Wir bekommen hauptsächlich Beinschüsse, Hüftenschüsse, Hals- Kopf- Gesicht- und Brustschüsse. Die großen Zertrümmerungen, Bauchaufreissungen, Abschüsse von Körperteilen sterben durchgehend draußen, da die Verwundeten nur nachts und auch da oft erst nach mehreren Nächten herausgeholt werden können. … Das scheußlichste sind die sogenannten Gasphlegmonen, die sich am Unterarm und in der Wade am häufigsten entwickeln. Diese Art von Infektion kennt man im Frieden gar nicht“.
Aufruf zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde.
Diese dramatischen Erfahrungen führten u. a. auch auf Anregung von Hans Liniger (1863–1933) im Februar 1922 zum Aufruf von Walter Kühne (1877–1939), Schüler von Carl Thiem (1850–1917), dem „Vater der Unfallheilkunde“, eine Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin zu gründen, in der auch die unter Bismarck entstandenen Berufsgenossenschaften vertreten sein sollten [3].
„…Daher ist es jetzt umso notwendiger, ärztliche Erfahrungen über die schädigende Wirkung mechanischer, chemischer, bakterieller und psychischer Einflüsse auf Körper und Geist der Menschen zu sammeln, sie kritisch zu bearbeiten, nach gemeinsamen Richtlinien für die Beurteilung und Behandlung zu suchen.“
Der Aufruf endete u. a. mit folgenden Zeilen:
„In der Heilung der durch den Krieg gesetzten Schäden mit dem ganzen Rüstzeug der gewonnenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen in therapeutischer und begutachten der Hinsicht mitzuwirken…“.
Dieser Aufruf fand nicht nur bei Unfallchirurgen, sondern auch interdisziplinär Begeisterten Zustimmung, so dass in der Juli-Ausgabe 1922 der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin die offizielle Einladung zumUnfallkongress und zur Gründung der Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin veröffentlicht wurde. Daraufhin fand die 1. Jahresversammlung der „Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungs- und Versorgungsmedizin“ am 23.09.1922 statt. Letztlich war die Gründung der DGU eine erste Spezialisierung im Fachgebiet der Chirurgie.
Wie viele Militärärzte nun dieser neu gegründeten Fachgesellschaft als Mitglieder beitraten, kann heute nicht mehr festgestellt werden, da die Mitgliederverzeichnisse der damaligen Zeit im Zweiten Weltkrieg verloren gingen. Bekannt ist u. a., dass der im Ersten Weltkrieg dienende Victor Schmieden (1874–1945) als Stabsarzt der Reserve und Gründungsmitglied der DGU vor allem an der Westfront im Ersten Weltkrieg eingesetzt war. Die dabei erworbenen Erfahrungen verarbeitete er in seinem 1917 erschienenen Lehrbuch der Kriegschirurgie [3]. Andere Gründungsmitglieder, wie Alfred Schanz (1868–1931), behandelten im Ersten Weltkrieg Kriegsversehrte mit Prothesen. Es ist davon auszugehen, dass unter den Gründungsmitgliedern weitere erfahrene und hochrangige ehemalige Sanitätsoffiziere waren, denn zu diesem Zeitpunkt war die Verflechtung zwischen Militärmedizin und ziviler Medizin, wie oben dargestellt, sehr eng.
In der Kriegssanitätsvorschrift von 1938 ist die Gruppe der Beratenden Chirurgen explizit wieder aufgeführt worden [6]. Die Beratenden Chirurgen des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg waren wie schon früher Ordinarien, habilitierte Oberärzte und Chefärzte großer chirurgischer Kliniken; der personelle Umfang dieser Gruppe belief sich auf 130 Ärzte [2]. Diese Quellenlage zeigt auf, dass die 130 Beratenden Chirurgen zwischen 1873 und 1903 geboren wurden und somit im Kaiserreich aufwuchsen und auch seinen Niedergang 1918 erlebten. 87 von ihnen hatten schon am Ersten Weltkrieg teilgenommen und sich somit schon einmal mit der Kriegschirurgie auseinandersetzen müssen.
Diese schon institutionalisierte Zusammenarbeit zwischen Sanitätsdienst und Hochschullehrern, nicht nur in der Chirurgie, sondern auch in allen anderen ärztlichen Disziplinen, entsprach in ihrem Aufgabengebiet dem der früheren Kriege. Trotz ihrer militärischen Ränge besaßen sie keine Befehlsgewalt und sollten hauptsächlich in ihren zugewiesenen Verantwortungsbereichen die Militärärzte beraten, weiterbilden und wissenschaftliche Erkenntnisse sammeln. Aber auch bei komplizierten Operationen war ihre Unterstützung willkommen.
Krieg und Medizin befinden sich in einer komplexen Beziehung zueinander; die Diskussionen über das Verhältnis von Krieg zur Medizin haben immer wieder die Gemüter erregt. Für viele besteht hier ein permanenter moralisch-ethischer Konflikt, da die Zerstörungskraft des Krieges und das Selbstverständnis der Medizin mit ihren humanitären Zielen unvereinbar einander gegenüberstehen würden. Doch diese Gedanken entstammen aus der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges. 1918 wie auch 1939 war man von solchen Überlegungen noch weit entfernt.
Die Entwicklung des Sanitätsdienstes und der Unfallchirurgie nach dem 2. Weltkrieg
Nach dem 2. Weltkrieg kam es in Deutschland zu einer besatzungsrechtlichen Unterbrechung der Aktivität der medizinischen Fachgesellschaften wie auch der Deutschen Gesellschaft für Unfallheilkunde und Versicherungs- und Versorgungsmedizin, aber auch der Militärmedizin. Die Fachgesellschaft feierte ihre Wiedergründung 1950 [9], die Aufstellung der Bundeswehr fand 1955 statt und die des heute bekannten Sanitätsdienstes im April 1956.
Über eine gewisse Zeit spielten dann Sanitätsoffiziere wie auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr keine bedeutende Rolle in der Welt der medizinischen Fachgesellschaften. Zum einen, weil sich die Bundeswehr und damit der Sanitätsdienst zunächst in einer neuen demokratischen Armee entwickeln mussten (Staatsbürger in Uniform). Zum anderen, weil die Bundeswehr als reine Verteidigungsarmee gegründet wurde und der Sanitätsdienst somit einen reinen verteidigungsmedizinischen Auftrag hatte. Dieses änderte sich mit der Wiedervereinigung 1990 und der damit zurückgewonnenen vollständigen Souveränität Deutschlands. Dadurch musste Deutschland nun auch international mehr Verantwortung übernehmen, so dass es 1992 zum ersten UN-Auslandseinsatz der Bundeswehr in Kambodscha kam. Hier betrieb der Sanitätsdienst der Bundeswehr bis November 1993 in Phnom Penh ein Krankenhaus. In dieser Zeit wurden 3 500 stationäre (darunter 1 800 komplexe Operationen) und 110 000 ambulante Patienten (14 000 ambulante Operationen) behandelt (Kambodscha Buch). Der erste Chirurg, der damals die Klinik leitete, war Oberstarzt Prof. Dr. Heinz Gerngroß (1947–2005), später Klinischer Direktor der Chirurgischen Klinik am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. Er prägte nach diesem Einsatz den Begriff der Einsatzchirurgie, die sich grundsätzlich von der Kriegschirurgie unterschied. Wesentlich war, dass die Einsatzchirurgie das Ziel der Individualmedizin im Einsatz verfolgte. Als Maxime der sanitätsdienstlichen Versorgung wurde dann 1995 die „Fachliche Leitlinie für die sanitätsdienstliche Versorgung von Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz“ durch den damaligen Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. G. Desch, festgelegt, die bis heute besagt, dass die medizinische Versorgung jedes deutschen Soldaten im Auslandseinsatz im Ergebnis dem Standard der medizinischen Versorgung in Deutschland entsprechen muss. Dies bedeutete, dass auch im Einsatz der Facharztstandard als Versorgungsqualität galt. In der Folge mussten sich insbesondere die Bundeswehrkrankenhäuser neu ausrichten. Sie wurden zu Versorgungskliniken im regionalen Umfeld ihrer Standorte und sind heute in die Landesbettenplanung voll integriert. Folge dieser Entwicklung war aber auch, dass sich Sanitätsoffiziere zunehmend auf den medizinischen Fachkongressen mit ihren Forschungsergebnissen darstellten. Hierdurch erlangten sie zum einen Bekanntheit und wurden zum anderen zunehmend auch in den Gremien der Fachgesellschaften aktiv, insbesondere in der Sektion Notfall-Intensivmedizin und Schwerverletztenversorgung der DGU.
Die erste Leitung einer Arbeitsgemeinschaft (AG) durch einen Sanitätsoffizier in der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie erfolgte 2010 in der AG-Ultraschall (damals Prof. Dr. Friemert, heute Oberfeldarzt Dr. Andres, Ulm). 2013 wurde dann, bedingt durch die nun wieder enger werdenden Beziehungen der Fachgesellschaft DGU mit den Sanitätsoffizieren und den Leistungen des Sanitätsdienstes im Rahmen der Auslandseinsätze der Bundeswehr als Anerkennung und Akzeptanz, dass auch die Militärchirurgie Teil der deutschen Chirurgie ist, die AG Einsatz-, Katastrophen und Taktische Chirurgie (EKTC) gegründet. Auch verschiedene Terroranschläge in London und Madrid haben es notwendig gemacht, dass sich die DGU mit dem Thema Terror auseinandersetzt (Leitung damals Prof. B. Friemert, heute Prof. Dr. Franke, Koblenz und Priv.-Doz. Dr. Achatz, Ulm). Diese AG Gründung sollte sich dann zwei Jahre später als ausgesprochen zielführend erweisen, als im Jahr 2015 zweimal Frankreich Ziel von terroristischen Anschlägen geworden ist. Der Anschlag im November in Paris hatte dazu geführt, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr und die DGU gemeinsam einen Fünf-Punkteplan entwarfen mit dem Ziel, die Politik, den zivilen Rettungsdienst, die zivilen Ärzte und die Krankenhäuser auf die besonderen Herausforderungen bei Terroranschlägen vorzubereiten. Zusammen wurde als wesentlicher Baustein der Terror and Disaster Surgical Care (TDSC®)-Kurs entwickelt, der von der AUC ausgerichtet wird und zu einem festen Kurs im Portfolio der AUC (Akademie der Unfallchirurgie) geworden ist. Ein weiterer Kurs, an dem Sanitätsoffiziere intensiv beteiligt sind, ist der DSTC (Definitive Surgical Trauma Care)-Kurs. In der Zwischenzeit hat sich die Zusammenarbeit des Sanitätsdienstes der Bundeswehr mit der DGU durch das intensive Engagement vieler Sanitätsoffiziere weiter gefestigt und vertieft. So hat nun ein Sanitätsoffizier vom Vorstand der DGU den Auftrag erhalten, die Koordination der Überarbeitung der S3-Leitlinie Polytrauma zu übernehmen (PD Dr. Biehler, Koblenz). Neben dem Weißbuch zur Schwerverletztenversorgung ist diese Leitlinie das zentrale Kernstück der deutschen Unfallchirurgie. Heute sind alle Bundewehrkrankenhäuser in das seit mehr als 20 Jahren bestehende Traumanetzwerk der DGU fest als zertifizierte Traumakliniken eingebunden.
Mit der Wiederbegründung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie und Versicherungs- und Versorgungsmedizin 1950, des Sanitätsdienstes der Bundeswehr 1956, dem Beschluss des Deutschen Ärztetages 1968, die Unfallchirurgie als chirurgisches Teilgebiet anzuerkennen und vor allem mit der Aufnahme 1992 als definierter Schwerpunkt in der Weiterbildungsordnung, der Festlegung der Maxime des Sanitätsdienstes zur Versorgung der Soldaten im Auslandseinsatz 1995 und der Gründung der AG EKTC 2013 konnte die enge Beziehung zwischen der Deutschen Unfallchirurgie und den einzelnen unfallchirurgisch tätigen Sanitätsoffizieren wie auch dem Sanitätsdienst der Bundeswehr auf ein völlig neues Niveau gestellt werden, so dass inzwischen ein Letter of Intent zwischen der DGU und dem Sanitätsdienst geschlossen wurde.
Die Annäherung des Sanitätsdienstes an die DGUV und die BG-Kliniken
Auch die Beziehung zwischen der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) bzw. den Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken und dem Sanitätsdienst der Bundeswehr entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg. Zunächst wurden die Bundeswehrkrankenhäuser (BwKrhs) mit in das D-Arztverfahren eingebunden, teilweise aber nur mit Sonderverträgen. Später erfolgte dann für einige BwKrhs die Zulassung zum Verletzungsartenverfahren (VAV) der DGUV. In dieser Zeit wurden immer mehr Bundeswehrkrankenhäuser geschlossen, so dass letztlich nur 5 von ehemaligen 12 verblieben. 2013 stellte dann die DGUV das zweigliedrige Versorgungssystem in ein dreigliedriges um. Heute sind alle 5 Bundeswehrkrankenhäuser vertraglich zum Verletzungsartenverfahren (VAV) bzw. zum Schwerstverletzungsartenverfahren (SAV) zugelassen. Hin zu dieser Entwicklung ergaben sich auch enge Beziehungen zwischen den Ärzten der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken und den Sanitätsoffizieren der BwKrhs, denn die Ärzte der BG-Kliniken waren und sind in der DGU, wie inzwischen auch die Sanitätsoffiziere, stark vertreten.
Fazit und Ausblick
In den letzten Jahren hat sich aufgrund der sich zuspitzenden Situation am östlichen Rand der NATO die Notwendigkeit ergeben, sich seitens der Bundeswehr wieder mehr auf die Landes- und Bündnisverteidigung zu fokussieren. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den aktuellen Ukraine-Krieg. Klar ist, dass die in solchen Szenarien anfallenden Mengen an verwundeten Soldaten nicht allein in den BwKrhs behandelt werden können. Vielmehr wird die Mehrzahl der Soldaten in zivilen Kliniken versorgt werden müssen. Daher ist es unabdingbar, dass wir uns auch für diesen Fall als Sanitätsdienst auf die bestehenden zivilen Strukturen abstützen müssen, um die Versorgung unserer Soldaten sicherzustellen. Hier wird das Traumanetzwerk der DGU mit den angeschlossenen ca. 650 zertifizierten Kliniken einschließlich der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken eine wesentliche Rolle spielen.
Ergebnis dieser nun mehr als 70-jährigen Entwicklung seit der Wiedergründung der Fachgesellschaft ist die Wahl eines Sanitätsoffiziers zum Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie durch die Mitgliederversammlung für das Jahr 2022 – dem 100-jährigen Geburtstag der DGU. Man könnte auch sagen:
Ein Kreis schließt sich.
Literatur
- Ayaß W, Rudloff W, Tennstedt F; Sozialstaat im Werden. Band 1 Gründungsprozesse und Weichenstellungen im Deutschen Kaiserreich. Stuttgart 2021.
- Behrendt KP: Die Kriegschirurgie von 1939–1945 aus der Sicht der Beratenden Chirurgen des deutschen Heeres im Zweiten Weltkrieg. Med.Diss. Freiburg, 2003.
- Borchard A, Schmieden V: Lehrbuch der Kriegschirurgie. Johann Ambrosius Barth, 1937
- Hartmann V: Kriegsverletzungen und ihre Behandlung im ersten Weltkrieg anhand von Präparaten der wehrpathologischen Sammlung der Bundeswehr. WMM 2014; 58(12): 427-434. mehr lesen
- Kriegs-Sanitätsordnung mit Sachverzeichnis, 1907, Neudruck 1914: 6. Kriegssanitätsvorschrift (Heer), 1. Teil. Berlin, 1938
- Kühne W: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft Monatsschrift für Unfallheilkunde, Versicherungs- und Versorgungsmedizin. 1. Jahresversammlung gehalten zu Leipzig am 23. September 1922 im Auditorium 36 der Universität Leipzig. Sonderheft der Monatsschrift für Unfallheilkunde und Versicherungsmedizin. 1922: 24 ,250 ff.
- Payr E., Franz C: Chirurgie. In: Handbuch der Ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918. Hrsg. O. Schjerning, Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth, 1922.
- Probst J: Die Entstehung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. In: Unfallchirurgie in Deutschland. Bilanz und Perspektiven. Hrsg. Oestern HJ, Probst J. Springer Verlag Berlin-Tokio. 1997, 3.
- Trendelenburg FD: Die ersten 25 Jahre der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Ein Beitrag zur Geschichte der Chirurgie. Springer, Berlin 1923.
- Vollmuth R, Müllerschön A: Infektionen und Seuchen vom Beginn der bakteriologischen Ära bis ins Zeitalter der Weltkriege. In: Kriegsseuchen – Historische Aspekte und aktuelle Entwicklungen. Hrsg. R Vollmuth, E Grunwald, A Müllerschön, Bonn: Beta-Verlag, 2021.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Friemert B, Achatz G, Grunwald E, Grützner A: 100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie – Einflüsse der Berufsgenossenschaften, der Kriege und des Sanitätsdienstes der Bundeswehr im Spiegel der Zeit. WMM 2022; 66(12): 414-419.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-50
Für die Verfasser
Oberstarzt Prof. Dr. Benedikt Friemert
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik XIV – Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
Oberer Eselsberg40, 89081 Ulm
E-Mail: benediktfriemert@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Friemert B, Achatz G, Grunwald E, Grützner A: [100 Years of German Society for Trauma Surgery – Influences of the Professional Associations, the World Wars and the Bundeswehr Medical Service in the Mirror of Time. WMM 2022; 66(12): 414-419.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-50
For the authors
Colonel (MC) Prof. Dr. Benedikt Friemert
Bundeswehr Hospital Ulm
Department XIV – Trauma Surgery and Orthopedics, Reconstructive and Septic Surgery, Sports Traumatology
Oberer Eselsberg40, D-89081 Ulm
E-Mail: benediktfriemert@bundeswehr.org
Mit der „UFo“ 15 Jahre unfallchirurgisch – orthopädische Forschung am Bundeswehrkrankenhaus Ulm –Bilanz und Ausblick mit Begeisterung
With the ”UFo“ 15 Years of Research in Trauma Surgery and Orthopaedics at the Bundeswehrkrankenhaus Ulm – Balance and Outlook with Enthusiasm
Gerhard Achatza, Kevin Dallacker-Losenskya, Hans-Joachim Riesnera, Falk von Lübkena, Patrick Hotha, Julian Haupta, Andreas Bauera, Vinzent Forstmeiera, Patricia Langb, Hans-Georg Palmc, Mark Melnykd, Benedikt Friemerta
a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie, Unfallchirurgische Forschungsgruppe BwKrhs Ulm
b Rehabilitationskrankenhaus Ulm, Zentrum für Integrierte Orthopädische Rehabilitation , Unfallchirurgische Forschungsgruppe BwKrhs Ulm
c Universitätsklinikum Erlangen, Unfallchirurgische und Orthopädische Klinik, Unfallchirurgische Forschungsgruppe BwKrhs Ulm
d Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Zentrales Klinisches Management: Wissenschaft und Forschung
Zusammenfassung
Wissenschaft und Forschung zusammen mit akademischer Lehre gehören heutzutage zu den wesentlichen Aufgaben des Bundeswehrkrankenhauses Ulm im Rahmen der akademischen Verbindung zur Universität Ulm sowie der jüngst als Auftrag formulierten Ausrichtung hin zur universitären Medizin. Trotz dieser erst kürzlich formulierten Zielsetzung kann der Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm mit seiner Unfallchirurgischen Forschungsgruppe (UFo BwKrhs Ulm) bereits auf eine 15-jährige, sehr erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Mit großer Begeisterung und viel intrinsischer Motivation war es hier möglich, eine sehr forschungsaktive, breit vernetzte und erfolgreiche Gruppe aufzubauen, die durchaus als beispielgebend angesehen werden darf. Forschungsinitiativen wie der Forschungs-Cluster Regenerative Medizin Ulm sowie der Forschungsverbund Süd gehen hierbei ganz wesentlich auf die UFo zurück. Damit darf die UFo als Erfolgsmodell, aber auch als Verpflichtung für die Zukunft zugleich angesehen werden.
Schlüsselwörter: Wissenschaft, Forschung, Kooperation, Nachwuchs
Summary
Science and research together with academic teaching are nowadays among the essential tasks of the Bundeswehrkrankenhaus Ulm within the framework of the academic connection to the University of Ulm as well as the recently formulated principle orientation towards university medicine. Despite this only recently formulated objective, the area of orthopaedics and trauma surgery at the Bundeswehrkrankenhaus Ulm with its trauma surgery research group (UFo BwKrhs Ulm) can already look back on 15 years of very successful history. With great enthusiasm and a lot of intrinsic motivation, it has been possible to build up a very research-active, broadly networking and successful group that may well be regarded as exemplary. Research initiatives such as the Research-Cluster Regenerative Medicine Ulm and the Research Network South can be traced back on a large extent to the UFo. The UFo can thus be recognized as a model of success, but also as an obligation for the future.
Keywords: Science, Research, Cooperation, Young talents
Hintergrund und Rahmenbedingungen
Seit seiner Eröffnung im Jahr 1980 ist das Bundeswehrkrankenhaus Ulm in der Patientenversorgung des Großraums Ulm vollständig integriert. Als Akademisches Krankenhaus der Universität Ulm wurde damals die Verpflichtung zu Wissenschaft, Forschung und Lehre vertraglich mit dem Bundesministerium der Verteidigung festgelegt. Auf dieser Basis hat sich seitdem eine langjährige Kooperation mit der Universität bzw. dem Universitätsklinikum Ulm entwickelt. In dem langen Zeitraum wurde eine Vielzahl von Projekten mit sanitätsdienstlicher Prägung, vornehmlich wehrmedizinische Sonderforschung, realisiert. Der vorliegende Artikel soll einen Überblick über die Forschungsaktivitäten der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Bundeswehrkrankenhaus Ulm geben.
Abgeleitet aus diesen Rahmenbedingungen wurde in 2007 von Oberstarzt Prof. Dr. Friemert, also vor 15 Jahren, die Unfallchirurgische Forschungsgruppe am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (UFo BwKrhs Ulm) gegründet. Von Begeisterung und Leidenschaft getragen fand sich eine Gruppe von aktiven Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Wissenschaft, aber auch die studentische Lehre am Krankenhaus vorangetrieben hat. Als Ergebnis wurden zahlreiche Publikationen in renommierten Zeitschriften veröffentlicht, und viele Promotions- und Habilitationsvorhaben konnten zu einem erfolgreichen Abschluss geführt werden. Regelmäßige Projektsitzungen der Gruppe, jährliche Klausurtagungen und letztlich das freiwillige Engagement für die Sache mündeten in einer erfolgreichen und fruchtbaren Bilanz.
Abb. 1: Klausurtagung der Unfallchirurgischen Forschungsgruppe 2019 (von links: Palm, von Lübken, Riesner, Achatz, Lang, Dallacker-Losensky, Friemert)
Und dies ist im Hinblick auf die Attraktivität des Fachgebietes der Orthopädie und Unfallchirurgie mehr als nur wertvoll. Denn im Spannungsfeld der heutigen Anforderungen des klinischen Alltags ist eine weitergehende wissenschaftliche Betätigung mit entsprechender Forschungsleistung nicht immer einfach und unkompliziert umsetzbar. Im Spagat zwischen einer deutlich zunehmenden Bürokratisierung mit steigendem Dokumentationsaufwand und dem damit einhergehenden Verlust an verfügbarer Zeit für patientenzentrierte Tätigkeiten zeigt sich, dass Wissenschaft und Forschung im ärztlichen Alltag nicht einfach umsetzbar sind. Das Arbeitszeitgesetz mit seinen Limitationen sorgt ohnehin für eine deutliche Einschränkung der klinischen Präsenz per se, sodass die Rolle des „Clinician Scientist“ nicht ohne Weiteres lebbar ist [9]. Gerade deshalb ist es jetzt wichtig, jungen Kolleginnen und Kollegen eine Plattform anzubieten, über die Wissenschaft und Forschung unterstützend organisiert werden können, sodass Projektideen aufgenommen und zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden können.
Die UFo BwKrhs Ulm hat dies nun in den letzten 15 Jahren unter den Rahmenbedingungen eines nicht-universitären Krankenhauses mit akademischen Rahmen in hervorragender Art und Weise angeboten (Abbildung 2).
Abb. 2: Kerninhalte der unfallchirurgischen Forschungsgruppe am BwKrhs Ulm (UFo BwKrhs Ulm)
Auswahl von Forschungsthemen und deren Inhalte
Im Folgenden werden die wichtigsten Themenfelder, die in der Unfallchirurgischen Forschungsgruppe abgebildet und hier weiterhin aktuell bearbeitet werden als inhaltliche Skizze vorgestellt.
Schnittbildgebung in der Alterstraumatologie
Der demografische Wandel unserer Gesellschaft führt zu einer Zunahme von spezifischen altersbezogenen Erkrankungen und Verletzungen, so auch im Speziellen zu einer Zunahme von Frakturen im geriatrischen Patientenkollektiv, den sog. Fragilitätsfrakturen (FFP). Diese Frakturen – meist zurückzuführen auf Bagatellunfälle bei deutlich reduzierter Knochenqualität – sind in der Diagnostik mittels der gängigen Bildgebungsverfahren nicht immer einfach zu detektieren. Im Rahmen der Forschungsbemühungen in der UFo wurden bereits verschiedene schnittbildgebende Untersuchungsmethoden in Bezug auf die FFP untersucht und der daraus gewonnenen Informationsgewinn sowie die nachfolgenden Therapieentscheidungen analysiert. Hier zeigt sich der Nachweis von Knochenmarködemen als sehr wertvoll und entscheidend für die Erfassung des gesamten Frakturausmaßes [10]. Die Knochenmarködemdarstellung war dabei bis dato v. a. in der MRT-Diagnostik bekannt. Mit den durchgeführten Studien und auch unter Ausnutzung neuer technischer Entwicklungen konnte in Kooperation mit der Klinik für diagnostische und interventionelle Radiologie und Neuroradiologie am BwKrhs Ulm gezeigt werden, dass gerade z. B. die neue und moderne Dual-Energy-Computertomographie (DECT) hier eine sehr gute Lösung bieten könnte. Bei bereits vorliegenden Studien für die Knie- und Fußgelenke wurden Fragestellungen zu alterstraumatologischen Beckenfrakturen untersucht, und es konnten durch entsprechende Veröffentlichungen diagnostische Prozesse nachhaltig geprägt und verändert werden [6]. Somit kann in Zukunft der flächendeckende Einsatz der DECT helfen, Fragilitätsfrakturen des Beckens schnell und korrekt zu diagnostizieren (Abbildung 3). Weitere prospektive Studien befassen sich derzeit mit Anwendungen z. B. an der Wirbelsäule sowie auch mit einer möglichen Therapiesteuerung bei diesem Patientengut, wobei v. a. das Outcome der Patientinnen und Patienten untersucht werden soll, die durch die DECT aus unserer Sicht schneller und dem Frakturausmaß entsprechend korrekt operiert werden können.
Neuromuskuläre Regulationsmechanismen am Bewegungsapparat und Posturale Kontrolle
In den vergangenen Jahrzehnten wurde in der Forschung sehr viel für das Verständnis der Mechanik des Bewegungsapparats herausgearbeitet. Dabei hat sich immer wieder gezeigt, dass die rein mechanische Betrachtung unseres muskuloskelettalen Systems nicht ausreicht, um Störungen und Fehler unseres Bewegungsapparates suffizient zu erklären. Das Wissen über die neuromuskuläre Regulation scheint der fehlende Schlüssel zu sein.
In mehreren parallelen und nacheinander ablaufenden Studien konnten wir den Erkenntnisstand zur neuromuskulären Regulation unserer Gelenke bereits erheblich erhöhen. Schwerpunkte waren dabei die Regulation des Knie- und des Sprunggelenks, aber auch das Wissen um die Steuerung des stabilen Stands.
Wegweisend konnte dabei, initial in enger und sehr konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Institut für Unfallchirurgische Forschung und Biomechanik der Universität Ulm als erste Forschungsgruppe weltweit, im Rahmen einer Primär-Studie die Vernetzung der humanen Kniebinnenstrukturen mit der das Kniegelenk umgebenden Muskulatur dargestellt werden. Diese Arbeit war damit Schlüssel zu den vielen folgenden Projekten [3]. Insbesondere Verletzungen der unteren Extremitäten, wie z. B. Rupturen des vorderen Kreuzbandes oder Distorsionen des unteren Sprunggelenkes, können nämlich bei fehlerhafter Behandlung zu einer langfristigen Beeinträchtigung der stabilen Standfähigkeit – auch als posturale Kontrolle bezeichnet – führen. Die möglichen Folgen sind Stand- und Ganginstabilität sowie ein erhöhtes Sturzrisiko.
Zur Erhaltung des sicheren Standes werden zahlreiche Einflüsse des Vestibularapparates, des visuellen Systems sowie der Propriozeption zentral verarbeitet, welche dann in adäquate motorische Reaktionen umgesetzt werden. Selbst geringste Störungen des beschriebenen Regelkreises lassen sich hierbei frühzeitig mittels der innovativen „Computerunterstützten Dynamischen Posturographie“ quantifizieren [12].
Die Projektierungen zu diesem Forschungsbereich lassen nun dabei aktuell Studien weiterhin sowohl zum Kniegelenk als auch z. B. zum Einfluss von Operationen an der Achillessehne auf die Kraft und den stabilen Stand im Sinne der Posturographie durchführen.
Registerarbeiten
Die Beantwortung wissenschaftlicher Fragestellungen durch die Datenauswertung großer Register gehört regelmäßig zu den Bemühungen der UFo BwKrhs. Hier wurde zuletzt mehrfach auf das TraumaRegister DGU® zurückgegriffen, um wertvolle und auch spannende Aspekte zu untersuchen. Dies insbesondere zu Themen der Schwerverletztenversorgung, wie z. B. im Zusammenhang mit der chirurgischen Behandlungskonzeption bei der Erstbehandlung, zur Wertigkeit des Einsatzes der Ultraschalldiagnostik in der Schockraumversorgung sowie auch der Auswirkungen der Covid-Pandemie auf diesen klinisch sehr zentralen Bereich. Diese Studien sind für die Verbesserung und Optimierung der Schwerverletztenversorgung essenziell sowie für die Beurteilung und Bewertung der eigenen Versorgungsalgorithmen und -qualität von wesentlicher Bedeutung. Hier gewonnene Ergebnisse können vielfältig in die unmittelbare Patientenversorgung einfließen.
Traumaimmunologie
Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungsbemühungen um die Schwerverletztenversorgung ist die sog. Traumaimmunologie. Hierbei konnten Biomarker im Blut von Polytraumapatienten identifiziert werden, die an der Entwicklung eines Multiorganversagens beteiligt sind und zur frühen Diagnose des beginnenden Organversagens dienen [7]. Damit sollen zukünftig eine Prognoseeinschätzung und folgend vielleicht Therapieempfehlungen zu einem möglichen Gegenwirken abgeleitet werden – besonders im Kontext der Traumaversorgung ein sehr spannender und auch wichtiger Baustein.
Wundheilung und Wundheilungsstörungen
Im Rahmen einer Kooperation mit dem Institut für Radiobiologie der Bundeswehr und dem Institut für Transfusionsmedizin der Universität Ulm wird die Wirkung extrazellulärer Vesikel von humanen mesenchymalen Stammzellen auf den Regenerationsprozess von Defekt- und Strahlenwunden untersucht. Ziel ist es, eine neue Therapieoption für diese Art von schlecht heilenden Wunden zu schaffen. Erste positive Effekte der frühen Ergebnisse von extrazellulären Vesikeln auf die Wundheilung konnten bereits nachgewiesen werden. Für die Studienfortführung konnte eine Methode etabliert werden, mesenchymale Stammzellen zur Isolation von Vesikeln unter GMP-Bedingungen in großem Maßstab zu expandieren. Ziel weiterer Forschungsprojekte ist es, den Inhalt (Proteine, RNA) der Vesikel für die gezielte Anwendung bei den jeweiligen Wundarten zu modellieren und weitere biologische Marker sowie Softwaretools zur Abschätzung des Ausmaßes des Strahlenschadens auf den Körper zu untersuchen [8].
Daseinsvorsorge für Großschadensereignisse und Terror-Preparedness
Die Bedrohungslage durch Terroranschläge nimmt weltweit weiter zu, zudem zeigt sich diese auch für Westeuropa und Deutschland ebenso weiterhin erhöht. Im Rahmen der Daseinsvorsorge ist es damit zwingend notwendig, sich diesem Thema zu widmen, um damit für den Fall der Fälle gerüstet zu sein. Ein Baustein, der im Rahmen dieser Bemühungen in 2017 entwickelt und implementiert werden konnte, ist der Terror and Disaster Surgical Care (TDSC®)-Kurs [1][4].
Weiterhin nehmen auch anderweitige Großschadensereignisse, wie z. B. das Ahrhochwasser, Einfluss auf unser tägliches Leben und können in der Konsequenz zu einer folgenden Be- oder Überlastung des klinischen Gesundheitssystems führen.
Dabei hat der o.g. Kurs, unterstützt durch die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie und die Akademie der Unfallchirurgie, zum Ziel, klinische Entscheidungsträger im Hinblick auf das Thema „Innerklinische Vorbereitung“ zu schulen und ihnen entsprechend Handlungsoptionen und -sicherheit an die Hand zu geben, um derartige Szenarien bearbeiten und bewältigen zu können [5].
Im hierzu aufgestellten Forschungsbereich soll nun die Wirksamkeit und Wertigkeit dieses Ausbildungsformates evaluiert und überprüft sowie relevante Aspekte zu diesem Themenfeld aufgearbeitet und bewertet werden [2]. Absicht ist es, die Ausbildung durch die gewonnenen Ergebnisse zu verbessern und entsprechend relevante Themen im Hinblick auf diese Versorgungssituationen zu erfassen, um daraus weitere wissenschaftliche Fragestellung ableiten zu können. Dabei erfolgte zuletzt auch die Etablierung einer Kooperation zwischen dem BwKrhs Ulm mit seiner UFo, dem BwZKrhs Koblenz und der Universität der Bundeswehr München zur zunehmenden Digitalisierung wesentlicher Kerninhalte des TDSC®-Kurses (hier der sog. Table-Top-Exercise bzw. das Simulationstraining).
Mikrobiologische Erregerbestimmung
Die klassische Identifizierung von (obligat) anaeroben Bakterien ist bei vielen Spezies mit einem hohen Labor- und Zeitaufwand verbunden. Matrixunterstützte Laser-Desorptions-/Ionisations-Flugzeit-Massenspektrometrie (MALDI-TOF MS) Matrix-Assisted Laser Desorption/Ionization Time of Flight Mass Spectrometry als Identifizierungsverfahren für Bakterien wurde intensiv beforscht und hat sich in den letzten Jahren in der klinischen Diagnostik zunehmend etabliert. Diese Optimierung ist für die Routinediagnostik, gerade auch im Bereich der chirurgischen Versorgung unter dem Blickwinkel einer zunehmenden Bedeutung der septischen Chirurgie, sehr wertvoll. In Kooperation mit dem Institut für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie sowie dem Institut für Biochemie der Universität Leipzig konnten hierzu neue diagnostische Tools etabliert werden. Weitere Forschungsfragen auf diesem Gebiet sollen bearbeitet werden [13].
Psychosomatische Forschung
Stressempfinden kann und muss gerade mit Blick auf Arbeitsergebnisse und Prozessoptimierung, aber auch auf persönliche Berufszufriedenheit mittlerweile als relevante Größe betrachtet werden. Hier setzen sich wissenschaftliche Untersuchungen in verschiedenen Bereichen der freien Wirtschaft und der Medizin mit diesem Thema intensiver auseinander. Es wächst die Vorstellung, dass verschiedene Einflussfaktoren die Leistungsfähigkeit im klinischen Setting, wie z. B. in dem eines Chirurgen, reduzieren können. Dabei werden Stressoren individuell unterschiedlich stark wahrgenommen. In der Folge sind die Reaktionsmuster auf Stress völlig verschieden und können durch individuelle Techniken zur Stressbewältigung beeinflusst werden. Erste Erkenntnisse zeigen, dass sich als wichtige Faktoren zum Stresserleben z. B. die Arbeitsbelastung vom Vortag, die Erfahrung in der Zusammenarbeit zwischen Operateur und Assistent am OP-Tisch, aber auch Operateur und OP-technischem Assistenten beschreiben lassen.
Der Forschungsbereich beschäftigt sich nun gerade mit der Erhebung entsprechender Daten, um diese Situationen im ersten Schritt besser einschätzen zu können, weiterhin mit der Frage, mit ggf. welchen Maßnahmen sich eben genau die wesentlichen Stressoren positiv beeinflussen lassen, um somit hier zu einem verbesserten Setting und in der Konsequenz ggf. zu einem besseren Outcome zu kommen. Dazu werden diese Fragestellungen interdisziplinär durch eine enge Kooperation mit der Psychosomatik der Universität Ulm und mit dem Klinikum Nürnberg Süd bearbeitet.
Roboterassistierte Chirurgie
Roboterassistierte Operationen nehmen in der Chirurgie einen zunehmend größeren Stellenwert ein, hier sind für den Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie vor allem die Implantationen von Hüft- und Kniegelenkendoprothesen zu nennen. Dabei bleibt unklar, ob eine erfolgreiche roboter-assistierte Operation zu einer präziseren Implantation und Prothesenpositionierung führt und ob in der Konsequenz damit ein besseres Outcome erzielt wird.
Im Rahmen der Arbeiten in der UFo BwKrhs Ulm werden nun die vorgenannten Aspekte wissenschaftlich im Rahmen verschiedener Studien aufgearbeitet und bewertet. Zielgrößen können hier verschiedene Achs- und Gangparameter sein, welche im Rahmen einer 4D-Vermessung der Körperstatik erhoben werden bzw. auch z. B. die postoperative Beweglichkeit, die entsprechend genau gemessen werden kann. Somit zielen die Untersuchungen in diesem Fachbereich klar auf das postoperative Outcome bei den versorgten Patientinnen und Patienten ab.
O&U meets E-Sport-Gaming
Der Begriff E-Sports (auch eSports oder e-Sport) bezeichnet den professionellen Wettkampf in Computer- und Videospielen. Wie bei klassischen Sportarten geht es auch beim E-Sports um den Wettkampf beziehungsweise das Messen mit anderen in einer Disziplin. Einer professionellen E-Sports-Karriere gehen dabei mehrere Jahre harten und ausdauernden Trainings voraus – von den Profispielerinnen und -spielern werden enorme körperliche und psychische Leistungen verlangt. Die Basis von E-Sports bilden Computer- und Videospiele, die wettkampfmäßig als Einzeldisziplin oder in Teams gespielt werden können. Rund um solche z. B. Echtzeit-Strategiespiele und Sportsimulationen haben sich im Laufe der Jahre zahlreiche Ligen und Turniere etabliert, in denen E-Sportlerinnen und E-Sportler auf nationaler und internationaler Ebene gegeneinander antreten.
Die aufgrund der Dauer der Spiele und der überwiegend sitzenden Tätigkeit resultierenden Auswirkungen auf das Achsskelett führen durch eine permanente Belastung des Bewegungsapparates und den durch den Körper forcierten automatischen Kompensation dieser Unterschiede zu einem veränderten Haltungsbild.
Resultierende Schonhaltung, Fehlstellung und die irreguläre Belastung resultieren in einer Mehrbelastung von Wirbelsäulenabschnitten, Becken und Schulterpartien etc.
Um solche Veränderungen beobachten zu können und ggf. Handlungsempfehlungen – auch im Sinne eines Präventivansatzes – zu entwickeln werden 4D-Vermessungen der Körperstatik durchgeführt.
Regenerative Medizin mit Beteiligung am
Forschungs-Cluster Ulm
Der Forschungsstandort Ulm hat sich in den letzten 20 Jahren in hervorragender Art und Weise entwickelt, was ganz wesentlich auf die Forschungsaktivitäten des Universitätsklinikums sowie der Universität Ulm zurückzuführen ist. Initiiert aus der Klinik XIV und UFo BwKrhs Ulm im Jahre 2013 besteht seither nun auch ein interdisziplinärer Forschungs-Cluster „Regenerative Medizin“, in dem mittlerweile insgesamt 14 Projekte seit 2014 gemeinsam und in Kooperationen zwischen Einrichtungen des BwKrhs Ulm sowie des Universitätsklinikums Ulm bearbeitet werden. Hierbei geht es im Wesentlichen um die Frage, wie eine Regeneration einsatzbedingter Verletzungsfolgen erreicht werden kann. Die UFo ist insgesamt an sieben Projekten beteiligt, und es konnten hier sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Diese Forschungsergebnisse lassen auch weiteren Raum für zukünftige gemeinsamen Projekte, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der Multidimensionalen Trauma Wissenschaften ab 2024 am Campus Oberer Eselsberg.
Fazit und Ausblick
Die genannten Forschungsbereiche haben in den vergangenen 15 Jahren wesentlich die Bemühungen der Unfallchirurgischen Forschungsgruppe am BwKrhs Ulm (UFo BwKrhs Ulm) geprägt und sehr erfolgreich werden lassen.
Es sind damit weit über 100 wissenschaftliche Arbeiten in nationalen und internationalen Journals publiziert worden, die allermeisten davon peer-reviewed. Diese Bemühungen waren begleitet durch eine große Anzahl betreuter Promotionsarbeiten, die über die UFo BwKrhs Ulm an der Universität Ulm abgeschlossen werden konnten. Über 30 junge Kolleginnen und Kollegen erlangten so den Dr. med. oder den Dr. med. dent. Mehrere Bachelor- und Masterarbeiten wurden in ähnlicher Weise umgesetzt. Die hier in der UFo tätigen Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten sich jeweils in den verschiedenen Schwerpunkte etablieren. Aus diesem Kreise heraus konnten so insgesamt vier Habilitationen abgeschlossen werden. Über 15 Jahre waren somit auch in Ergänzung der vorgenannten Bemühungen Sanitätsstabsoffiziere zahlreich und auf verschiedensten nationalen sowie internationalen Kongressen präsent und haben mit umfänglichen Beiträgen in Form von Vorträgen bzw. Postern diese bereichert.
Dieser Gesamtkontext hat dazu geführt, dass es für die Orthopädie und Unfallchirurgie nicht nur im klinisch-fachlichen Kontext, sondern eben auch im wissenschaftlich-forschenden Bereich eine ungemein große Anerkennung gab. Diese Aspekte und die facettenreiche Zusammenarbeit haben sicher auch wesentlich als Baustein zur Präsidentschaft von OTA Prof. Dr. Friemert bei der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie beigetragen und damit eine Wertschätzung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr genauso wie der Orthopädie Umgekehrt darf jedoch sicher berechtigt und auch mahnend formuliert werden, dass viele dieser Bemühungen und auch Erfolge in Wissenschaft und Forschung „jenseits des normalen Arbeitsstages und in der Freizeit“ stattgefunden haben. Eine mit Dienstposten hinterlegte Begründung der Aktivitäten lag bis 2019 nicht vor. Erst seit diesem Jahr sind Wissenschaft und Forschung nun in den Dienstpostenbeschreibungen der Bundeswehrkrankenhäuser aufgenommen worden. In der Konsequenz wurden jeweils die Implementierung eines Managers Wissenschaft und Forschung mit einer ergänzenden personellen Ausstattung durch zwei sog. Study Nurses für jedes Bundeswehrkrankenhaus vorangetrieben [11]. Dieser Schritt war mehr als nur wichtig und dringend notwendig. Diese Bereiche gilt es nun, ob der geschaffenen Voraussetzungen mit Leben zu füllen. Dabei darf dieser Schritt sicher auch als einer der Kernbausteine des Auftrags des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr verstanden werden, mit dem Generaloberstabsarzt Dr. Baumgärtner die weitere Entwicklung der Bundeswehrkrankenhäuser hin zur universitären Medizin angewiesen hat.
In diesem Zuge hat sich bereits auch eine sehr erfolgversprechende Zusammenarbeit mit der Universität der Bundewehr in München ergeben, die zur Gründung des sog. Forschungsverbunds Süd geführt hat. Schwerpunkt dieses Forschungsverbundes ist die Traumaforschung.
Eine nun bereits für erste Projekte etablierte Zusammenarbeit zwischen dem BwKrhs Ulm und der Universität der Bundeswehr München soll für zukünftige Vorhaben weitere Möglichkeiten und Gelegenheiten erschließen lassen. Als ein erstes Beispiel darf die bereits angeführte Kooperation zur Digitalisierung der sog. Table-Top- Exercise aus dem TDSC®-Kurs genannt werden. Weitere Ansätze gibt es nun bereits für die Fachbereiche der Nuklearmedizin zusammen mit dem Forschungsbereich Künstliche Intelligenz/Data Mining der Universität der Bundeswehr München.
Passenderweise ist auch am Universitätsklinikum Ulm ein national wie international anerkannter Forschungsschwerpunt zur Traumaforschung etabliert. So bildet sich zusammenfassend eine hervorragende Struktur und Nachbarschaft ab, die letztlich dieses Thema kooperativ und intensiv bearbeiten und weiterentwickeln lässt. Gerade, da ausgehend von diesem Forschungsschwerpunkt nun auch ein neues Forschungsinstitut „Multidimensionale Traumawissenschaften“ auf Seiten der Universität Ulm entstehen soll.
Die UFo BwKrhs Ulm hat unter der Leitung und Förderung von Oberstarzt Prof. Dr. Friemert in den vergangenen 15 Jahren Wissenschaft und Forschung am Bundeswehrkrankenhaus Ulm für den Bereich der Orthopädie und Unfallchirurgie umfänglich etabliert und entstehen lassen. Sicher eine Erfolgsgeschichte, an die es nun weiterhin anzuknüpfen gilt und die durch verbesserte und auch formalisierte Rahmenbedingungen in Ihrer Bedeutung gestärkt und fortgeführt werden muss.
Literatur
- Achatz G, Bieler D. Franke A, Friemert B: Sektion Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie; Terror preparedness as a service of general interest: the Terror and Disaster Surgical Care (TDSC®)-course. European Journal of Trauma and Emergency Surgery 2020; 46(4): 671-672. mehr lesen
- Bieler D, Franke A, Blätzinger M et al.: Sektion Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie; Evaluation of the Terror and Disaster Surgical Care Course; European Journal of Trauma and Emergency Surgery 2020; 46(4): 709-716. mehr lesen
- Friemert B, Faist M, Spengler C, Gerngross H, Claes L, Melnyk M: Intraoperative direct mechanical stimulation of the anterior cruciate ligament elicits short- and medium-latency hamstring reflexes. J Neurophysiol 2005;94(6): 3996-4001. mehr lesen
- Friemert B, Achatz G, Hoth P, Paffrath T, Franke A, Bieler D: Sektion Einsatz-, Katastrophen- und Taktische Chirurgie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie; Specifities of terrorist attacks: organisation of the in-hospital patient-flow and treatment strategie. European Journal of Trauma and Emergency Surger 2020; 46(4): 673-682. mehr lesen
- Franke A, Bieler D, Paffrath T et al.: ATSL® und TDSC®: how it fits together - ein Behandlungskonzept für MANV und TerrorMANV, lebensbedrohliche und besondere Lagen. Der Unfallchirurg 2019; 123(6): 453-463.
- Hackenbroch C, Riesner HJ, Lang P, Stuby F, Danz B, Friemert B: AG Becken III der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie 2017; 155(1): 27-34. mehr lesen
- Haupt J, Krysiak N, Unger M et al.: The potential of adipokines in identifying multiple trauma patients at risk of developing multiple organ dysfunction syndrome. European Journal of Medical Research 2021; 26(1): 38. mehr lesen
- Haupt J, Ostheim P, Port M, Abend M: Using dicentric dose estimates and early radiation-induced blood cell count changes of real case histories for validation of hemodose biodosimetry toll. Radiation Protection Dosimetry 2020; 189(4): 428-435. mehr lesen
- Hildebrand F, Höfer C, Klemens H, Friemert B, Pennig D, Stange R: Wissenschaftsausschuss der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Der Unfallchirurg 2022; 125(5): 408-416. mehr lesen
- Lang P, Merz Ch, Hackenbroch C, Friemert B, Stuby F, Palm HG: AG Becken III der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie; Zeitschrift für Orthopädie und Unfallchirurgie 2019; 158(4): 351-359.
- Melnyk M: Forschung und Wissenschaft am Bundeswehrkrankenhaus Ulm. WMM 2021; 65(2): 102. mehr lesen
- Palm HG, Schlumpberger S, Riesner HJ, Friemert B, Lang P; Der Einfluss einer VKB-Plastik auf die stabile Standfähigkeit: ein prä- und postoperativer Vergleich. Der Unfallchirurg 2015; 118(6): 527-534. mehr lesen
- Schaumann R, Knoop N, Genzel GH et al.: Discrimination of enterobactericae and non-fermenting gram negative bacilli by MALDI-TOF mass specttrometry. Open Microbiology Journal 2013; 7: 118-122. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Achatz G, Dallacker-Losensky K, Riesner HJ, von Lübken F, Hoth P, Haupt J, Bauer A, Forstmeier V, Lang P, Palm HG, Melnyk M, Fiemert B: Mit der „Ufo“ 15 Jahre unfallchirurgisch – orthopädische Forschung am Bundeswehrkrankenhaus Ulm – Bilanz und Ausblick mit Begeisterung. WMM 2022; 66(12): 420-425.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-46
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Gerhard Achatz
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik XIV – Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm
E-Mail: gerhardachatz@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Achatz G, Dallacker-Losensky K, Riesner HJ , von Lübken F, Hoth P, Haupt J, Bauer A, Forstmeier V, Lang P, Palm HG, Melnyk M, Fiemert B: [With the „Ufo“ 15 years of research in trauma surgery and orthopaedics at the Bundeswehrkrankenhaus Ulm – balance and outlook with enthusiasm.] WMM 2022; 66(12): 420-425.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-46
For the authors
Lieutenant Colonel Ass. Prof. Dr. Gerhard Achatz
Bundeswehr Hospital Ulm
Department XIV – Trauma Surgery and Orthopedics, Reconstructive and Septic Surgery, Sports Traumatology
Oberer Eselsberg 40, D-89081 Ulm
E-Mail: gerhardachatz@bundeswehr.org