Simulationsstudien zum Einfluss ausgewählter Kovariaten auf die Pharmakokinetik des HER2-Tyrosinkinaseinhibitors Neratinib
Julian Ermtraud1, Olga Teplytska1, Ulrich Jaehde1
1 Pharmazeutisches Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Der Autor war im Rahmen seines Studiums der Arzneimittelforschung Masterand am Pharmazeutischen Institut der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Hintergrund
Nicht-übertragbare Krankheiten gelten in der heutigen Zeit als zunehmende Bedrohung aufgrund gestiegener Lebenserwartung und verändertem Lebensstil. Dazu gehören auch Tumorerkrankungen, von denen das Mammakarzinom bei Frauen die häufigste Entität und eine der häufigsten Todesursachen allgemein ist [1]. Die Inzidenz ist in der industrialisierten Welt höher als in Entwicklungs- und Schwellenländern (19,4 pro 100 000 Einwohner in Ostafrika bis 89,7 pro 100 000 Einwohner in Westeuropa) [1]. Zu den Ursachen zählen frühe Menarche und späte Menopause, hormonelle Verhütung, Kinderlosigkeit, Übergewicht, Hormonersatztherapie nach der Menopause, geringe körperliche Aktivität und Alkoholkonsum. Im Gegensatz dazu zählen die Geburt von Kindern und das anschließende Stillen zu den protektiven Faktoren [1]. Eine besonders aggressive Form des Brustkrebses mit schlechterer Prognose liegt bei einer Überexpression des humanen epidermalen Wachstumsfaktorrezeptors 2 (HER2) vor [3]. Nach der mittlerweile nahezu standardmäßigen brusterhaltenden Operation und gegebenenfalls anschließender Strahlentherapie wird die Behandlung mit einer zielgerichteten Therapie direkt gegen den HER2 fortgeführt. Dazu werden zunächst monoklonale Antikörper, zum Beispiel Trastuzumab oder Pertuzumab, eingesetzt. Im Anschluss daran kommen oralverfügbare HER2-Tyrosinkinaseinihibitoren (Neratinib, Tucatinib, Pyrotinib, usw.) zur Senkung der Rezidivrate zum Einsatz [4].
Bei der medikamentösen Behandlung von Tumorerkrankungen treten häufig unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) auf. Damit ein therapeutischer Effekt ohne UAW, die über ein vertretbares Maß hinausgehen, erzielt wird, ist in der Regel ein enges therapeutisches Fenster einzuhalten. Bei den klassischen Zytostatika, wie zum Beispiel Fluorouracil, ist eine individuelle Dosierung seit Jahren der Therapiestandard und es wurden immer geeignetere Methoden zur individuellen Dosierung entwickelt. Auch bei der Behandlung mit oralen Tumortherapeutika leiden die Patientinnen und Patienten häufig unter UAW, sodass auch für diese Substanzen eine pharmakokinetische Dosisanpassung diskutiert wird [2]. Im Falle von Neratinib ist die häufigste unerwünschte Arzneimittelwirkung die Diarrhoe, welche in klinischen Studien eine Dosisabhängigkeit gezeigt hat [5]. Um das Auftreten dieser UAW zu vermeiden beziehungsweise deren Schweregrad zu senken, sollte in Simulationsstudien herausgefunden werden, welche Patientencharakteristika die Arzneistoffexposition, ausgedrückt als Fläche unter der Plasmakonzentrations-Zeit-Kurve (AUC), und die maximale Arzneistoffkonzentration im Plasma am stärksten beeinflussen. Basierend auf diesem Wissen könnte eine individuelle Dosierungsstrategie für Neratinib entwickelt werden.
Material und Methoden
Grundlage für die Simulationen waren die im FDA-Zulassungsdossier veröffentlichten Daten zur Pharmakokinetik von Neratinib [5]. Nach peroraler Gabe verteilt sich Neratinib modellhaft in zwei Kompartimente und wird nach einer Kinetik erster Ordnung eliminiert (Abbildung 1). Das pharmakokinetische Modell wurde mithilfe einer veröffentlichten Phase-1-Studie [6] validiert. Dazu wurden Plasmakonzentrations-Zeit-Verläufe von Patienten, die denen aus der Studie hinsichtlich Alter, Gewicht, Laborwerten und Komedikation entsprachen, mit den Programmen NONMEM® und PKPDsim simuliert und die Werte der Arzneistoffexposition (dargestellt als AUC) sowie der maximalen Plasmakonzentration (Cmax) mit denen aus der Studie verglichen.
Abb. 1: Schematische Darstellung eines Zwei-Kompartiment-Modells mit peroraler Arzneimittelgabe
Anschließend wurden verschiedene nach Alter und Komedikation stratifizierte Patientenkollektive simuliert und miteinander verglichen. Außerdem wurden die Ergebnisse der Programme NONMEM®, dem Goldstandard auf dem Gebiet der Pharmakometrie, und PKPDsim, einem kostenfreien Paket im Statistikprogramm R (The R Foundation for Statistical Computing, Wien, Österreich) gegenübergestellt, um zu überprüfen, ob die Simulationen mit PKPDsim für die Programmierung einer Dosisfindungs-App verwendet werden können. Diese App soll den Plasmakonzentrations-Zeit-Verlauf für individuelle Patientinnen vorhersagen und potenzielle Über- oder Unterdosierungen detektieren. Dazu wurde die gleiche Patientin 100-mal simuliert und der mittlere Plasmakonzentrations-Zeit-Verlauf sowie das zugehörige 90 %-Konfidenzintervall berechnet.
Ergebnisse
Beim Vergleich der simulierten Daten mit denen aus der klinischen Studie konnte kein signifikanter Unterschied bezüglich AUC und Cmax festgestellt werden. In der Gegenüberstellung der Altersgruppen zeigten die Simulationen mit NONMEM®, dass ältere Patientinnen (älter als 65 Jahre) eine höhere AUC, jedoch eine niedrigere maximale Plasmakonzentration im Vergleich zu den jüngeren (unter 35 Jahren) und mittelalten (35 bis 65 Jahre) Patientinnen aufwiesen. Mögliche Ursachen sind die mit dem Alter sinkende Arzneistoffclearance und ein erhöhtes Verteilungsvolumen.
Da Neratinib zum Teil über CYP3A metabolisiert wird, wurde der Einfluss starker Inhibitoren dieses Enzyms auf die Pharmakokinetik untersucht. Als klassische Modellsubstanz für die Inhibition wird Ketoconazol eingesetzt. Aufgrund der auf circa ein Sechstel verminderten Clearance stiegen AUC und Cmax umgekehrt proportional. Mit einer von 240 mg auf 40 mg verminderten Tagesdosis Neratinib konnten Plasmakonzentrationswerte erreicht werden, die denen ohne CYP3A4-Inhibition entsprachen. Allerdings wurde der Steady-State aufgrund der verlängerten Halbwertszeit erst zu einem späteren Zeitpunkt erreicht.
Neratinib wird oft mit anderen Tumortherapeutika kombiniert, um die Wirksamkeit der Therapie zu verstärken. Die gängigsten Kombinationspartner sind dabei Trastuzumab und Capecitabin. Einzig die gleichzeitige Komedikation mit beiden Arzneistoffen zeigte einen signifikanten Einfluss auf die Arzneistoffexposition, jedoch ist dessen klinische Relevanz unklar. Bezüglich der maximalen Plasmakonzentration von Neratinib konnte kein Unterschied in den verschiedenen Komedikationsgruppen festgestellt werden.
Die Programme NONMEM® und PKPDsim lieferten für die allgemeine Population und die Stratifizierung nach Komedikation übereinstimmende Ergebnisse. Jedoch unterschieden sich Plasmakonzentrations-Zeit-Verläufe in Abhängigkeit vom Alter. In NONMEM® hatten die jüngeren Patientinnen die höchsten, in PKPDsim jedoch die niedrigsten Maximalkonzentrationen.
Basierend auf dem Simulationscode von PKPDsim konnte eine Shiny-App programmiert werden. Shiny ist ein R-Paket, mit welchem man mathematische Operationen in eine HTML-Benutzeroberfläche umwandeln kann. Diese bringt gegenüber NONMEM® den Vorteil mit sich, dass nicht vor jeder Simulation ein Rohdatensatz und ein Simulationsskript erstellt werden müssen. Auch die grafische Darstellung der Ergebnisse erfolgt direkt in der App. Zunächst müssen die kontinuierlichen Kovariaten mittels Schiebereglern angegeben und die Komedikation mit Hilfe von Radiobuttons ausgewählt werden. Für die Dosis steht ein Auswahlfeld mit 40 mg-Neratinib-Schritten zur Verfügung, da dies die Dosierung einer einzelnen Tablette ist. Die Simulation wird mit Klicken auf das „Simulate“-Feld gestartet und das Ergebnis als Plasmakonzentrations-Zeit-Verlauf inklusive 90 %-Konfidenzintervall dargestellt. Der Zielbereich der maximalen Plasmakonzentration wird als grüner Balken abgebildet, der der durchschnittlichen Plasmakonzentration aus den Zulassungsstudien ± 20 % entspricht. Über den „Download“-Button kann der Plot als PDF-Datei gespeichert werden und wird, sofern im entsprechenden Feld angegeben, automatisch nach dem Patientennamen benannt. Dieser ist ebenfalls die Überschrift innerhalb des Diagramms. Neben der lokalen Installation über das R-Skript besteht auch die Möglichkeit, die Shiny-App über den eigenen PC als Server im Internet über eine Webadresse zur Verfügung zu stellen, sodass die App für jedes internetfähige Gerät abrufbar ist.
Diskussion
Die Validierung des Modells mit Hilfe der Durchschnittswerte des Datensatzes war zwar erfolgreich, damit dieses jedoch endgültig für den klinischen Gebrauch verwendbar ist, muss diese mit dem vollen Datensatz wiederholt werden.
Die Simulationen der Patientengruppen nach Alter und Komedikation zeigten Trends bezüglich Clearance, Verteilungsvolumen und Absorptionsgeschwindigkeitskonstante, jedoch wurden bei Betrachtung der einzelnen Kovariaten in der statistischen Auswertung mittels t-Test beziehungsweise Varianzanalyse (ANOVA) keine signifikanten Unterschiede in der AUC und Cmax festgestellt. In der Kombination der Kovariaten können jedoch signifikante und klinisch relevante Unterschiede entstehen, die zu Über- oder Unterdosierungen führen können.
Da das Alter Einflüsse auf die Absorptionsgeschwindigkeitskonstante, das Verteilungsvolumen und die Clearance ausübt, die sich unterschiedlich auf die Plasmakonzentrationen auswirken, kann ohne reale Patientendaten nicht mit Sicherheit gesagt werden, welches Programm den Einfluss des Alters korrekt berechnet, da dies nicht aus den Veröffentlichungen zu den klinischen Studien hervorgeht. Die simulierten Plasmakonzentrationen sind folglich mit Vorsicht zu interpretieren.
Die Plasmakonzentrations-Zeit-Verläufe der reduzierten Neratinibdosis (40 mg) in Kombination mit Ketoconazol unterschieden sich nicht signifikant von denen der Normaldosis ohne CYP3A4-Inhibition. Da die relative Standardabweichung bei 43,8 % liegt, sollte nach Möglichkeit an Stelle der Dosisanpassung der CYP3A4-Inhibitor abgesetzt werden. So ist eine präzisere Dosierung möglich.
Sobald die Shiny-App anhand echter Patientendaten validiert wurde, bietet sie gegenüber NONMEM® in der Simulation einzelner Patienten wesentliche Vorteile. Der Größte ist wahrscheinlich die intuitive Benutzung ohne die Notwendigkeit von Vorkenntnissen auf dem Gebiet der Pharmakometrie. Außerdem sind sowohl R als auch die darin enthaltenen Pakete kostenlos verfügbar. Ebenfalls bietet die App gegenüber NONMEM® einen Zeitvorteil, da das Erstellen der Rohdatensätze und die Auswertung quasi mit einem Klick erfolgen. Für NONMEM® spricht jedoch die jahrzehntelange Etablierung als Goldstandard auf dem Gebiet der Pharmakometrie und der professionelle Support der Arbeitsoberfläche Pirana (Certara, Princeton, USA).
Relevanz für die Bundeswehr
Der größte Nutzen für die Bundeswehr wäre wohl die Nutzung der App (nach deren Validierung) auf den onkologischen Stationen in den Bundeswehrkrankenhäusern, da den Ärztinnen und Ärzten die Dosisfindung für die individuelle Patientin erleichtert wird. Ebenso befinden sich unter den Soldatinnen potenziell an Brustkrebs erkrankte Patientinnen, die durch die Nutzung der App eventuell vor Über- oder Unterdosierungen bewahrt werden können und so wirkungsvoller beziehungsweise nebenwirkungsärmer behandelt werden können.
Weiterhin kann das Prinzip der Plasmakonzentrationsrechner auf andere Arzneistoffe und Therapiefelder übertragen werden und so eine sicherere medikamentöse Therapie fördern.
Ausblick
Die Simulationen haben neue Hypothesen zur Pharmakokinetik und Therapiesicherheit von Neratinib geliefert, die nun mit Hilfe von realen Patientendaten validiert werden sollten. Danach könnte der Plasmakonzentrationsrechner im klinischen Alltag eingesetzt werden. Zudem könnten weitere Daten zu Konzentrations-(Neben-)wirkungsbeziehungen erhoben werden, um diesen Zusammenhang mathematisch besser zu beschreiben.
Auch wäre es interessant, die Funktionen der App zu erweitern, sodass diese beispielsweise die Wahrscheinlichkeit angibt, mit welcher die Patientin im therapeutischen Bereich liegt.
Literaturverzeichnis
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Für die Verfasser:
Lt (SanOA) Julian Ermtraud
Stellinger Steindamm 10a, 22527 Hamburg
E-Mail: julian.ermtraud@gmx.de
Prospektive Untersuchung der Kinetik von potenziellen Biomarkern und serologischen Parametern bei Patienten mit spontanen, nicht-traumatischen Dissektionen der supraaortalen hirnversorgenden Arterien
Lisa Geerkens1
1Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Klinik für Neurologie
Einleitung
Eine spontane Gefäßdissektion der hirnversorgenden Arterien ist eine von der Arteriosklerose unabhängige Gefäßwandschädigung. Vermutet wird eine Inzidenz von etwa 2,6–2,9/100 000 pro Jahr der Dissektionen der A. carotis interna und für die Vertebralarterie etwas niedriger bei etwa 1,5/100 000 pro Jahr [11]. Damit zählen Dissektionen der hirnversorgenden Arterien eher zu den selteneren Erkrankungen und machen nur rund 2–3 % von allen ischämischen Schlaganfällen aus [1][7][12]. Jedoch sind sie eine häufige Ursache für Hirninfarkte (10–25 %) bei jüngeren Patienten (< 50 Jahre) [4] und demnach auch wehrmedizinisch relevant. Bei spontanen zervikal arteriellen Dissektionen liegt das mittlere Alter zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr. Sie sind demnach vor allem im jungen bis mittleren Lebensalter (< 50 Jahre) für Hirninfarkte, welche mit schweren bis tödlichen Verläufen einhergehen können, verantwortlich [5]. Über die Akutphase hinaus ist das Risiko für weitere Dissektionen im Langzeitverlauf jedoch nicht nennenswert erhöht [6], sodass das Konzept des Vorliegens einer akuten Noxe mit Schädigung der Gefäßwand plausibel erscheint und charakterisiert werden soll. Jedoch sind weder die Ätiologie noch die genaue Pathogenese von zervikalen Dissektionen hinreichend verstanden. Bei Patienten ohne primäre genetische Ursache für Dissektionen, wie beispielsweise ein bekanntes Marfan-Syndrom (betrifft lediglich ca. 0,5–2 % der Fälle), konnte noch keine andere Ursache für zervikale arterielle Dissektionen detektiert werden [3]. Auf Grund dessen existiert auch kein kausaler Therapieansatz. Die aktuelle Datenlage erbringt allerdings deutlich den Verdacht auf eine inflammatorische Beteiligung bei der Entstehung einer zervikalen Dissektion. Sowohl eine Leukozytose als auch erhöhte CRP-Level sowie eine mögliche Zytokin-Ausschüttung mit folglich endothelialer Dysfunktion wurden mehrfach beschrieben[8][10]. YANG et al. veröffentlichten erstmals ein Panel aus sechs Proteinen als möglichen Biomarker für zervikale Dissektionen [13].
Methodik
In der vorgestellten multizentrischen Studie (Universitätsklinikum des Saarlandes, Klinikum Saarbrücken) möchten wir mögliche Noxen anhand der kinetischen Veränderung von Entzündungswerten wie CRP, IL-6, BSG, Procalcitonin und Leukozytenzahl sowie des Hormonstatus und der T-Zellimmunität über einen Zeitraum von 90 Tagen nach Auftreten einer akuten zervikalen Dissektion durch wiederholte Blutuntersuchung identifizieren und somit die Hypothese einer inflammatorischen Beteiligung bei der Entstehung einer zervikalen Dissektion belegen. Mittels eines patientenbezogenen Fragebogens versuchen wir zusätzlich, mögliche Risikofaktoren zu identifizieren und epidemiologische Daten zu ergänzen bzw. zu untermauern. Dabei werden Patienten mit akuter Dissektion als primäre Gruppe untersucht. Als Kontrollgruppe dienen Patienten mit cerebraler Ischämie (TIA oder Hirninfarkt) anderer Ursache und lokalen muskuloskelettalen Beschwerden (Cervikalgien) durch Zerrung, Myogelose oder Fehlhaltung im Halsbereich ohne neurologische Ausfälle. Dies ist eine erste Zwischenauswertung einer noch laufenden Studie und untersucht die ersten 15 eingeschlossenen Dissektionspatienten sowie die ersten 15 geschlechts- sowie alters-gematchten Kontrollpatienten.
Ergebnisse
Sowohl in der Gruppe der Dissektionspatienten als auch in der Gruppe der Kontrollpatienten werden jeweils 60 % männliche Patienten und 40 % weibliche Patienten eingeschlossen. Die Entzündungswerte (CRP, BSG, Leukozyten, Procalcitonin und IL-6) werden im Verlauf über 90 Tage untersucht. Das CRP wurde in mg/l, BSG bei einer Stunde in mm, die Leukozyten mit 109, Procalcitonin in ng/ml und IL-6 in pg/ml ausgewertet. Am Aufnahmetag werden signifikant erhöhte BSG (p =0,035) und IL-6 (p =0,036) Werte bei der Gruppe der Dissektionspatienten beobachtet. Darüber hinaus zeigt sich in der Gruppe der Dissektionspatienten über den Verlauf von 90 Tagen bei den abgenommenen Entzündungswerten eine fallende Tendenz, wohingegen die Entzündungswerte in der Gruppe der Kontrollpatienten weitestgehend stabil verlaufen – hier am deutlichsten am IL-6 Wert (Median d0: 8,355 %; Median d90: 2,225 pg/ml) zu erkennen (Tab. 1).
Hormonstatus (Testosteron, Progesteron, LH, FSH, Prolaktin, STH, Östradiol) und ASL werden am Aufnahmetag (d0) untersucht. Hier weisen die Dissektionspatienten im Durchschnitt vor allem signifikant erhöhte STH (p =0,018) Werte auf (Tabelle 2).
Darüber hinaus ist die Lokalisation der Dissektion ausschlaggebend für die schwere der klinischen Symptomatik. Patienten mit einer Dissektion der A. carotis interna (ACI) auf der linken Seite zeigen in unserer Untersuchung einen manifesten Hirninfarkt und Patienten mit einer Dissektion auf der rechten Seite lediglich lokale Symptome (p = 0,002).
Es fällt ebenfalls eine saisonale Häufung der Dissektionspatienten vor allem in den kälteren Monaten von Oktober 2018 bis April 2019 sowie von September 2019 bis Februar 2020 auf. Von Mai 2019 bis August 2019 wurde keine Dissektion der hirnversorgenden Arterien in unserem Einzugsbereich diagnostiziert (Abbildung 1).
Diskussion und Fazit
In einem Zeitraum von eineinhalb Jahren wurden insgesamt fünfzehn Dissektionspatienten und fünfzehn Kontrollpatienten in unsere Studie aufgenommen. Die demografischen Daten unserer Studie zeigen eine ausgeglichene Gruppenverteilung sowohl im Hinblick auf das Geschlecht mit jeweils 9 (60 %) männlichen und 6 (40 %) weiblichen Studienteilnehmern als auch im Hinblick auf das durchschnittliche Alter beider Gruppen. Das durchschnittliche Alter der Dissektionspatienten liegt bei 45,27 ±1 2,601 Jahren. Der jüngste Dissektionspatient wurde hier mit 26 Jahren eingeschlossen, der älteste mit 66 Jahren. Das durchschnittliche Alter in der Gruppe der Kontrollpatienten liegt bei 44,93 ± 14,415 Jahren. Das mittlere Erkrankungsalter wird in der Literatur zwischen 40–50 Jahren angegeben, was unsere Daten wiederspiegeln.
Die Auswertung der Blutwerte erfolgt im Hinblick auf einen möglichen prognostischen Biomarker und zeigt besonders am Aufnahmetag (d0) deutlich erhöhte BSG Werte, IL-6 Werte sowie erhöhte STH Werte. Bei genauer Betrachtung der Entzündungswerte im Verlauf zeigt sich eine fallende Tendenz bei den abgenommenen Entzündungswerten. In der Gruppe der Kontrollpatienten wiederum findet sich ein weitgehend stabiler Verlauf der Entzündungswerte. Dies ist vor allem eindeutig am IL-6-Wert in der Gruppe der Dissektionspatienten zu erkennen. Hier zeigt sich sogar eine Reduktion des Median Wertes des IL-6 von 73,37 % innerhalb der Gruppe der Dissektionspatienten von d0 auf d90. Auch bei Betrachtung des Procalcitonin-Wertes im direkten Vergleich der beiden Gruppen fällt auf, dass die Gruppe der Dissektionspatienten einen um fast 40 % höheren Procalcitonin-Wert aufweist als die Kontrollpatienten. Der p-Wert liegt hier jedoch bei p = 0,052. Eine Signifikanz lässt sich gegebenenfalls mit einer größeren Fallzahl herauskristallisieren. Einem erhöhten Spiegel des Wachstumshormons STH wird sowohl eine anti-inflammatorische als auch eine pro-inflammatorische Wirkung zugeschrieben [9], kann aber auch im Rahmen von genetischer Prädisposition, wie zum Beispiel einer Akromegalie vorkommen, wenngleich auch in unserer Studie anamnestisch eine solche genetische Prädisposition nicht erhoben wurde. Als pro-inflammatorischer Effekt wurde in der Literatur u. a. die Wirkung eines erhöhten STH-Spiegels auf IL-6 diskutiert. Hier konnte ein allgemeiner Anstieg der IL-6-Werte als Reaktion eines STH-Spiegels im Akromegalie-Bereich (1,72–6,34 µg/l) detektiert werden [2]. Aufgrund dessen können gegebenenfalls sowohl die erhöhten STH als auch die erhöhten IL-6 und BSG-Werte am Aufnahmetag (d0) im Rahmen einer stattgehabten Infektion diskutiert werden.
In der Zusammenschau der Ergebnisse ist ein latentes Entzündungsgeschehen im Rahmen der Entstehung einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien durchaus möglich, was unsere aufgestellte These einer zugrundeliegenden Infektion für die Entstehung einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien unterstützt. Hier scheint vor allem ein initiales Entzündungsgeschehen plausibel, was die deutlich erhöhten Entzündungswerte lediglich am Aufnahmetag (d0) erklärt sowie die saisonale Häufung von zervikalen Dissektionen in den kälteren Wintermonaten vermuten lässt.
Literatur
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Verfasser:
Stabsarzt Dr. Lisa Geerkens
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Klinik für Neurologie
Lesserstraße 180, 22049 Hamburg
E-Mail: lisageerkens@bundeswehr.org