Militärpersonal mit einsatzbedingten psychischen Störungen:
Durchschnittliche Anzahl neuer Fälle und Veränderung der Komorbiditäten über die letzten 10 Jahre
Deployment-Related Mental Disorders: Average Number and Change in Comorbidities over the Last 10 Years
Ulrich Wesemanna, Nils Hüttermanna, Francesco Pahnkea, Peter Zimmermanna, Gerd Willmunda, Kai Köhlera, René Giesenb, Karl-Heinz Rennerc
a Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Psychotraumazentrum der Bundeswehr
b Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr, Sankt Augustin
c Fakultät für Humanwissenschaften, Institut für Psychologie, Universität der Bundeswehr München
Zusammenfassung
Hintergrund: Psychische Störungen gehören zum Berufsrisiko von Soldatinnen und Soldaten. Während der Fokus der letzten Dekaden auf posttraumatischen Belastungsstörungen lag, rücken in letzter Zeit auch immer häufiger andere Störungen und Einzelsymptome in den Vordergrund. Untersuchungen aus Afghanistan (International Security Assistance Force; ISAF) belegen eine 1-Jahres-Inzidenz psychischer Störungen von 7 %. Die Fragestellung dieser Arbeit bezieht sich darauf, wie viele Soldatinnen und Soldaten im Jahresdurchschnitt erstmalig die Diagnose einer einsatzbedingten psychischen Störung erhalten. Zusätzlich wird die Veränderung komorbider Störungen in 5-Jahres-Intervallen untersucht.
Methoden: In der am Psychotraumazentrum der Bundeswehr zentral geführten Einsatzstatistik werden alle Soldatinnen und Soldaten erfasst, die aufgrund einsatzbedingter psychischer Störungen eine Diagnose erhalten. Aufgrund der Vergabe eines speziellen Verschlüsselungscodes können doppelte Fälle ermittelt und ausgeschlossen werden. Für die Berechnung der Erstdiagnosen einsatzbedingter psychischer Störungen wurden die Jahre 2018–2022 sowie 2013–2022 herangezogen. Für die Berechnung der komorbiden Störungen wurden die Jahre 2011, 2016 und 2021 gewählt und miteinander verglichen.
Ergebnisse: In dem 5-Jahres-Zeitraum wurden im Schnitt jährlich 301 Soldatinnen und Soldaten erstmalig mit einer einsatzbedingten psychischen Störung gemeldet; im 10-Jahres-Zeitraum 310. Die Anzahl der komorbiden Diagnosen unterscheiden sich in den Stichjahren mit χ² (2, N = 980) = 33,42; p < .001 signifikant voneinander. Die geringste Anzahl komorbider psychischer Störungen findet sich im Jahr 2011, die höchste im Jahr 2021.
Schlussfolgerungen: Die reine Anzahl an Soldatinnen und Soldaten mit einsatzbedingten psychischen Störungen ist über die letzten 10 Jahre weitgehend konstant geblieben. Dies sollte aber nicht als Zeichen für eine „Entwarnung“ gesehen werden, da die Dunkelziffer nach wie vor als deutlich höher eingeschätzt wird. Vor allem die sich abzeichnende lange Latenz zwischen Symptombeginn und Behandlungsaufnahme, die häufig mit einer Chronifizierung einhergeht, erschweren den Behandlungsverlauf erheblich. Dies wird durch die signifikante Zunahme komorbider psychischer Störungen verschärft. Ein Fokus sollte auf die nicht erkannten Soldatinnen und Soldaten gesetzt werden.
Schlüsselwörter: Militärpersonal, psychische Gesundheit, Komorbidität, Inzidenz, Stigma
Summary
Background: Mental disorders are part of the occupational risk for military personnel. While the focus in recent decades has been on post-traumatic stress disorders, other disorders, and individual symptoms recently have also come to the fore. Studies from Afghanistan (International Security Assistance Force; ISAF) show a 1-year incidence of mental disorders of 7 %. The total number of military personnel diagnosed for the first time with a deployment-related mental disorder was an average of 340 per year. This data should be updated since the investigation period is already 5 years ago. In addition, the development of comorbid disorders is examined at 5-year intervals.
Methods: All servicewomen and men diagnosed with a deployment-related mental disorder are recorded in the deployment statistics maintained centrally in the Bundeswehr Center for Psychotraumatology. By using a HASH code, duplicate cases can be identified and excluded. The years 2018–2022 and 2013–2022 were used to calculate the initial diagnoses of deployment-related mental disorders. 2011, 2016 and 2021 were chosen and compared to calculate the comorbid conditions.
Results: In the 5-year period, a deployment-related mental disorder was reported for the first time in 301 soldiers; in the 10-year period 310. The number of comorbid diagnoses in the reference years differs significantly with χ² (2, N=980) = 33.42; p < .001. The lowest number of comorbid mental disorders was recorded in 2011, and the highest in 2021.
Conclusions: The number of soldiers with deployment-related mental disorders has remained constant over the past 10 years. However, this should not be interpreted as an all-clear signal, as the number of unreported cases is still significantly higher. Above all, the emerging long latency between the onset of symptoms and the start of treatment, which is often associated with chronicity, and the significant increase in comorbid mental disorders make the course of therapy considerably more difficult. A focus should be placed on the unrecognized soldiers.
Key words: military personnel; mental health; comorbidity; incidence; stigma
Hintergrund
Einsatzbedingte psychische Störungen sind ein erhebliches Berufsrisiko von Militärpersonal und Einsatzkräften [24]. Während der Fokus der letzten Jahrzehnte hauptsächlich auf posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) lag [6][21], finden sich nun immer häufiger Studien, die depressive Episoden und andere Angststörungen untersuchen [18]. Dabei rückten auch Einzelsymptome wie Schlafstörungen [3][4], Aggressivität und Feindseligkeit [8][16][25][28], Misstrauen [26], körperdysmorphe Störungen, Muskeldysmorphie, Unzufriedenheit mit Gewicht und Figur sowie die Einnahme von Medikamenten zur Verbesserung des Aussehens [1], Veränderungen von Werteorientierungen und moralischen Verletzungen [2][30], Veränderungen bei Zytokinen wie den Rezeptoren des TNF-α [9][22], Tabakkonsum [19] oder hirnorganische Veränderungen [11][12] immer stärker in den Vordergrund. Ebenfalls finden Arbeitsplatzbedingungen [5] wie dort erlebte Gewalt [15], die Charakteristika der kritischen Ereignisse [13][16][23][27], psychosoziale Faktoren [20] aber auch Ressourcen [14] und ethische Herausforderungen [17] immer größere Beachtung. Einen weiteren wichtigen Faktor nimmt Suizidalität in den Streitkräften ein. In der Bundeswehr ist Suizid nach wie vor die häufigste spezifische Todesursache aktiver Soldatinnen und Soldaten [29]. Durch diese ganzheitlichere Betrachtung entstand ein realistischeres Bild der einsatzbedingten psychischen Symptome, Syndrome und Störungen. Vor allem für den truppenärztlichen Bereich ist dieses Wissen wichtig, da dieser von betroffenem Militärpersonal häufig als die erste professionelle Ansprechstelle aufgesucht wird.
In einer kürzlich erschienenen Studie wird der prozentuale Anteil von männlichen Kampftruppensoldaten, die während oder kurz nach einem ISAF-Einsatz eine psychische Störung entwickelten, mit 7,3 % angegeben. Die häufigsten dabei waren spezifische Phobien, die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und depressive Episoden, wobei knapp 30 % aller Betroffenen komorbide Störungen entwickelten. Spannend vor diesem Hintergrund ist auch, dass 19,5 % der für den Einsatz vorgesehenen Soldaten bereits vor der ISAF-Mission an einer psychischen Störung litten. Dies liegt zwar deutlich unter dem Durchschnitt von knapp 28 % bei der in Deutschland lebenden Allgemeinbevölkerung, zeigt jedoch, dass eine bessere Detektionsrate hier hilfreich wäre.
Eine Studie aus dem Vereinigten Königreich zeigt, dass 1,8 % des Militärpersonals gleichzeitig die Kriterien für eine PTBS und Alkoholmissbrauch erfüllen [7]. Bei männlichen Kampftruppensoldaten der Bundeswehr liegt die Prävalenz für Alkoholmissbrauch bei 2,7 %. Auch in diesem Punkt scheint die Detektionsrate eher gering zu sein, sodass es hier noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt.
Diese könnten durch spezifische Weiterbildungsmaßnahmen im truppenärztlichen Bereich erreicht werden. Ein weiterer wichtiger Schritt könnte hier das vom Psychologischen Dienst der Bundeswehr entwickelte Rahmenkonzept zur psychischen Fitness darstellen, um die Genese psychischer Störungen zu minimieren. Ebenfalls sind De-Stigmatisierungs-Programme ein hilfreiches Mittel, um die Eigenverantwortung der Betroffenen zu steigern. Auch hier wird aktuell der State-Trait Einsatzkräftefragebogen für Partner evaluiert, der die Partnerinnen und Partner in diesen Prozess einbezieht.
In einer weiteren Analyse des Datensatzes der zuvor geschilderten Untersuchung männlicher Kampftruppensoldaten fand sich auch hier ein Einfluss spezifischer Charakteristika der Arbeitsplatzbedingungen. So hatten Soldaten, die während des Einsatzes ein lebensbedrohliches militärspezifisches Ereignis erlebten, ein 6,7-fach höheres Risiko, eine depressive Störung zu entwickeln. Dies ist für die Routineexploration des truppenärztlichen Bereichs von Bedeutung. Kritische Lebensereignisse sind ein starker Prädiktor für die Entwicklung psychischer Probleme und sie können schnell erhoben werden. Dies ersetzt natürlich nicht die gründliche Erfassung der mentalen Fitness, liefert aber wertvolle erste Hinweise. Zusätzlich kann dieses Wissen dabei helfen, die Ausbildung und Vorbereitungsmaßnahmen weiter zu verbessern [10] und vorhandene De-Stigmatisierungsprogramme weiterzuentwickeln.
Studienziel
Ziel dieser Studie ist es, die durchschnittliche Anzahl von Soldatinnen und Soldaten, die erstmalig die Diagnose einer einsatzbedingten psychischen Störung erhalten, zu ermitteln. Dafür soll der Jahresdurchschnitt für die letzten 5 und 10 Jahre berechnet werden. Neben den reinen Neudiagnosen von Soldatinnen und Soldaten mit einsatzbedingten psychischen Störungen fiel im klinischen Alltag auf, dass das Militärpersonal zunehmend komplexere Störungsbilder mit weiteren komorbiden psychischen Störungen entwickelte. Dies hat massive Auswirkungen auf den Behandlungsprozess und die Behandlungsdauer. Deshalb ist ein weiteres Ziel, die Veränderungen komorbider Störungen über ein längeres Intervall zu prüfen. Untersucht wird, ob es insgesamt zu einer Zunahme komorbider Störungen gekommen ist und welche komorbiden Störungen am häufigsten auftreten.
Methode
Für die Berechnungen wurde auf die im Psychotraumzentrum der Bundeswehr (PTZBw) zentral geführte Einsatzstatistik zurückgegriffen. Dort werden auf Weisung der Bundesregierung alle Soldatinnen und Soldaten erfasst, die sich aufgrund einsatzbedingter psychischer Störungen in Behandlung begeben. Die Zahlen werden monatlich von den Bundeswehrkrankenhäusern und Sanitätszentren der Bundeswehr übermittelt. Durch die Generierung eines HASH-Codes (spezielle Verschlüsselung der Daten) können keine Rückschlüsse auf die Einzelpersonen vorgenommen werden, doppelte bzw. mehrfach gemeldete Personen werden jedoch, unabhängig von den meldenden Stellen, erkannt. Damit lassen sich die neu gemeldeten Personen eindeutig als „neuer Fall“ identifizieren.
Aufgrund der pseudonymisierten Speicherung der Daten lassen sich für diese Registerstudie keine Einverständniserklärungen der erfassten Personen einholen. Um die Standards für gute wissenschaftliche Praxis zu gewährleisten, wurde deshalb ein Ethikvotum der Universität der Bundeswehr München (AZ: EK UniBW M 2023–2) eingeholt.
Für die Berechnung der Neuvorstellungen wurden die Jahre 2013–2022 und 2018–2022 herangezogen. Hier wurden alle Personen, die erstmalig die Diagnose einer einsatzbedingten psychischen Störung erhielten, zusammengefasst und daraus der Jahresdurchschnitt berechnet.
Zur Prüfung, ob sich die Komorbiditäten bei Soldatinnen und Soldaten mit einsatzbedingten psychischen Störungen über die Zeit verändern, wurden alle Fälle extrahiert, die mehr als eine Diagnose aufwiesen. Dafür wurden 5-Jahres-Intervalle, ausgehend vom Jahr 2021, gewählt. Zuerst wurden die häufigsten psychischen Störungen, die zusammen mit anderen auftreten, in eine Rangfolge gebracht. Anschließend wurden ausgewählte psychische Störungen für die benannten Intervalle mittels χ²-Test auf Unterschiede untersucht. Abschließend wurde mit dem gleichen Test geprüft, ob sich die Intervalle für die Gesamtheit der Komorbiditäten voneinander unterscheiden. Da es sich jeweils um Einzelvergleiche handelt, ist keine Alpha-Adjustierung notwendig. Das Signifikanzniveau wird auf p < .05 festgelegt. Die Berechnungen erfolgten mittels SPSS, Version 21.
Ergebnisse
In dem 5-Jahres-Zeitraum 2018–2022 wurden 1 504 Soldatinnen und Soldaten (1 399 (93 %) männlich; 104 weiblich (6,9 %) und 1 divers (0,1 %)) erstmalig mit einer einsatzbedingten psychischen Störung gemeldet; also knapp 301 (300,8) pro Jahr. Die durchschnittliche Anzahl an Einsätzen bei Erstdiagnose liegt hier bei 3,3 (Standardabweichung (SD) 3,5), die durchschnittlich absolvierten Dienstjahre bei 15,4 (SD 8,7) und die Einsatztage bei 260,5 (SD 541,4).
In dem 10-Jahres Zeitraum 2013–2022 wurden 3 101 Soldatinnen und Soldaten (2 879 (92,8 %) männlich; 221 weiblich (7,1 %) und 1 divers (0,0 %)) erstmalig mit einer einsatzbedingten psychischen Störung registriert. Dies entspricht 310 (genau 310,1) pro Jahr. Für die Untersuchung der komorbiden psychischen Störungen wurden im ersten Schritt die sieben am häufigsten auftretenden Störungen identifiziert und in eine Rangfolge gebracht (Tabelle 1).
Tab. 1: Die 7 häufigsten einsatzbedingten komorbiden psychischen Störungen bei Soldatinnen und Soldaten
Für die Auswertung der komorbiden Störungen wurden „psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (ohne Alkohol), „Störungen durch Alkohol“, „depressive Störungen“, „Angststörungen“, „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen“ sowie „komorbide Störungen insgesamt“ zusammengefasst und betrachtet. Die Auswertung erfolgte mittels χ²-Test. Die absoluten Zahlen (ohne Prozentwerte) sind in den Tabellen jeweils ohne Klammern angegeben.
Tab. 2: χ²-Test zum Vergleich der Komorbiditäten „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (ohne Alkohol) im 5-Jahres-Intervall
Die Gruppen unterscheiden sich in der Komorbidität „psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ (ohne F10.x) mit χ² (2, N=980) = 14.37; p < .001 signifikant voneinander. Die geringste Komorbidität findet sich im Jahr 2011, die höchste im Jahr 2016.
Tab. 3: χ²-Test zum Vergleich der Komorbiditäten „Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol“ im 5-Jahres-Intervall
Die Gruppen unterscheiden sich in der Komorbidität von F10.x Diagnosen mit χ² (2, N=980) = 18,78; p < .001 signifikant voneinander. Die geringste Komorbidität findet sich im Jahr 2011, die höchste im Jahr 2021. Dies entspricht einer Zunahme um das 3,2-fache.
Die Gruppen unterscheiden sich in der Komorbidität von depressiven Erkrankungen mit χ² (2, N=980) = 5,83; p = .054 nicht signifikant voneinander, es ist jedoch ein Trend in Richtung Zunahme komorbider depressiver Störungen zu sehen. Dies entspricht einer Zunahme um 58 %.
Die Gruppen unterscheiden sich in der Komorbidität von Angsterkrankungen mit χ² (2, N = 980) = 5,54; p = .063 nicht signifikant voneinander, es ist jedoch ein Trend in Richtung Zunahme komorbider Angststörungen zu sehen. Damit haben komorbide Angststörungen um 56 % zugenommen.
Die Gruppen unterscheiden sich in der Komorbidität von F6x.x Diagnosen mit χ² (2, N=980) = 3.67; p = .16 nicht signifikant voneinander.
Die Gruppen unterscheiden sich in der Anzahl komorbider Diagnosen mit χ² (2, N=980) = 33,42; p < .001 signifikant voneinander. Die geringste Anzahl komorbider psychischer Störungen findet sich im Jahr 2011, die höchste im Jahr 2021. Damit hat die Anzahl komorbider psychischer Störungen für den Vergleich von 2011 und 2021 um 70 % zugenommen.
Diskussion
Mit 300–310 Soldatinnen und Soldaten, die jährlich die Erstdiagnose einer einsatzbedingten Störung erhalten, ist die reine Anzahl der neu erkannten Personen über die letzte Dekade weitgehend konstant geblieben. Dennoch wird die Dunkelziffer nach wie vor als deutlich höher eingeschätzt. Ein Rückgang der Zahlen nach dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan seit Juli 2021 ist noch nicht zu beobachten. Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Latenzzeit zwischen Symptombeginn und Behandlungsaufnahme im Durchschnitt bei 3 bis 4 Jahren liegen dürfte. Eine detaillierte Auswertung dazu wird gerade vom Psychotraumazentrum am Bundeswehrkrankenhaus Berlin in Kooperation mit der Bundeswehruniversität München durchgeführt.
Da die Dunkelziffer, wie bereits beschrieben, deutlich höher ausfallen dürfte, sind hier weitere Bemühungen im Bereich der De-Stigmatisierung sinnvoll. Dies könnte die Latenzzeit zwischen Symptombeginn und Behandlungsaufnahme verkürzen bzw. überhaupt zur Aufnahme einer adäquaten Behandlung führen. Um die Detektionsraten zu erhöhen, könnten Schulungen im truppenärztlichen und truppenpsychologischen Bereich hilfreich sein. Mit der Einführung niedrigschwelliger Maßnahmen wie der Moralprävention, der aktuellen Entwicklung von Einzel- und Gruppen-Resilienztrainings des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr sowie weiterer Angebote aus dem Bereich der psychischen Fitness könnte die Anzahl an Soldatinnen und Soldaten, die an einer psychischen Störung erkranken, verringert werden. Dies ist auch weitgehend unabhängig von Auslandseinsätzen. Zusätzlich wird durch die Einführung des neuen Konzepts zur „Psychologischen Krisenintervention“ eine Reduktion der Krankheitslast erwartet. Der Einbezug Angehöriger in gesundheitsförderliche Maßnahmen erhöht dabei die Compliance und bietet einen breiteren Rahmen.
Bei nahezu gleichbleibenden Fallzahlen lässt sich insgesamt eine Zunahme einsatzbedingter komorbider psychischer Störungen vom Jahr 2011 zu 2021 um 70 % feststellen. Dies spricht dafür, dass die Behandlungen immer komplexer werden, sich die Prognose verschlechtert und die Behandlungsdauer damit deutlich ansteigen dürfte. Dies dürfte sich vor allem bei Soldatinnen und Soldaten mit komorbiden Störungen durch Alkohol, Depression und Angststörungen bemerkbar machen. Bezogen auf die deskriptive Statistik (Tabelle 1) lässt sich erkennen, dass es zu einer Verschiebung der Diagnosehäufigkeit der komorbiden Störungen kam. So haben Anpassungsstörungen abgenommen, wobei Agoraphobien und Alkoholprobleme zugenommen haben. Dies spricht auch für eine höher Krankheits- und Symptomlast, die sich negativ auf das Behandlungssetting (Dauer, Prognose, etc.) auswirkt.
Positiv haben sich die Zahlen der Soldatinnen und Soldaten mit komorbider PTBS entwickelt. Hier lässt sich eine Abnahme verzeichnen. Dies könnte allerdings auch damit zusammenhängen, dass gerade bei diesem Störungsbild keine weiteren Diagnosen wie die der Agoraphobie oder depressiver Episoden gestellt werden. Hier gibt es in der Symptomatik deutliche Überschneidungen, sodass dies ohnehin in die Behandlung mit einfließt.
Ebenfalls lässt sich im letzten Jahr ein Trend in Richtung gehäufter Diagnosen von F43.8 (sonstige Reaktionen auf schwere Belastungen) beobachten. Es ist zu vermuten, dass der Fokus hier zunehmend auch auf moralische Verletzungen gelegt wird.
Eine Stärke der Studie liegt darin, dass die geführte Datenbank einer Vollerhebung entspricht und damit repräsentativ für alle Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ist.
Limitationen
In der Einsatzstatistik finden sich nur die gemeldeten Soldatinnen und Soldaten, sodass keine Aussage über die nicht identifizierten Betroffenen gemacht werden kann. Genau dieser Anteil wird aber als beträchtlich höher eingeschätzt. Ebenfalls finden Soldatinnen und Soldaten mit einsatzbedingten psychischen Störungen häufig keinen Eingang in diese Statistik, wenn sie im außermilitärischen therapeutischen Setting behandelt werden.
Bei den Berechnungen der Komorbiditäten wurden nur die 3 Stichjahre als Vergleichsjahre einbezogen. In einer weiteren Studie wäre es sinnvoll, die gesamte Zeitspanne abzudecken.
Fazit
Die Zunahme einsatzbedingter komorbider psychischer Störungen und die Verschiebung von „leichteren“ zu „schwerwiegenderen“ Diagnosen spricht für komplexere Krankheitsbilder. Dies hat Auswirkungen auf die Behandlungsdauer und die Prognose. Eine verbesserte Diagnostik im Sinne der Früherkennung durch den truppenärztlichen und -psychologischen Bereich wäre hilfreich, um Chronifizierungen vorzubeugen. Dies könnte durch zusätzliche Schulungen erfolgen. Den vielleicht wichtigsten Schritt dazu könnte die Erfassung „Psychische Fitness“ sein. Ebenfalls wird das Screening der „Psychologischen Krisenintervention“ als hilfreich eingeschätzt, da dies über einen 3-Jahres-Zeitraum erfolgt und damit auch Soldatinnen und Soldaten erkennen kann, die später Probleme entwickeln. Das Primärziel beider Programme besteht darin, Ressourcen und Resilienz der Soldatinnen und Soldaten so zu steigern, dass es zu keiner psychischen Störung kommt. Unabhängig von zukünftigen Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist mit einem weiteren Anstieg psychischer Störungen bei Soldatinnen und Soldaten zu rechnen. Vermutlich wird sich die Prävalenz aber knapp unter dem Durchschnitt der deutschen Allgemeinbevölkerung halten können.
Kernaussagen
- Einsatzbedingte psychische Störungen sind ein erhebliches Berufsrisiko von Soldatinnen und Soldaten und Übersteigen das Risiko von körperlicher Verwundung oder Tod.
- Pro Jahr erhalten im Schnitt 310 Soldatinnen und Soldaten erstmalig die Diagnose einer einsatzbedingten psychischen Störung.
- Einsatzbedingte komorbide psychische Störungen haben über die letzten 10 Jahre signifikant zugenommen und erschweren den Behandlungsprozess erheblich.
- Durch Schulungen von Truppenärzten & Truppenpsychologen könnte die Detektionsrate verbessert und die Latenzzeit zwischen Störungsbeginn und Behandlung verkürzt werden.
- Maßnahmen der „Psychologischen Fitness“ und der „Psychologischen Krisenintervention“ sollen einer Störung primärpräventiv vorbeugen.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Wesemann U, Hüttermann N, Pahnke F, Zimmermann P, Willmund G, Köhler K, Giesen R, Renner KH: Militärpersonal mit einsatzbedingten psychischen Störungen: Durchschnittliche Anzahl neuer Fälle und Veränderung der Komorbiditäten über die letzten 10 Jahre. WMM 2023; 67(9): 348-353.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-195
Für die Verfasser
Regierungsdirektor Priv.-Doz.Dr. Ulrich Wesemann
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Psychotraumazentrum der Bundeswehr
Scharnhorststr. 13, 10115 Berlin
E-Mail: uw@ptzbw.org
Manuscript Data
Citation
Wesemann U, Hüttermann N, Pahnke F, Zimmermann P, Willmund G, Köhler K, Giesen R, Renner KH: Average number of deployment-related mental disorders and development of comorbidities in a 5-year interval among military personnel. WMM 2023; 67(9): e1.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-196
For the Authors
Associate Professor Dr. Ulrich Wesemann
Bundeswehr Hospital Berlin
Bundeswehr Center for Psychotraumatology
Scharnhorststr. 13, D-10115 Berlin
E-Mail: uw@ptzbw.org