Multifamilienberatung – ein innovativer Ansatz
in der Arbeit mit belasteten Familien in der Bundeswehr
Multifamily Therapy – an Innovative Approach for the Work with Highly Stressed Families in the Bundeswehr
Rene Giesena, Sonja Heinrichb, Ulrich Wesemannb, Franziska Langnerb, Gerd Willmundb, Kai Köhlerb
a Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr, Sachgebiet VII 1.4.2 Sozialarbeit
b Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Psychotraumazentrum der Bundeswehr
Zusammenfassung
Die Beratungszahlen des Sozialdienstes der Bundeswehr bei Belastungen und Problemen innerhalb des Familiensystems haben in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Die Erfahrungen aus der alltäglichen Praxis der Sozialdienste der Ortsebene bestätigten dabei die Forschungsergebnisse von Bundeswehrstudien zu hohen Belastungen von Angehörigen und Kindern. Als eine Möglichkeit, dieser Thematik zukünftig in der Bundeswehr besser zu begegnen, soll Multifamilienberatung (MFB) als vielseitige und wissenschaftlich evaluierte Methode in der Arbeit mit Bundeswehrfamilien eingeführt werden. MFB wird bereits seit mehreren Jahren erfolgreich in anderen Nationen, u. a. bei Familien mit psychischen Einsatzschädigungen, eingesetzt und hat darüber hinaus auch bei affektiven Störungen, Schizophrenien, chronischen Psychosen sowie Essstörungen eine gute Wirksamkeit gezeigt. Der Artikel beschreibt daher den Hintergrund und die Entwicklungen der MFB mit speziellem Blickpunkt auf Militärfamilien. Weiterhin werden die wesentlichen Methoden dar- und deren Einsatz in der Bundeswehr am Beispiel des Pilotprojektes „Löwenstarke Familienwoche“ bei belasteten Familien vorgestellt. Abschließend wird ein breiter Ausblick zu den Möglichkeiten des zukünftigen Einsatzes gegeben.
Schlüsselwörter: Multifamilienberatung, Familien, Belastungen, systemische Arbeit, Angehörige, Kinder
Summary
The amount of counseling sessions provided by the Bundeswehr Social Service in cases of stress and problems within the family system has continuously increased in recent years. The experience gained from the day-to-day practice of social services at the local level has confirmed the research findings of Bundeswehr studies on the high-stress levels of family members and children. To better address this issue in the Bundeswehr, multifamily counseling (MFB) will be introduced as a versatile and scientifically evaluated method for working with Bundeswehr families. MFB has already been used successfully for several years in other nations, among others, for families with psychological deployment injuries, and has also shown good effectiveness for affective disorders, schizophrenia, chronic psychoses, and eating disorders. For this reason, the article describes background and developments of MFB with a particular focus on military families. Furthermore, the essential methods and their application in the Bundeswehr are presented using the example of the pilot project “Löwenstarke Familienwoche” with stressed families. Finally, a broad outlook on the possibilities of future use is given.
Keywords: multifamily counseling; families; stresses; systemic work; relatives; children
Hintergrund
Die Zahlen der Jahresstatistik der sozialen Arbeit des Sozialdienstes der Bundeswehr (SozDstBw) zeigen eine kontinuierliche Zunahme der Inanspruchnahme von Beratung und Problemen im Kontext von Belastungen innerhalb der Familie. Zuletzt stieg deren Anzahl von 2021 auf 2022 um 4,6 % auf 38 380 Beratungsstunden. Mit einem Gesamtanteil von über 40 % an den Gesamtberatungen weist dies auf einen immer weiter zunehmenden psychosozialen Unterstützungsbedarf hin. Im Zuge dieser Beratungen treffen Fachkräfte des SozDstBw oftmals auf hochbelastete intrafamiliäre Beziehungen und damit verbunden auf inadäquate verzerrte sowie intrafamiliäre Kommunikations- und Interaktionsmuster. In familiären Konstellationen mit Kindern auch immer wieder auf belastete Eltern-Kind-Beziehungen.
Diese Erfahrungen aus der alltäglichen Praxis der Sozialdienste auf Ortsebene bestätigten die Forschungsergebnisse der Bundeswehrstudie zu Belastungen von Kindern [6] vollumfänglich. Die Studie zeigt anhand von Stichproben beim Militär, dass die elterliche psychosoziale Belastung (Auslandseinsätze, Pendeln, häufige Abwesenheiten, Versetzungen) nicht nur die Partnerinnen- und Partner, sondern das ganze Familiensystem negativ beeinträchtigt und einen hohen Risikofaktor für die Entwicklung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Probleme darstellt. Ebenso ist das Risiko für häusliche Gewalt, Kindesmisshandlungen und Vernachlässigungen erhöht, was in der Folge zu einer verzögerten kindlichen Entwicklung führen kann [5][7][9][21][24].
Mit Blick auf die hohen Zahlen der aktuell sowie der neudiagnostizierten Betroffenen mit psychischen Einsatzfolgestörungen (Tabelle 1) in Verbindung mit den unerkannten Erkrankten gemäß der Dunkelzifferstudie [25] ergibt sich hieraus eine immense Anzahl an mitbelasteten Partnern und Partnerinnen sowie weiteren Familienmitgliedern. Gerade die bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) typischerweise auftretende erhöhte Vigilanz und das Arousal mit teils aggressivem Verhalten [18] führt häufig zu Familienproblemen, die sich u. a. in Streitereien, erhöhter Gewalt, Fehlen von körperlicher Nähe und reduziertem kommunikativen Austausch zeigen [12][23]. In der Folge ergeben sich das ebenfalls oft vorhandene ausgeprägte Vermeidungsverhalten und die Gefühlstaubheit [18] zur Aufrechterhaltung von belastenden Situationen. Studien zeigen, dass gerade empathische und um Unterstützung der Betroffenen bemühte Angehörige nach einiger Zeit selbst an Symptomen von Erschöpfung, Depressionen und Angststörungen leiden [15] und auch körperliche Beschwerden wie Rücken-, Kopf- und generelle Schmerzsymptome bei gleichzeitiger reduzierter Aktivität, mehr Unzufriedenheit und weniger Lebenszufriedenheit auftreten können [17].
Aus dem zuvor Geschilderten wird deutlich, dass nicht nur die belasteten Soldaten und Soldatinnen sowie betroffene zivile Bundeswehrangehörige selbst Unterstützung benötigen, sondern auch für die Angehörigen und Kinder entsprechende Angebote geschaffen werden müssen, um die belastenden Auswirkungen der Krankheit im täglichen Leben abzumildern.
Aktuell hält die Bundeswehr allerdings kein eigenes Angebot vor, in welchem Familien mit Kindern von einsatzgeschädigten Soldatinnen und Soldaten kurz und langfristig nachhaltig unterstützt werden. Der Sozialdienst der Bundeswehr hat sich daher als Initiative das Ziel gesetzt, als zukünftiges Angebot systemische Multifamilienberatung (MFB) in einer Pilotphase zu testen und bei positiven Ergebnissen längerfristig als Angebot in der Fläche zu etablieren.
Die Option „Multifamilienberatung“
MFB vereint die Erkenntnisse, Konzepte, und Techniken der Gruppentherapie, der systemischen Einzelfamilientherapie und von Selbsthilfegruppen. In einer Gruppe besteht die Möglichkeit, problematische Verhaltensweisen und Symptomatiken einer Familie differenzierter zu bearbeiten, da Mitglieder aus anderen Familien neue und andere Perspektiven entwickeln können – vor allem, wenn sie mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind.
Während es für eine Einzelperson oder eine einzelne Familie oft schwierig ist, die eigene Perspektive zu verändern, um so eigene Schwierigkeiten zu erkennen und zu beheben, gibt es in einer Gruppe von Familien eine Vielzahl von differenzierten Außenstandpunkten.
Ziel der Arbeit ist es, dass Familien gemeinsam die Möglichkeiten, Lösungskompetenzen und Unterstützung aus einer Gruppe für sich selbst erleben. Diese aktive Einbeziehung der Familie bei der Wahrnehmung des ähnlichen Problems bei ihrem Gegenüber stärkt das eigene Selbstwertgefühl und macht Familien offener für die Veränderung der gleichen Schwierigkeiten bei sich selbst.
Wenn sechs oder sieben Familien für Stunden, Tage oder Wochen miteinander zusammenarbeiten, dann können sie voneinander lernen, sich gegenseitig motivieren und inspirieren, ihre eigenen Ressourcen (wieder-)entdecken und aus ihrer sozialen Isolation herausfinden.
MFB ist eine hocheffektive Intervention, die ihre Wirksamkeit und Stärken beispielweise bei Familien mit Problemen bei Gefährdung des Kindeswohls, Essstörungen, Suchtproblematiken, Gewalt, schulisches Versagen, Psychosen und chronischen körperlichen Erkrankungen zeigt. In Deutschland werden bereits zahlreiche MFB-Projekte durchgeführt, die bisher in zivilen Bereichen der Jugendhilfe, in Schulen und der medizinischen Versorgung umgesetzt werden.
Historie
In den 1940er- und 1950er-Jahren luden in den USA Behandler und Behandlerinnen, die mit chronisch psychotischen Menschen arbeiteten, deren Familien ein und initiierten einen gegenseitigen Austausch von Erfahrungen. Die Familien fühlten sich mit ihrer Situation nicht mehr allein gelassen.
Diese Arbeit wurde in den 1970ern von Dr. Peter Laqueur aufgegriffen und systemisch weiterentwickelt. Laqueur war Leiter einer Abteilung für Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter. Während seiner Arbeit stellte er fest, dass Mitglieder unterschiedlicher Familien sich aufgrund ähnlicher Erfahrungen gut ineinander hineinversetzen konnten. Bei auftretenden Kommunikationsschwierigkeiten konnten Angehörige anderer Familien Botschaften übersetzen. Auch fühlten sich die behandelnden Therapeuten und Therapeutinnen durch die Einbindung der Familien in einer Gruppe weniger belastet. Die Familien entwickelten eine gewisse Unabhängigkeit und fühlten sich weniger isoliert, was zu einem gestärkten eigenen Kompetenzerleben führte.
In den 1970ern fand in Großbritannien die Multifamilienberatung auch in der Arbeit bei Multiproblemfamilien ihren Einzug. Multiple Probleme beschreiben in diesem Zusammenhang mindestens zwei konfliktbehaftete Bereiche des täglichen Lebens aus einer Vielzahl an Feldern wie eine vorhandene störungsspezifische Symptomatik und den daraus resultierenden krankheitsspezifischen Alltagssituationen, der Umgang und die Koordinierung von Aktivitäten zwischen den Eltern, die generelle familiäre Konfliktfähigkeit, die elterlichen Bindungs- und Versöhnungsfähigkeiten, die Interaktions- und Beziehungsmuster usw. [1]. Um diese Breite abzudecken, wurden in tagesklinischen Angeboten neben Familien mit kinderpsychiatrischen Störungsbildern auch Familien behandelt, deren Kinder wegen Verwahrlosung oder Misshandlung fremduntergebracht waren und bei denen sich die Eltern um eine Rückführung ihrer Kinder bemühten. Häufig hatten diese Familien Auflagen vom Jugendamt oder Familiengericht erhalten. Der Einbezug auch hochbelasteter Familien zeigt die breiten Einsatzmöglichkeiten des Verfahrens sowohl in der akuten als auch bei der längerfristigen Arbeit.
Die erste Familientagesklinik für Kinder mit emotionalen und sozialen Auffälligkeiten in Deutschland wurde 1998 in Dresden unter der Leitung von Prof. Michael Scholz eröffnet. Dieser griff die Methode der Multifamilienberatung auf und gab ihr die entscheidenden Impulse für die Entwicklung in Deutschland. Heute gilt die Multifamilienberatung als flankierende Maßnahme in der Betreuung psychotischer Erwachsener als evidenzbasiert [2].
Multifamilienberatung und Militär
Wegen der häufigen verbalen und physischen Konflikte zwischen Kriegsveteranen und ihren Familien wurde 2005 das Psychotraumacentrum Zuid Nederland (PTC ZN) vom Nationalen Gesundheitsdienst für Veteranen (LZV) der Niederlande beauftragt, ein neues Behandlungsprogramm für niederländische Kriegsveteranen und deren Familien zu entwickeln. Bis dato wurden Veteranen, die therapeutische Hilfe benötigten, ausschließlich Einzeltherapie und in wenigen Fällen eine Paartherapie angeboten.
Die neuen Konzepte wurden in den Auswertungen von den Teilnehmenden als enorm effiziente Methode beschrieben und schnell anerkannt. Die damit verbundenen positiven Erfahrungen wurden anschließend von den Familien medial in der Presse berichtet, um die Behandlungsform bei weiteren Familien von Kriegsveteranen bekannter zu machen und als generelles Angebot zu verstetigen. Als sichtbares Zeichen verliehen damals die beteiligten Eltern ihren Kindern eine goldene Nelke, um auch ihre Belastungen durch die Auslandseinsätze zu würdigen. Dieser Schmuck wird inzwischen allen Kindern als Geste übergeben, wenn ihre Eltern wegen ihrer Leistungen und der Teilnahme an einem Militäreinsatz mit einem Orden geehrt werden. Nachdem diese Initiative von der niederländischen Königsfamilie aufgegriffen wurde, sollte MFB als fester Bestandteil der psychosozialen Versorgung etabliert werden.
Das Psychotraumazentrum Zuid Nederland und das Nationale Gesundheitssystem für Veteranen hatten dann 2016 beschlossen, hilfesuchenden Veteranenfamilien dauerhaft Multifamilienberatung landesweit anzubieten.
Arbeitsmethoden und Interventionstechniken
Bei der Multifamilienberatung werden bei den verwendeten Interventionen drei Ebenen betrachtet: 1. Aktion, 2. Reflexion, 3. Transfer (ART-Modell). Die praktische Aktion, die anschließende Reflexion und der Transfer in die häusliche Umgebung.
1. Aktion
Gemeinsame Aktionen sind in der Multifamilienberatung von immenser Bedeutung. Sie sind:
- gruppenbezogen im Kontext Gruppenklima, Kontaktaufnahme und „door-opener“,
- familienbezogen und greifen familiäre Thematiken auf,
- elternbezogen im Sinne der Elternrolle,
- individuumsbezogen, Platz des Einzelnen in der Familie oder auch
- störungsbezogen.
Nach Bedarf werden auch Themen wie Ressourcen, Zukunftsideen, Wünsche und Träume gezielt aufgegriffen. In der Aktion besteht die Möglichkeit, sich spielerisch mit schwierigen Themen zu befassen und diese Sequenzen zu nutzen, neue Erfahrungen zu machen. Das spielerische Format nimmt Ängste und kann zu einer Entspannung im Eltern-Kind-Verhältnis führen. Die gemeinsame Zeit miteinander zu verbringen, steht hier im Vordergrund
2. Reflexion
Nach der Aktion wird das Verhalten reflektiert. Die Reflexion beginnt immer mit einer anerkennenden Geste. Anschließend erfolgt eine Erfolgsanalyse. Die Erfolgsanalyse dient dem Bewusstwerden hilfreicher Strategien. Hierzu wird im nächsten Schritt die ganze Gruppe einbezogen.
3. Transfer
Ein wesentlicher Teil des ART-Modells ist der Transfer in die häusliche Umgebung. Die in der Reflexion aufgeworfenen hilfreichen Strategien werden durch gemeinsame Überlegungen der Familien versucht in den Familienalltag zu transferieren. Ein erfolgreicher Transfer kann zu Hause gefestigt werden.
Das 5-Schritte-Modell
Das 5-Schritte-Modell ist eine Basistechnik der MFB, mit der die Haltung der Methode in greifbare Schritte umgesetzt wird [4]. Es kann als Leitfaden dienen, der die Eltern z. B. während Gesprächen zur Reflektion von kritischen Verhalten anregt mit dem Ziel, sich auf den Weg zu machen und eigene Lösungen zu entwickeln. Er lässt sich zur Einzelarbeit nutzen, ist aber auch im Gruppenkontext geeignet, um dort Impulse in der Gesprächseröffnung zu setzten.
Das Grundmodell gliedert sich in die folgenden 5 Schritte:
- Beobachtung: eine Beobachtung des kritischen Verhaltens,
- Wahrnehmungsvergleich: Abgleich der eigenen Beobachtungen mit denen der Familie,
- Bewertung des Verhaltens durch Eltern/Kinder,
- Veränderungswunsch der Eltern/Kinder und
- Aktion: machbare erste Schritte.
Dieses einfache Interventionsschema hilft den Beratenden, direkt auf Konflikte und Interaktionsprobleme innerhalb der Familie einzugehen und konkret in die Situation einzusteigen, in der sie auftreten. Es schützt auch davor, vorschnell selbst zu reagieren und den Familien eigene Lösungen anzubieten.
Mentalisieren
Mentalisieren ist eine wichtige Fähigkeit, um die Reaktionen anderer und sich selber zu verstehen. Bei Menschen gibt es erhebliche Unterschiede in der Fähigkeit zu mentalisieren. Diese ist stark abhängig von unserer emotionalen Erregung. So ist es nicht erfolgsversprechend, direkt nach einem Streit ein klärendes Gespräch zu führen, bei dem sich die Gegenspieler in den anderen hineinversetzen sollen. Ein gewisser Grad an Erregung ist jedoch wichtig, um innere Prozesse anzustoßen.
Ziel der mentalisierungsorientierten Arbeit ist es, dass Familienmitglieder Worte und Gefühle bei sich und bei dem Gegenüber wahrnehmen und passende Worte finden, um sie auszudrücken. Dazu müssen in der Multifamilienberatung immer wieder im Kontext Gelegenheiten geschaffen werden, um über Gefühle sprechen zu können. Hierbei werden Unterbrechungen, Nachfragen und die bewusste Reflexion genutzt, um Tempo herauszunehmen und sich auf die Gefühle einlassen zu können.
Verantwortungsübergabe
Ein wichtiges Ziel in der MFB ist die Stärkung der elterlichen Präsenz. Eltern sollen sich wieder selbstwirksam erleben und eine aktive Rolle ergreifen. Dieses Thema spielt für den erzieherischen Alltag der Eltern eine wichtige Rolle. Welche Entscheidungen fällen die Eltern gemeinsam bzw. gibt es einen Bereich, worin Kinder ab einem bestimmten Alter Verantwortungsübernahme zeigen können?
Reflektieren
Ein weiteres wichtiges Element ist das Reflektieren in unterschiedlichen Kontexten. Angeregt wird dieses Vorgehen von der Technik des reflektierenden Teams.
Die Methode des „Reflecting Teams“ findet Anwendung in der systemischen Arbeit. Ziel ist es, Freiräume zu schaffen, worin perspektivoffen Ideen und Lösungsmöglichkeiten zugelassen werden. Dazu begeben sich gemeinsam Ratsuchende und Beratende und ggf. Beobachtende in einen Prozess von abwechselnd gerichteter und ungerichteter Kommunikation.
Elterntausch und Tandem
Der Elterntausch als eine Art „Adoptivverfahren“ eignet sich gut für einen Perspektivwechsel. Hierbei erhalten Kinder die Gelegenheit, mit anderen Eltern zusammenzuarbeiten. Tandems werden gebildet, wenn sich Elternteile überfordert fühlen und sehr viel Unterstützung, z. B. in Form von Rückmeldung, benötigen. Innerhalb dieser Tandems unterstützen sich die Mitglieder gegenseitig und können sich Anregungen liefern. Zudem besteht die Möglichkeit, jederzeit andere Familien und Beratende hinzuzuziehen. Dies bietet Familien die Gelegenheit, positive Erfahrungen zu sammeln und sich aktiv Hilfe und Unterstützung zu holen. Die bis dahin vorherrschende Isolation wird durchbrochen und die Familien fangen an, sich aktiv zu vernetzen.
Videofeedback
Videofeedback hilft zur Verbesserung der Wahrnehmung und unterstützt die Selbstreflektion. Es ermöglicht die Vornahme von Bewertungen und zeigt mögliche Verhaltensveränderungen auf. Familien erleben sich wie in einem Film und erhalten aus der Metaperspektive die Gelegenheit, sich selbst zu „begutachten“. Hierbei können selbst kleine Erfolge durch den Einsatz von Videofeedback sichtbar gemacht werden.
Die Wirksamkeit der MFB
Bei der MFB kommen allgemeine Wirkfaktoren der Gruppenarbeit wie Kohäsion, Verständnis, Unterstützung, Beobachtungslernen und die wegweisende Funktion des Beratenden zum Vorschein. In Studien berichten Teilnehmende mit ähnlichen Problemen oft, dass sie in der Gruppe Gehör und Verständnis finden. Dies führt zur gegenseitigen Ermunterung, Schwierigkeiten zu bewältigen oder Lösungsstrategien zu entwickeln. Eine Förderung der Verbundenheit innerhalb der Gruppe, die einen bedeutsamen Einfluss auf positive Veränderungsprozesse hat, wird forciert. Hieraus resultiert eine hohe Selbstwirksamkeit der Betroffenen und deren Beziehungsgefüge. Ergänzt werden diese aus der Gruppenarbeit bekannten Wirkfaktoren in gelingenden MFB-Gruppen durch typische systemische Wirkfaktoren. Insbesondere die Anregung von zirkulären Prozessen sowie von Grenz- und Ressourcenwahrnehmung der Familie stehen im Zentrum des systemischen Interesses [4].
Typische Wirkfaktoren der MFB, welche auch als „Treibhauseffekt“ betitelt werden, sind demnach ein häufiger und rascher Wechsel von Aufgaben und Rollen für die Teilnehmenden durch die Übergänge von einer Aktivität zur nächsten. Die Teilnehmenden werden gefordert, häufiger als in einer Einzel-Familienarbeit ihren Standpunkt zu ändern und neue Sichtweisen zu entwickeln, was einen Verstärker für Veränderungen darstellt. Ein weiterer spezifischer MFB-Faktor wird als „dialektische Dynamik“ zwischen Zugehörigkeit der Gruppe und Differenzierung innerhalb der Gruppe beschrieben. In Befragungen wurden aus Sicht der befragten MFB-Beratenden sechs weitere Wirkfaktoren für die Familiengruppen identifiziert:
- das positive Erleben in der Gruppe,
- die Ressourcenaktivierung,
- der Perspektivwechsel,
- das Modelllernen,
- die Förderung von Selbstwirksamkeit,
- die therapeutische Beziehung auf Augenhöhe.
Quantitative Studien zeigen eine Wirksamkeit von MFB bei affektiven Störungen [11][16], Schizophrenien und chronischen Psychosen [3][13] sowie Essstörungen [10][19][20][22], bei denen Effekte am stärksten belegt sind. Qualitative Studien, wie z. B. von Hellemans et al. [14], gingen der Frage nach, welche bedeutsamen Erfahrungen aus der MFB Betroffene, aber auch deren Familien retrospektiv gesammelt haben. Die qualitative Analyse zeigte acht Faktoren auf, die aus Sicht der Befragten den Effekt der MFB bewirkten: Die Teilnehmenden und ihre Lebenspartner bzw. -partnerinnen benannten
- die Anwesenheit von anderen,
- den Zusammenhalt und das Verständnis,
- die eigene Selbstoffenbarung,
- die Offenheit der Gruppe,
- Gruppen-Diskussionen,
- eigene Erkenntnisse,
- Lernen durch Beobachtung und
- die Anleitung durch die Beratenden.
Erwähnenswert ist zudem die Untersuchung von Dickerson und Crase [8]. Unter Verwendung eines methodenintegrativen Forschungsansatzes beschäftigte sich diese Studie mit dem Einfluss der MFB auf die Eltern-Kind-Beziehung bei substanzkonsumierenden Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Hier wurde die wahrgenommene Nähe und Kommunikation in der Beziehung zu den Eltern vor und nach einer MFB-Behandlung sowie die Veränderung der Beziehungsqualität aus Sicht der Jugendlichen erfasst. Aus den qualitativen Daten ergaben sich vier Kategorien, welche die Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern beschrieben:
- Miteinander-Klarkommen,
- Kommunikation,
- Vertrauen und
- Rolle des Drogenkonsums in der Beziehung.
Zusammenschau und Ausblick
Ansätze der Multifamilienberatung
Seit 2021 führt der SozDstBw die „Löwenstarke Familienwoche: Eigene Wege finden!“ durch. Die von der Deutschen Härtefallstiftung und der Katholischen Familienstiftung für Soldaten geförderte Maßnahme beruht auf einem systemischen Ansatz, nutzt Anteile der Multifamilienberatung und geht weit über niederschwellige Hilfe hinaus. Das Angebot richtet sich an Bundeswehrfamilien mit hohen Belastungen unabhängig von deren Ursache.
Es können je Durchgang bis zu sechs Familien mit ähnlichen Problemlagen teilnehmen. Sowohl Eltern als auch Kinder erfahren sich in der Rolle als „Profis“ zu den eigenen Problemen und nehmen einerseits im Gruppenprozess die Rolle der Beratenden ein, andererseits werden sie von den anderen Eltern und Kindern unterstützt und beraten. Die Familien erfahren, dass sie mit ihrer Situation nicht allein sind und hilfreich für andere Familien sein können. Sie kommen gemeinsam in eine Dynamik bei der Suche nach Lösungen und neuen Wegen, erfahren positive Erlebnisse. Dieser Prozess wird durch Fachkräfte aus unterschiedlichen Fachdisziplinen unterstützt.
Gemeinschaftsaktivitäten wie ein Familienausflug sowie eine Familienolympiade runden das Angebot ab und bieten viele Gelegenheiten, sich gegenseitig kennenzulernen, sich auszutauschen und zu unterstützen. Auch Vernetzung ist ein wichtiger Baustein der Unterstützung der Familien. Ziel ist es, die Kinder und ihre Eltern in ein möglichst umfassendes, gut kooperierendes und überschaubares Netzwerk einzubinden und eine zukunftsfähige Selbsthilfe zu unterstützen. Die Maßnahme endet nicht mit der Woche, sondern die Familien werden über einen Zeitraum von drei Monaten weiterhin durch den Sozialdienst betreut und können sich zu festen Terminen online weiter austauschen.
Im Dezember 2022 wurde die „Löwenstarke Familienwoche“ im Rahmen des 8. Berliner Psychotraumakolloquiums einem breiten Fachpublikum vorgestellt. Dabei berichteten zwei Familien aus den Durchgängen 2021 und 2022 von ihren Erfahrungen und stellten sich anschließend den Fragen des Publikums. Konsens dieses Austausches war, dass das Angebot der „Löwenstarken Familienwoche“ einmalig innerhalb der Bundeswehr ist und ausgebaut werden sollte. 2023 werden daher erstmals zwei Durchgänge der „Löwenstarken Familienwoche“ stattfinden.
Um die Multifamilienberatung in der Bundeswehr zu implementieren, wurde mit Erlass des BMVg vom 28. Juni 2023 ein Pilotdurchgang der MFB gebilligt. Die Pilotierung wird durch das Psychotraumazentrum der Bundeswehr in Berlin wissenschaftlich begleitet.
Ziel ist es, dass der Sozialdienst der Bundeswehr (SozDstBw) zeitnah ein ambulantes Angebot zur MFB für Familien etabliert. An ihr sollen dann die ersten Familien teilnehmen, die in relativer räumlicher Nähe zueinander wohnen, um regelmäßige Treffen auch außerhalb der üblichen Schul- oder Arbeitszeiten der Angehörigen zu ermöglichen.
Wissenschaftliche Weiterentwicklung der Multifamilienberatung
Vom 7. bis 9. September 2023 findet an der Fachhochschule Potsdam die 1. Europäische Tagung „Multifamilientherapie“ statt. An dieser Tagung nehmen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie Praktiker und Praktikerinnen aus Großbritannien, Schweiz, Frankreich, Schweden, Polen und den Niederlanden teil. Die niederländischen Angehörigen des Psychotraumacentrum Zuid Nederland werden dort mit dem Vortragstitel: „Familien an vorderster Front – MFT für Veteranenfamilien in den Niederlanden“ vortragen. Darin werden die Anpassungen und Erfahrungen mit dem Programm zur MFT in den Niederlanden diskutiert, aber auch Ergebnisse einer qualitativen Studie zur Wirksamkeit von MFT sowie vorläufige Ergebnisse einer quantitativen Studie vorgestellt.
Die Multifamilientherapie entwickelt sich in Deutschland rasant weiter. Unter anderem fördert das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ein wissenschaftliches Modellprojekt „Kidstime Workshops“. Dieses multifamilientherapeutisch ausgerichtete Workshop-Angebot richtet sich an Kinder psychisch erkrankter Eltern. Inspiriert durch die Arbeit von Dr. Eia Asen und Prof. Dr. Michael Scholz nehmen immer mehr Kliniken multifamilienberaterische Angebote in ihr Portfolio auf.
Zukunftsaussichten
Nach erfolgreicher Pilotierung könnte eine bundesweite Ausbringung des Angebots durch den SozDstBw an den Bundeswehr-Dienstleistungszentren erfolgen. Hier könnten in den einzelnen Servicebereichen des SozDstBw Kompetenzzentren für MFB errichtet werden. Diese stellen eine Form der organisatorischen Bündelung von personellem Know-How und Fachwissen dar. Zu den Aufgaben der Kompetenzzentren könnten gehören:
- Weiterentwicklung themenbezogener Expertise für MFB für die bundesweite Fachpraxis,
- Informationsveranstaltungen für die Truppe bzw. ziviles Personal zu diversen psychosozialen Themen und den Einsatzmöglichkeiten von MFB usw.,
- Planung, Koordination und Durchführung regionaler MFB-Gruppen (belastete Familien, z. B. Sucht, PTBS, Partnerschaft etc.),
- Netzwerkarbeit/Vernetzung (im Servicebereich),
- Wissensmanagement und
- Unterstützung für die MFB von internen Netzwerkpartnern (z. B. Fachberatungsseminare, „Löwenstarke Familienwoche“).
Kernsätze
- Die Anzahl an Beratungen des Sozialdienstes der Bundeswehr für belastete Familien mit Problemen und Konflikten steigen seit Jahren kontinuierlich an.
- Eine Möglichkeit, um die eigenen Erfahrungen der belasteten Familien effektiv zur Symptomreduktion zu nutzen, liegt in der „Methode Multifamilienberatung (MFB)“.
- Systemische Multifamilienberatung ist eine sowohl praktisch wie auch wissenschaftlich erprobte Methode in der Arbeit mit belasteten Familien.
- Derzeit wird die MFB in einem ersten Pilotprojekt in die Bundeswehr eingeführt und vom Psychotraumazentrum (PTZ Bw) evaluiert.
- Kompetenzzentren könnten zukünftig personelles Know-How und Fachwissen in der Familienarbeit bündeln und übergreifend zeitnah anbieten.
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Manuskript Daten
Zitierweise
Giesen R, Heinrich S, Wesemann U, Langner F , Willmund G, Köhler K: Multifamilienberatung – Ein innovativer Ansatz in der Arbeit mit belasteten Familien in der Bundeswehr. WMM 2023; 67(9): 381-387.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-194
Für die Verfasser
Regierungsrat René Giesen
Bundesamt für das Personalmanagement der Bundewehr
Sachgebiet VII 1.4 – Sozialarbeit
Alter Heerstraße 81, 53757 Sankt Augustin
E-Mail: renegiesen@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Giesen R, Heinrich S, Wesemann U, Langner F, Willmund G, Köhler K: [Multifamily Therapy – an Innovative Approach for the Work with Highly Stressed Families in the Bundeswehr.] WMM 2023; 67(9): 381-387.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-194
For the Authors
René Giesen
Bundeswehr Office for Personnel Management
Section VII 1.4 – Socialwork
Alte Heerstraße 81, D-53757 Sankt Augustin
E-Mail: renegiesen@bundeswehr.org