DER HÖRGESCHÄDIGTE PATIENT
Untersuchung der Barrierefreiheit für hörgeschädigte stationäre Patienten in einem Krankenhaus der Schwerpunktversorgung1
Lydia Günthera
1 Die vollständige Arbeit, die als Bachelor-Thesis der Autorin in der Fakultät Gesundheits- und Pflegewissenschaften der Westsächsischen Hochschule Zwickau (Erstgutachter: Prof. Dr. med. habil Jörg Klewer, Professur für Pflegewissenschaften) erstellt wurde, steht einschließlich Transkripten von Interviews mit Patienten, medizinischem Personal und GSD beim E-Paper dieser Ausgabe zum Download zur Verfügung.
a Westfälische Hochschule Zwickau – Fakultät Gesundheits- und Pflegewissenschaften
Blindheit trennt von den Dingen,
Taubheit von den Menschen!
Immanuel Kant (1724–1804)
Einleitung
Der weitaus überwiegende Teil der menschlichen Kommunikation erfolgt über Sprechen und Hören. Der Verlust oder die starke Einschränkung des Hörvermögens bedeutet für den Betroffenen eine hochgradige Behinderung. Die Inklusion Behinderter ist Staatsziel und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Behinderte Menschen haben das Recht auf einen barrierefreien Zugang zu allen gesellschaftlichen Bereichen, und dazu zählt auch die Gesundheitsversorgung.
Die sowieso nicht einfache Situation Hörgeschädigter (HörGe) wurde durch die Maskenpflicht im Rahmen der SARS-CoV-2-Pandemie dramatisch verschärft, da für das Verstehen von Gebärdensprache ein Mindestmaß an Mundbild unbedingt erforderlich ist. Die Inklusionsziele für HörGe waren damit noch schwerer zu erreichen. Oftmals wurde auch einfach nicht an diese Gruppe gedacht, denn sonst wären sicher keine Informationsvideos zu COVID-19 ohne eingeblendeten Gebärdensprachdolmetscher erstellt worden, was aber geschah.
Bei der Patientenbehandlung ist die verbale Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Patient ein ganz wesentlicher Faktor. Was ist aber, wenn diese Kommunikation nicht möglich ist, weil der Patient gehörlos oder nahezu gehörlos ist? Wie gehen beide Seiten damit um? Wie kann verhindert werden, dass es zu möglicherweise gefährlichen Situationen kommt, weil Anweisungen oder Fragen nicht verstanden werden?
Ziel- und Fragestellung
Ziel der Arbeit war, die Erfahrungen der gehörlosen und schwerhörigen Menschen und als deren Sprachrohr der Gebärdensprachdolmetscher (GSD) mit den Maßnahmen zur Barrierefreiheit in einem Krankenhaus der Schwerpunktversorgung zu erfassen und exemplarisch auf Praxistauglichkeit und Umsetzbarkeit zu überprüfen. Die Untersuchungen erfolgten im Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Ulm.
Theoretischer Hintergrund
Begriffsdefinition
Gehörlosigkeit besteht, wenn ein Mensch bei Frequenzen bis 250 Hz erst ab 60 dB und im übrigen Frequenzbereich ab 100 dB akustische Signale aufnimmt. Hochgradig Schwerhörige haben einen mittleren Hörverlust zwischen 60 dB und 70 dB. Bei Resthörigkeit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit beträgt der Hörverlust zwischen 85 dB und 100 dB. Mittelgradig Schwerhörige zeigen einen Hörverlust von 20–70 dB. Ein Hörverlust von 25–40 dB wird als leichtgradige Schwerhörigkeit bezeichnet; Sprache kann hier aufgenommen und verstanden werden.
Abb. 1: Begriffsbestimmung „Hörgeschädigte“ (leichtgradig Schwerhörige sind ausgeschlossen)
Inklusion und Gesundheitsversorgung
Deutschland hat 2009 die UN-Behindertenrechts-Konvention (BRK) ratifiziert und damit zu deutschem Recht gemacht. Die BRK hat zum Ziel, Menschen mit Behinderung ein Höchstmaß an Unabhängigkeit und Teilhabe zu gewährleisten. Dies gilt auch für den Zugang zu allen Bereichen der Gesundheitsversorgung.
Grundsätzlich haben HörGe einen Anspruch darauf, dass ihnen im Rahmen der medizinischen Betreuung ein GSD zur Verfügung gestellt wird. Dieses gilt auch für das Erreichen der Barrierefreiheit bei stationärer Krankenhausbehandlung. Die Kosten hierfür trägt die Krankenversicherung. Das allein reicht allerdings nicht aus, die Infrastruktur muss entsprechend geeignet sein und das Krankenhauspersonal muss wissen, wie es mit hörgeschädigten Patienten umgeht.
Kommunikation mit Hörgeschädigten
Erfolgreiche Kommunikation bedarf eines einheitlichen Sprachsystems. Das Gesagte muss beim Zuhörer (=Empfänger) dieselbe Botschaft (=Nachricht) enthalten, wie sie vom Sprecher (=Sender) gesagt wird. Das Arzt- Patienten-Gespräch ist das wichtigste diagnostische Instrument, mit dessen Hilfe bis zu 90 % aller Diagnosen korrekt gestellt werden können. Bei der Kommunikation mit Patienten aus einem anderen Sprach- und Kulturkreis kann ein Dolmetscher hinzugezogen werden. Bei Gehörlosen muss diese Kommunikation nonverbal, z. B. durch Bildkarten oder über einen GSD erfolgen – eine besondere Herausforderung, wenn der HörGe auch noch eine andere Sprache spricht.
Methoden
Methodik
Es wurde ein Methoden-Mix von teilstandardisierten Fragebögen (jeweils für GSD und GL), die Möglichkeit zur differenzierten Beschreibung des Erlebten boten, und offener passiver teilnehmender Beobachtung eingesetzt. Nach Auswertung wurde ein Handbuch zum Thema erstellt, welches anschließend im Open Peer Review fortgeschrieben und verbessert werden kann.
Eine geplante Dokumentenanalyse (Bewertungen des Krankenhauses in Social Media in Bezug auf Barrierefreiheit für GL) konnte mangels entsprechender Einträge nicht erfolgen.
Ergebnisse und Diskussion
Im Folgenden werden einige ausgewählte Ergebnisse vorgestellt.
Kostenübernahme
Das Problem der Kostenübernahme für einen GSD beschäftigte einige GL. Durch die Neuregelung im Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG) vom 1. Januar 2020 sind die Kosten durch den Krankenversicherungsträger zu übernehmen. Insofern wird diese Unsicherheit für die Betroffenen zukünftig nicht mehr bestehen.
Dolmetscherbestellung
Die Bestellung eines GSD erfolgte meist über die Patienten selbst (Vertrauensverhältnis im Rahmen der medizinischen Behandlung). Probleme bereiteten die mangelnde Anzahl und Verfügbarkeit von GSD, insbesondere bei Verschiebung/Verzögerung von Behandlungsterminen. Dabei geht es nicht um die dauerhafte Anwesenheit eines GSD, sondern nur um dessen fallweise Heranziehung. Herausgestellt wurde, dass im Bereich Psychiatrie, wo Diagnostik ohne Arzt-Patienten-Gespräch völlig unmöglich ist, immer ein GSD bestellt wurde.
Tab. 1: Antworten zur Frage der GSD-Bestellung
Arzt/Pflege – Patienten – Kommunikation
Die Ergebnisse decken sich mit den Erkenntnissen aus der aktuellen Studienlage. Während Mitarbeitende (MA) des Krankenhauses ihre Kommunikationsfähigkeiten im Umgang mit GL überschätzten, fühlten sich die GL nicht wahrgenommen und zum Teil unsicher. Die wichtigsten Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt.
Tab. 2.: Antworten der GL zur Kommunikation
Der Einsatz von „Ersatzdolmetschern“, also MA der Krankenhäuser bzw. Angehörige ist für alle Beteiligten z.T. emotional belastend und ebenso wie das Ausweichen auf Schriftkommunikation fehlerträchtig. Es wurde in den Fragebögen darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit zur schriftlichen Kommunikation bei vielen Menschen eingeschränkt ist, was z. B. Aufklärungsgespräche oder Aussagen zur Krankheitsprognose sehr erschwert. Videotelefonie und Ferndolmetschen wurden mangels geeigneter IT-Infrastruktur in Ulm nicht genutzt, werden aber von einigen als potenziell geeignet und noch nicht ausreichend ausgeschöpft bewertet.
Lotsensystem
Die Idee eines Lotsen wurde von einem GL eingebracht und mit den MA diskutiert. Befragte des Hol- und Bringedienstes im BwKrhs Ulm fanden diese Aufgabe spannend und würden sich hier auch im Rahmen zeitlicher Kapazitäten gern engagieren.
Patientenaufnahme
Einige GL äußerten den Wunsch nach Aufnahme eines „GL-Vermerks“ in die digitale und analoge Patientenakte. Dieses wurde in der HNO-Klinik und im Bereich Intensivmedizin durchgeführt. Die elektive Patientenaufnahme war geübt im Umgang mit HörGe. Die stationäre Aufnahme auf der HNO-Station erfolgte bei GL mit GSD in einem ruhigen Raum ohne Unterbrechung, z. B. durch Telefon. Der erhöhte Zeitbedarf führt zu Zeitknappheit und Stressbelastung für das medizinische Personal bei anderen Tätigkeiten.
Patientenzimmer
Das Thema „Patientenzimmer“ (Aufbau, Einrichten, Verhalten des Personals) wurde in den Fragebögen sowohl von den GL als auch von den GSD angesprochen. So sei z. B. ein Anklopfen an der Tür nicht notwendig, Uhr und Kalender sollten gut einsehbar sein, Lichtquellen sollten auch in der Nacht nicht ganz ausgeschaltet werden, da dieses als beängstigend empfunden wird. Eine Kennzeichnung des Patientenbettes mit „GL“ sei hilfreich. Personal darf den Patienten berühren (Schulterklopfen o. ä.), um ihn anzusprechen. Smartphones und Tablets als einziges Kommunikationsmittel des GL sollten nicht, wie mehrfach geschehen, beim Aufräumen außer Reichweite des Patienten gelangen. Im Zimmer (z. B. bei Visiten) sollte immer nur eine Person sprechen, damit sich der GL auf das Lippenlesen konzentrieren kann.
Zusammenfassendes Fazit und Ausblick
Außenstehenden fällt es schwer, sich in die Situation Sinnesbehinderter einzufühlen. Deswegen sind Partizipation und Transparenz wichtig, um diesen Patienten mit einfachen Mitteln die Teilhabe in der stationären Krankenhausversorgung zu erleichtern.
Dem GSD, der durch die Kostenträger zu finanzieren ist, kommt eine elementare Bedeutung bei. Er fungiert als Schnittstelle in der Kommunikation von MA und HörGe. Ausführliche Aufklärung, die ohne GSD nicht möglich ist, bietet Rechtssicherheit für die Behandelnden. Aufklärungsbögen in für alle Patienten leicht verständlicher Sprache wird es in naher Zukunft nicht geben.
Ferndolmetschen, über offizielle oder smarte Kanäle, kann eine Lösung zum GSD – Einsatz im Krankenhaus sein. Für das Ferndolmetschen wird IT – Infrastruktur benötigt.
Als Lotsen für Sinnesgeschädigte im Krankenhaus können Hol- und Bringedienste eingesetzt werden. Dies bedarf der Aus- und Weiterbildung des eingesetzten Personals.
Gemeinsam mit dem Krankenhauspersonal wurde ein Handbuch zum Umgang mit HörGe mit Textbausteinen und Darstellungen erarbeitet. Dieses soll im Open Peer Review fortgeschrieben und flächendeckend zur Verfügung gestellt werden.
Forschung und Weiterentwicklung
Die Kommunikation mit stark hörgeschädigten Patienten, besonders bei akuten Hörverlusten (z. B. nach Explosionstrauma), stellt die Behandelnden vor eine besondere Herausforderung, da die Betroffenen in aller Regel die Gebärdensprache nicht beherrschen. Hier könnte zukünftig eine visuelle Kommunikation mit grafischen Darstellungen, z. B. mittels einer App auf einem mobilen Endgerät Abhilfe schaffen, die auch in der Klinik als Ergänzung zum GSD durch das medizinische Personal genutzt werden kann. Entsprechende Forschungsarbeiten erfolgen zurzeit an der Westsächsischen Hochschule Zwickau.
Die vollständige Bachelor-Thesis steht hier zum Download zur Verfügung.
Verfasserin
Hauptfeldwebel d. R. Lydia Günther, B. Sc.
Westsächsische Hochschule Zwickau
Studiengang Gesundheitsmanagement
Kornmarkt 1, 08056 Zwickau
E-Mail: lydia.guenther.hnd@fh-zwickau.de