Editorial
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
ich freue mich, dass ich Ihnen mit diesem Schwerpunktheft „HNO“ der Wehrmedizinischen Monatsschrift neben einer Reihe von Beiträgen aus Klinik und Praxis die noch relativ junge Fachdisziplin Phoniatrie und Pädaudiologie vorstellen kann, die sich in den letzten Jahren auch im Sanitätsdienst der Bundeswehr etabliert hat. Die Weiterbildung ausgewählter Sanitätsstabsoffiziere auf diesem Gebiet wurde von der Konsiliargruppe „HNO“ 2013 empfohlen und bisher in 3 Bundeswehrkrankenhäusern realisiert.
Als Beispiele für Erkrankungen aus diesem Fachgebiet stellt MARSIAN aus Hamburg den Globus Pharyngis und die Dysphagie vor – zwei Symptomenkomplexe, die in der truppenärztlichen Sprechstunde regelmäßig vorkommen. HOFER aus Ulm befasst sich mit Stimmstörungen und zeigt auf, welche diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten die Phoniatrie zur Verfügung stellen kann. SCHMIDT aus Koblenz stellt die Entwicklung des Fachgebiets vor und beschreibt in einem weiteren Beitrag das Problemfeld der Höranstrengung in schwierigen Hörsituationen bei bestehenden Hörstörungen – ein Thema, welches mit zunehmender Multinationalität in Einsätzen für Soldatinnen und Soldaten eine erhebliche Bedeutung hat. Sprechen, Hören und Verstehen sind elementare Grundfähigkeiten, die für jede militärische Verwendung unverzichtbar sind. Und genau hier kann die Phoniatrie und Pädaudiologie im interdisziplinären Verbund wertvolle Hilfe leisten.
Aus der „klassischen“ HNO-Heilkunde wird eine breite fachliche Palette vorgestellt. LORENZ und SCHMIDT aus Koblenz beschreiben die Bedeutung der Kopf- und Hals-Chirurgie bei der Erst- und Folgeversorgung komplexer Kopf-Hals-Traumata. Aus ihrem Beitrag wird klar, dass die Folgeversorgung derartiger Verletzungen nur in hochspezialisierten Zentren erfolgreich durchgeführt werden kann. Die Tumorchirurgie trägt hier dazu bei, dass die fachlichen Fähigkeiten für die komplexe Traumaversorgung erworben und erhalten werden können, wie ein Beitrag von EVERS et al. aus Ulm zeigt.
Tinnitus und Hörsturz sind Erkrankungen des Innenohrs, die massive Auswirkungen sowohl auf die Dienstfähigkeit von Soldatinnen und Soldaten und vor allem auf deren Lebensqualität haben. MÜHLMEIER aus Ulm diskutiert die Möglichkeiten der intratympanalen Therapie bei diesen Erkrankungen. Aus der Klinik stellen HAGMANN et al. aus Berlin den außergewöhnlichen Verlauf einer infektiösen Mononukleose vor, bei der es zu einer komplexen Thrombose der linksseitigen Halsvenen kam. FÖRSTER et al., ebenfalls aus Berlin, zeigen auf, wie durch den Einsatz von Biologika eine polypöse chronische Sinusitis möglicherweise in Zukunft ohne operativen Eingriff behandelt werden kann. Zuletzt beschreibt GÜNTHER aus der Westsächsischen Hochschule Zwickau, was bei der Behandlung hörgeschädigter Patienten in der Klinik zu bedenken ist – ein wesentlicher Aspekt vor dem Hintergrund der Versorgung von Explosionsopfern, die häufig in den ersten Tagen nach ihrer Verletzung nahezu völlig ertaubt sind.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Studium dieser Ausgabe der WMM.
Flottenarzt Dr. Herbert Eichwald
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Leiter der Konsiliargruppe HNO-Heilkunde
DAS GESCHENKTE GESICHT
Bedeutung der Kopf-Hals-Chirurgie bei der Erst- und Folgeversorgung von (einsatzbedingten) Kopf-Hals-Traumata
The role of head and neck surgery in initial and further care of (mission related) head and neck trauma
Kai J. Lorenza, Sandra Schmidta
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik für Hals-Nasen-OhrenHeilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie und Kommunikationsstörungen
Zusammenfassung
Mit der Weiterentwicklung der Schutzausrüstung von Soldaten (body armament, wirkungsvolle Schutzhelme) kam es zu einem deutlichen Anstieg überlebter Verletzungen der ungeschützten Extremitäten und des Kopf-Hals-Bereiches. Neben direkten Schussverletzungen führen Splitter aus Explosivmunition (Bomben, Granaten, Minen) und aus Sprengfallen hierbei zu schweren Traumata mit teilweise erheblichen Gewebeverlusten.
Bei der Erstversorgung entscheiden Sicherung der Atemwege und Blutstillung über das Überleben des Betroffenen. Die Sekundär- und Tertiärversorgung erfordert konsekutiv hohe multidisziplinäre Expertise, wie sie nur spezialisierten Kopfzentren zur Verfügung steht. Es gilt hierbei, neben der Wiederherstellung der Funktion auch die bestmögliche ästhetische Rekonstruktion des Kopfbereiches zu erreichen.
In diesem Beitrag werden die Aspekte der Erst- und Folgeversorgung einsatzbedingter Verletzungen im Kopf- und Halsbereich erörtert und die Möglichkeiten der epithetischen Versorgung von Gewebedefekten vorgestellt.
Schlüsselwörter: Kopfverletzung, Gesichtsverletzung, Explosionstrauma, Splitterverletzung, Ästhetik, Kopfzentrum, Epithese
Summary
The improvement of protective devices for Soldiers (body armament, helmets) lead to a significant increase of casualties with survivable injuries of extremities and the unprotected head and neck area. Injuries result from direct gunshot wounds as well as from explosive ammunition (bombs, grenades, mines) and from IED, often leading to extensive tissue loss.
In initial treatment, securing the airway and stopping bleeding are decisive for the victims survival. Further treatment, reconstructive surgery and rehabilitation require high level multidisciplinary expertise, only available in specialized head centers. Restoring of function is one goal of treatment, but achieving the best possible aesthetic reconstruction is of the same importance for the patient´s further life.
In this paper the aspects of initial and subsequent treatment of mission related head- and neck injuries are discussed and methods of epithetic replacement of tissue loss are described.
Keywords: head injury, facial injury, blast trauma, splinter injury, aesthetics, head center, epithesis
Einleitung
Die verbesserte Schutzausrüstung (v. a. splitter- und kugelsichere Westen) für Soldaten im Einsatz reduzierte die Inzidenz von Verletzungen im Brust- und Bauchbereich im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen. Ungeschützte Körperregionen hingegen, wie z. B. die Gliedmaßen und insbesondere auch Kopf und Hals, sind durch Geschosse sowie Splitter aus Explosivmunition und Sprengfallen nach wie vor gefährdet.
Inzidenz
Dies führte zu einer Zunahme der zur Behandlung kommenden Verletzungen im Kopf-Halsbereich von 16 % (2. Weltkrieg) auf durchschnittlich 20–50 % (Irak, Afghanistan) aller Fälle. Eine Analyse des Datenmaterials des US-Navy-Marine-Korps ergab, dass 39 % aller während der Operation Iraqi-Freedom-II (2003) im Einsatz verwundeten Soldaten Verletzungen im Bereich von Kopf, Hals und Gesicht aufwiesen [17]. Noch nicht veröffentlichte Daten aus dem Krieg in der Ukraine (2022) gehen davon aus, dass isolierte Kopf-Halsverletzungen in ca. 45–50 % in Kombination mit Extremitäten- und/oder Thorax- und Abdominalverletzungen bei ca. 60 % liegen.
Komplexe Versorgung
Die Versorgung von schweren Verletzungen des Kopf-Hals-Bereiches ist komplex und nur multidisziplinär möglich. Der Weg bis zum Erreichen des bestmöglichen Rehabilitationsergebnisses ist oft lang und fordert Geduld von Seiten des Patienten wie auch der Behandler.
Dieser Beitrag soll einen Eindruck von den heutigen Möglichkeiten der Behandlung schwerer und schwerster Verletzungen einer Körperregion vermitteln, die nicht nur in Bezug auf die Vitalfunktionen, sondern vor allem auch für das gesamte psychosoziale Umfeld des Betroffenen herausragende Bedeutung hat.
Verletzungsarten und -ursachen, Prognose
Verletzungsursachen
Einsatzbedingte Verwundungen im Kopf-/Halsbereich entstehen durch Schuss- und Splitterverletzungen oder durch die Einwirkung von Sprengkörpern. Bei Schussverletzungen handelt es sich meist um rein penetrierende Verletzungen mit umschriebenem Ein- und Ausschuss sowie – bei Zerlegung der Geschosse an Knochenfragmenten – um zusätzliche Splitterverletzungen im Weichteilkompartiment mit Zerstörung umliegender Strukturen.
Splitterverletzungen entstehen durch die Penetration des Gewebes durch i.d. R. Metallteile aus Explosivmunition, aber auch Glasstücke (z. B. aus Sprengfallen) oder eingesprengtes anderes Material (Steine, Holz, Kunststoff) können vorkommen.
Sprengverletzungen sind in der Regel eine Kombination aus einer Druckverletzung (blast injury), multiplen penetrierenden Verletzungen sowie Verbrennungen [1][2][3][4][5][6].
Lokalisation
Der Gesichtsbereich lässt sich unter traumatologischen Gesichtspunkten in 3 Regionen unterteilen [3][4][5]:
A: obere Gesichtsregion (Orbita und nasoethmoidaler Komplex),
B: mittlere Gesichtsregion (Jochbein, Maxilla, untere Nasenabschnitte) und
C: untere Gesichtsregion (Mandibula und Zunge).
Der Halsbereich wird ebenfalls in drei Regionen unterteilt [12]:
Zone I (Schlüsselbein / Jugulum bis Ringknorpel)
Zone II (Ringknorpel bis Kieferwinkel)
Zone III (Kieferwinkel bis Schädelbasis)
Im Halsbereich spielt die Einteilung prognostisch eine bedeutende Rolle, da meist nur Verletzungen der Zone II suffizient behandelt werden können. Verletzungen in den Zonen I und/oder III nehmen auf Grund der schwierigen chirurgischen Explorierbarkeit und den beteiligten Gefäßstrukturen häufig einen letalen Verlauf.
Verletzungsmuster
Penetrierende Verletzungen führen infolge massiver Blutungen und einer Verlegung der Atemwege häufig rasch zu einer vitalen Bedrohung. In Abhängigkeit von der jeweiligen Gewalteinwirkung kann eine Schädigung zahlreicher relevanter Weichteil- und Knochenstrukturen mit konsekutiven funktionellen und ästhetischen Defiziten resultieren
Verletzungsmuster in der Kopf-/Halsregion können zahlreiche weitere Folgen haben. Hierzu zählen:
- intrakranielle Blutungen,
- Hirnschwellungen und Verletzung des Neurokraniums mit multiplen intrakraniellen Metall- und Knochenfragmenten,
- zervikale und Gesichtsgefäßverletzungen,
- Weichteilverletzungen,
- pharyngo-laryngeale Verletzungen,
- akute Verlegungen der Atemwege,
- Hautverbrennungen, ausgedehnte Skalp-Lazerationen und
- teilweise extensive Schädelbasisfrakturen.
Prognose
Die Prognose der verwundeten Soldaten im Hinblick auf das Überleben wird neben der Kompromittierung der Atemwegsituation vor allen Dingen durch den Blutverlust bestimmt. So gehört bei schwerwiegenden Kopf-/Halsverletzungen neben der Sicherung der Atemwege die Blutungskontrolle zu den Maßnahmen, die letztendlich entscheiden, ob der Patient einer Sekundärversorgung zugeführt werden kann.
In Bezug auf die anzustrebende Wiederherstellung derart Verwundeter werden relativ früh Weichen gestellt. Die Weiterversorgung sollte in der Regel in einem Role-3-Hospital durch ein Kopf-Hals-Trauma-Team – im günstigen Fall bestehend aus HNO-Chirurg, Neurochirurg, Augenarzt und MKG-Chirurgen oder Oralchirurgen – erfolgen.
Primärversorgung unter Gefechtsbedingungen
Bei penetrierenden Verletzungen im Kopf-Halsbereich durch Waffeneinwirkungen können sowohl offene arterielle Blutungen auftreten als auch gedeckte arterielle Verletzungen, die in Körperkompartimente einbluten. Weiterhin finden sich häufig massive venöse Blutungen sowie diffuse Blutungen aus flächig-lazeriertem Gewebe. Da die Prognose des Verwundeten sowohl durch die blutverlustbedingte Hypovolämie als auch durch die Atemsituation bestimmt wird, ist ein schnelles und adäquates Handeln notwendig. Analysen der internationalen Literatur zur Hypovolämie im Gefechtsfeld zeigen, dass Verwundete, die bereits exsanguiniert in die erstversorgenden Sanitätseinrichtungen kommen, eine deutlich schlechtere Prognose haben, zumal die Ressourcen an Blutkonserven im Einsatz beschränkt sind [1][8][10].
Ähnliche Überlegungen müssen in Hinblick auf die Gefahrenlagen durch terroristische Anschläge für die Bevölkerung im Inland auch für zivile medizinische Versorgungseinrichtungen gemacht werden und in die Notfall- und Katastrophenpläne für alle Krankenhäuser einfließen.
Während die Sicherung der Atemwege entweder durch die tracheale Intubation mit geblocktem Tubus zur Aspirationsprophylaxe oder aber eine Notfall-Koniotomie erfolgt, ist die Blutungskontrolle aufgrund der teilweise unübersichtlichen und engen anatomischen Gegebenheiten in der Kopf-/Halsregion deutlich diffiziler. Insbesondere die Blutstillung im Bereich des Gesichtsschädels ist auf Grund der unmittelbaren Nähe zum Atemweg von besonderer Brisanz [4][7][11].
Abb. 1: Möglichkeiten der Blutstillung bei ausgeprägter Epistaxis durch Tuben mit unterschiedlich großen Ballonen zur Kompression
Eine nasotracheale Intubation verbietet sich bei Verletzungen der mittleren und oberen Gesichtsregion. In diesen Fällen ist das Risiko einer Frontobasisverletzung durch die Intubation erhöht.
Bei unübersichtlichen pharyngo-laryngealen Verhältnissen sollte der Patient nicht durch frustrane Intubationsversuche gefährdet, sondern einer Koniotomie der Vorzug eingeräumt werden [9][10].
Abb. 2: Hiebverletzung des Gesichts (A) bei Aufnahme, unmittelbar präoperativ (B) und nach Rekonstruktion (C) als Beispiel einer mäßig schweren Gesichtsverletzung
Folgeversorgung von Kopf-Hals-Verletzungen
Während die Versorgung von Schnitt- und Stichverletzungen im Gesichtsbereich in der Regel weitgehend unproblematisch ist, sind Schuss- und Explosionsverletzungen meist eine Herausforderung. Das Ausmaß des Traumas wird von verschiedenen Faktoren, wie der verwendeten Waffe, der Schussdistanz, der Rasanz und den Eigenschaften des Geschosses (Gewicht, Form, Fragmentation, Flugbahn) sowie dem Gewebewiderstand (Knochen bzw. Weichteilgewebe) beeinflusst. Häufig liegen Kombinationsverletzungen mit Beteiligung mehrerer Körperkompartimente und penetrierenden sowie thermischen Traumata vor [1–7][9–11][14][17][18].
Grundsätzlich gilt, dass eine frühzeitige umfassende und definitive chirurgische Therapie eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes funktionelles und ästhetisches Ergebnis und eine möglichst geringe Morbidität ist. Dieses Ziel lässt sich am besten durch eine interdisziplinäre Kooperation zwischen Augenärzten, HNO-Chirurgen, Mund-, Kiefer- und Gesichts-(MKG-)Chirurgen, Neurochirurgen und ggf. Gefäßchirurgen innerhalb eines Kopf- und/oder Traumazentrums realisieren. Betroffene Patienten sollten nach der Akutversorgung nach Möglichkeit in eine derartige Einrichtung verlegt werden.
Therapieschritte
Im Idealfall erfolgt die Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen im Gesichtsbereich in 3 konsekutiven Schritten [2][4][5][11][16],
Die Maßnahmen orientieren sich dabei an der medizinischen Ausstattung vor Ort, dem Zustand des Patienten und der Erfahrung und den Fähigkeiten der behandelnden Chirurgen. Die Versorgung von stark blutenden Kopf-/Halsverletzungen im Einsatzlazarett verlangt vom ärztlichen Personal häufig die Abwägung einer schnellen suffizienten Beherrschung der Blutung gegenüber einem möglicherweise nicht revidierbaren Funktionsverlust.
Schritt 1
Als erster Schritt sollte eine sorgfältige Reinigung mit vorsichtigem Debridement der Wunde erfolgen. Wenn möglich, erfolgt ein primärer spannungsfreier Verschluss von Haut- und Schleimhautläsionen. Hierbei ist darauf zu achten, dass durch diese Maßnahmen keine Nachteile für die definitive Rekonstruktion resultieren. Besondere Aufmerksamkeit muss Weichteilverletzungen im Bereich der Lider, der Nase und der Ohrmuschel gewidmet werden, zumal eine insuffiziente Primärversorgung zu dysfigurierenden, sekundär nur schwer zu korrigierenden ästhetischen und funktionellen Defiziten führen kann.
Das Debridement von Knochen- und Weichteilen sollte in derartigen Fällen äußerst zurückhaltend erfolgen. Bei Weichteilverletzungen im Gesichtsbereich bedarf es keines Debridements. Die Durchblutungsverhältnisse erlauben hier, auch scheinbar nicht mehr durchblutete Gewebsfetzen zu erhalten. Vielmehr erfolgt eine gewebserhaltende, subtile Nahtversorgung auch von zerrissenen oder gequetschten Hautarealen. Dies gilt v. a. für die periorbitale Region, wo Defekte sekundär nur sehr schwierig oder funktionell unbefriedigend rekonstruiert werden können. Die Versorgung erfolgt dabei von „innen nach außen“. Bei perforierenden Verletzungen der Wange, der Lippe, oder des Vestibulum nasi wird ein dreischichtiger Verschluss durchgeführt. Primär muss eine sorgfältige Entfernung von Fremdkörpern erfolgen, zumal eine sekundäre Entfernung meist sehr schwierig oder gar unmöglich ist [14].
Schritt 2:
Frakturen sollten stabilisiert werden. Dies kann primär z. B. durch eine intermaxilläre Schienung (IMF) erfolgen. Wenn die Voraussetzungen gegeben sind, kann auch sofort eine osteosynthetische Versorgung durchgeführt werden.
In Einsatzländern wie Afghanistan oder bei einem Massenanfall von Schwerverletzten im Inland kann sich eine zeitgerechte Versorgung bei ausgedehnten Verletzungen mit relevanten Substanzdefekten schwierig gestalten. In diesen Fällen bietet sich nach der Akutversorgung ein temporärer Wundverschluss durch eine Vakuumversiegelung [6] an, um das Risiko von Wundheilungsstörungen zu verringern.
Frakturen durch Geschosse mit niedriger Rasanz führen nicht immer zu Substanzverlusten. Traumen durch Hochrasanzgeschosse hingegen gehen regelmäßig mit einer Zersplitterung von Mittelgesichts- und Unterkieferknochen und relevanten Weichteil- und Knochendefekten einher. Eine wichtige Voraussetzung für den Therapieerfolg ist dabei ein intakter und ausreichend vaskularisierter Weichteilmantel [9][12][15]. Dieser muss ggf. im Intervall (auf der Ebene Role 3 oder Role 4) rekonstruiert werden.
Die Zeitspanne für eine definitive Versorgung von Schussfrakturen im Gesichtsbereich wird kontrovers diskutiert. Bislang wurde ein frühzeitiges Vorgehen, möglichst innerhalb von 48 h nach der Primärversorgung empfohlen [16], um das Infektionsrisiko niedrig zu halten. Aktuell wird darauf hingewiesen, dass durch die routinemäßige Antibiotikaprophylaxe das Infektionsrisiko gesenkt und das therapeutische Fenster auf bis zu 2 Wochen erweitert werden kann [13]. Polytraumatisierte Patienten können so besser stabilisiert werden. Weiterhin erleichtert die zwischenzeitliche Rückbildung ödematöser Schwellungen im Gesichtsbereich die Frakturversorgung.
Schritt 3:
Wichtige Voraussetzung eines unkomplizierten Heilungsverlaufs ist eine zeitgleiche Rekonstruktion des Weichteilmantels. Hierbei sollten nach Möglichkeit lokale Rotations- bzw. Verschiebelappen, mit denen sich die günstigsten ästhetischen Ergebnisse erzielen lassen, Verwendung finden [16]. Bei ausgedehnten Weichteilverlusten kann eine Rekonstruktion mit gefäßgestielten oder freien Lappentransplantaten erforderlich werden.
Epithetische Versorgung nach Gesichtstraumata
Insbesondere bei ausgedehnten Gewebsverlusten stößt die plastisch-rekonstruktive Chirurgie an Grenzen. Unter dem Aspekt einer suffizienten ästhetischen Versorgung bieten sich hier Mittelgesichts-, wie auch Ohr- oder Nasenepithesen an. Auch bei durchgreifenden Defekten und Verlust von Knochensubstanz im Gaumenbereich kann in Kombination mit einer Obturatorversorgung ebenfalls eine funktionelle Wiederherstellung erfolgen. Die Planung der Versorgung erfolgt ebenso wie das Setzen der Knochenanker für eine Epithese im Rahmen der Tertiärversorgung im Heimatland.
Auch wenn es sich meist um junge und nicht – wie bei meist älteren Tumorerkrankten – bestrahlte Patienten mit entsprechender Narbenbildung handelt, muss der Weichteilsituation aufgrund oft ausgedehnter Vernarbung, möglicher zusätzlicher Schädigung durch thermische Einwirkung genauso wie möglichen knöchernen Problemsituationen Rechnung getragen werden. Die enge Kooperation zwischen Experten aus Chirurgie und Epithetik ist hier von herausragender Bedeutung.
Abb. 3: Z. n. traumatischer Skalpierungsverletzung mit Ohrmuschelabriss und Weichteilverlust: Rehabilitation mit Verschiebelappenplastik nach Expanderbehandlung und Ohrepithese mit Eigenhaar
Abb. 4: Z. n. Amputation der Nase: Rehabilitation durch Knochenanker und Nasenepithese
Besonderheit: Tracheoösophageale Fisteln
Die Behandlung pharyngo-trachealer und ösophago-trachealer Fisteln ist eine außerordentliche Herausforderung. Fisteln können als Komplikation nach Laryngektomie, nach Radio(chemo)therapie, als Erweiterung einer angelegten Stimmfistel, als OP-Komplikation oder als Folge einer penetrierenden Halsverletzung auftreten. Verschiedene Techniken durch lokale Plastiken oder gestielte oder freie Fernlappen zum Verschluss derartiger Fisteln wurden beschrieben. Trotz zahlreicher vielversprechender operativer Ansätze bleibt die Rezidivhäufigkeit weiterhin hoch – insbesondere nach stattgehabter Radiotherapie [8].
Standardversorgung oft unzureichend
Konfektionierte Silicon Stents (Salvary Bypass T-Tubes) können zwar über einen längeren Zeitraum eingesetzt werden, ihr wesentlicher Nachteil ist jedoch die meist nicht komplette Abdichtung der Fistel mit weiterhin persistierender Aspirationssymptomatik. Da eine fortgesetzte Silent-Aspiration nicht nur die Lebensqualität des Patienten massiv einschränkt, sondern auch mit einem erheblichen Risiko für Pneumonien verbunden ist, muss bei jeder tracheoösophagealen Fistel für einen Schutz der tieferen Atemwege gesorgt werden. Dieser wird in der Regel durch die Verwendung einer geblockten Trachealkanüle erreicht, die dauerhaft getragen werden muss. Nachteilig daran ist, dass zum einen oberhalb des Cuffs aufgestauter Speichel ungehindert aus dem Tracheostoma abfließen kann, was einerseits eine Mazeration des Gewebes um das Tracheostoma bewirkt, andererseits den Patienten erheblich sozial stigmatisiert. Weiterhin kann durch den permanenten Druck des Kanülencuffs die tracheoösophageale Fistel erweitert werden oder eine zweite Fistel als Folge einer Drucknekrose entstehen. Die orale Kostaufnahme ist zwar theoretisch möglich, wird jedoch wegen der beschriebenen Problematik meist komplett aufgegeben. Die Ernährung kann langfristig nur über eine PEG-Sonde erfolgen. Somit ist auch eine Stimmrehabilitation mittels Ruktus oder Stimmprothese nicht möglich.
Individuelle Fistelepithese als Alternative
Durch den Einsatz einer individuell angepassten Fistelepithese besteht die Möglichkeit einer suffizienten Abdichtung auch größerer tracheoösophagealer Fisteln, eines ausreichenden Schutzes vor Aspirationen sowie zur zumindest teilweisen Gewährleistung einer oralen Kostaufnahme. Die Lebensqualität der betroffenen Patienten kann durch diese Maßnahmen erheblich gesteigert werden.
Eine notwendige Voraussetzung für eine suffiziente epithetische Versorgung ist die genaue Erfassung der anatomischen Situation in Bezug auf Größe und Lage der Fistel sowie der angrenzenden Strukturen (Trachea, Tracheostoma, Neopharynx, Ösophagus). Idealerweise wird hierzu ein Silikonabguss dieser Strukturen gewonnen.
Vorteil dieser Methode ist, dass durch das Einbringen des Abformmaterials auch kollabierte Strukturen wie der Neopharynx und die Speiseröhre anatomisch korrekt wiedergegeben werden können, was bei der Verwendungbildgebender Verfahren in Schnittbildtechnik (z. B. Computertomografie) nicht vollständig gewährleistet ist.
Die Abformung für die Fistelepithese sollte in der Regel in Allgemeinnarkose erfolgen. In gleicher Sitzung kann starr oder flexibel-endoskopisch eine optische Einschätzung der anatomischen Gegebenheiten vorgenommen werden. In Zusammenschau mit dem gewonnenen Abdruck können Epithetiker und Arzt gemeinsam die Planung der Fistelepithese vornehmen.
In Abhängigkeit von der Geometrie der Epithese und den anatomischen Gegebenheiten, dem Geschick des HNO-Chirurgen und der Compliance des Patienten kann die Eingliederung der Epithese ggf. auch in örtlicher Betäubung ohne Allgemeinnarkose erfolgen.
Ziel einer optimalen epithetischen Fistelversorgung ist eine komplette Abdichtung der tracheoösophagealen Fistel mit Verbesserung der Lebensqualität unter den Aspekten Aspirationsschutz, orale Kostaufnahme und Stimmrehabilitation. Es muss jedoch beachtet werden, dass sich die Fistel vergrößern kann, wenn zu viel Druck auf das perifistuläre Gewebe ausgeübt wird. Je exakter die Epithese gefertigt wurde und je genauer sie den anatomischen Vorgaben entspricht, desto besser ist ihr Sitz und umso geringer ist die Gefahr einer epitheseninduzierten Fistelerweiterung. Die Nachbetreuung des Patienten erfolgt idealerweise interdisziplinär durch den HNO-Arzt, den Facharzt für Phoniatrie und Pädaudiologie und den Epithetiker, die bereits den initialen Abdruck durchgeführt haben.
Abb. 5: (a) Schema der Epithesenabformung, (b) Abformung in situ, (c) fertige Epithese für die individuelle Versorgung von tracheoösophagealen Fisteln
Schlussfolgerung
Die Versorgung ausgedehnter Traumata des Gesichts- und Halsbereiches erfordert sowohl in der Sofort- wie auch der definitiven Versorgung und Rehabilitation ein hohes Maß an Erfahrung. Die Zahlen aus den Auseinandersetzungen im Irak und Afghanistan zeigen die zunehmende Inzidenz und Bedeutung der qualifizierten Versorgung dieser Verletzungsmuster.
Neben den Techniken der Blutungskontrolle im Kopf-Halsbereich, die wegen der engen und hochkomplexen Anatomie eine kopf-halschirurgische Expertise erfordert, ist die situationsangepasste Primärversorgung sowohl für die Prognose als auch den Erfolg der definitiven Abschlussversorgung unter Role 4-Bedingungen von herausragender Bedeutung. Die dafür notwendige Expertise lässt sich zum einen nur durch eine wehr- und katastrophenmedizinischen Ansprüchen angepasste Ausbildung erreichen. Dazu sind bereits unter Friedens- und damit Ausbildungsbedingungen ausreichend große Operationskapazitäten erforderlich.
Die Versorgung von Kopf-Halstraumata und analog dazu auch die Tumorchirurgie bieten geeignete „Modelloperationen“, bei denen die notwendigen Fähigkeiten vermittelt und gefestigt werden können. Dazu sind bereits im Inland überregionale Traumazentren mit Schwer- und Schwerstverletztenversorgung besonders geeignet.
Weiterhin kann durch spezialisierte Kopf-Hals-Trauma-Teams die Versorgung in der Role 3 optimiert werden. Für die definitive Versorgung unter Role 4-Ansprüchen ist eine Bündelung dieser Kompetenzen in Kopfzentren aus HNO, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Augenheilkunde, Neurochirurgie mit entsprechend ausgestatteter Radiologie, Neurologie und Zahnmedizin unbedingt zu fordern.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Lorenz KJ, Schmidt S: Bedeutung der Kopf-Hals-Chirurgie bei der Erst- und Folgeversorgung von (einsatzbedingten) Kopf-Hals-Traumata. WMM 2022; 66(8): 262-268.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-35
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Prof. Dr. Kai J. Lorenz
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Klinik V – Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie, Kommunikationsstörungen
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz
E-Mail: kailorenz@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Lorenz KJ, Schmidt S: [The role of head and neck surgery in initial and further care of (mission related) head and neck trauma.] WMM 2022; 66(8): 262-268.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-35
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Prof. Dr. Kai J. Lorenz
Bundeswehr Central Hospital Koblenz
Department V – Otorhinolaryngology, Head- and Neck-Surgery, Communication disorders
Rübenacher Str. 170, D-56072 Koblenz
E-Mail: kailorenz@bundeswehr.org