Der Gewalt auf der Spur?
Detektion und Dokumentation von Kriegsverbrechen
David Grasmanna
11 Der Spruch ist einer Rede Ciceros aus dem Jahr 52 v. Chr. entlehnt. Er bedeutet sinngemäß „Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze!“, womit er ausdrücken wollte, dass das normierte Recht im Kriege keine Gültigkeit habe.
a Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, Hannover
Hintergrund: Krieg als rechtsfreier Raum?
Bis weit ins 19. Jh. war oft der römische Rechtsgrundsatz „Silent enim leges inter arma!“1 handlungsleitend. Sowohl das Recht, Krieg zu führen („ius ad bellum“) als auch die Ausgestaltung der Kampfhandlung („ius in bello“) waren nicht reguliert, sondern Machtmittel nationaler, politischer oder auch persönlicher Interessen. Einschränkungen erfuhren die legitimen Kriegsmittel und Ziele militärischer Gewalt durch das Haager und das Genfer Abkommen, u.a. zurückzuführen auf die Pionierarbeit von Henry Dunant (nach Solferino), dem Gründer der Rotkreuzbewegung (ICRC). Eine erste Ächtung des Krieges auf internationaler Ebene erfolgte 1928 (Briand-Kellogg-Pakt), der Vorläufer des Artikel 2(4) der UN-Charta, der seit 1945 ein absolutes Gewaltverbot festschreibt. Adressaten des Humanitären Völkerrechts sind jedoch ausschließlich Staaten als Völkerrechtssubjekte. Schwere Verstöße von Einzelpersonen konnten damit weiterhin nicht auf internationaler Ebene verfolgt und geahndet werden.
Dieses änderte sich erst 1998 mit Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court (ICC), sogenanntes Rom-Statut). Strafrechtlich verfolgt werden Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Deutschland ist Gründungsmitglied des in Den Haag ansässigen Gerichtshofes und hat den Inhalt des Rom-Statuts auch in nationales Recht überführt (Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)). Das sogenannte Weltrechtsprinzip sorgt für weitgehende Strafverfolgungsmöglichkeiten der Bundesanwaltschaft in Deutschland. Problematisch ist allerdings, dass strafprozessuale Maßnahmen auf deutsches Hoheitsgebiet beschränkt sind. Es existiert aktuell keine gesamtstaatliche Strategie in Bezug auf Ermittlungszuständigkeiten und -möglichkeiten im Bündnisfall. Besteht damit die reale Gefahr, dass für einen Krieg im 21. Jahrhundert quasi erneut ein rechtsfreier Raum bestünde?
Abb. 1: Kriegsverbrechen (Erschießung mit gefesselten Händen) an Zivilpersonen 2022 in Butscha (UKR) durch die russischen Invasionstruppen (oben) und spätere Untersuchung exhumierter Leichen durch die ukrainische Polizei (Quelle: Wikimedia Commons, oben Ukrinform TV, unten National Police of Ukraine)
Anforderung an die Bundeswehr und den Sanitätsdienst
Eine ganzheitlich auf Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) vorbereitete Bundeswehr braucht daher zwingend auch Konzepte zum Umgang mit Kriegsverbrechen sowie den (zivilen) Opfern schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten. Dazu gehört zum Beispiel auch die Fähigkeit zur Durchführung einer qualifizierten Leichenschau. Aus fachlichen Gründen kommt hier dem Sanitätsdienst als medizinischem Key Enabler einer kriegstauglichen Bundeswehr eine zentrale Rolle zu. Neben kurativen Versorgungsstrategien bedarf es deshalb zur Auftragserfüllung auch forensisch-medizinischer Ansätze. Im Kern ist zu fordern, dass die Detektion sowie gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungsbefunden als Grundlage für eine erfolgreiche Strafverfolgung und damit Einhaltung internationaler und nationaler Vorgaben gewährleistet wird.
Eine besondere Herausforderung ist dabei der Umgang mit (über)lebenden Opfern, da
- oft eine komplexe, interdisziplinäre und ressourcenintensive Versorgung der Verletzten notwendig ist,
- keine breit publizierten Leitlinien zur klinisch-forensischen Versorgung existieren und
- kurativ tätigem Personal vielfach die Erfahrung und Fachexpertise zur forensischen Befunddokumentation fehlt.
Aktuell besteht keine ressortübergreifende Gesamtstrategie zu dem Themenkomplex. Abgesehen von den gesetzlichen Defiziten existiert außerdem aktuell noch eine Konzeptions- und damit konsekutiv auch Regelungslücke in der Bundeswehr. Hierdurch besteht die reale Gefahr der Unterversorgung von Gewaltopfern sowohl in Auslandsmissionen als vor allem auch im Rahmen von hochintensiven LV/BV-Szenarien.
Lösungsansätze
Kriminalistische Triage
Im Rahmen eines Forschungs- und Promotionsprojektes am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg (in Kooperation mit dem Innenministerium Baden-Württemberg) wurde ein rechtsmedizinisch-kriminalistisches Triage-Instrument zur Detektion von schweren Gewalt- und Sexualstraftaten in Deutschland entwickelt. Idee dabei ist, in Analogie zu den Vorsichtungsalgorithmen aus der Notfallmedizin, mittels acht einfacher, chronologisch geordneter Fragen das Gewaltopfer einer von vier Farben zuzuordnen. Dabei wird das Ziel verfolgt, beschränkte Ermittlungsressourcen bestmöglich zu verteilen und insbesondere rote, also „kritische Fälle“ aus Strafverfolgungs- und Beweismittelsicherungssicht zuverlässig als solche zu identifizieren und adäquate Folgemaßnahmen einzuleiten. Das Projekt fokussiert aktuell auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Experten aus Strafverfolgung und Rechtsmedizin, also die Anwendung der Kriminalistischen Triage in der polizeilichen Praxis.
Eine Ausweitung des Projekts auf die Anwendung in der Notfallmedizin mittels eines angepassten Scores (Forensic Violence Detection Score) ist aktuell bereits in der Planungs- und Finanzierungsphase. Eine Adaptation an die speziellen Bedürfnisse von Streitkräften bzw. eines Sanitätsdienstes im LV/BV-Szenario zur Detektion von Kriegsverbrechen mit veränderten Parametern ist dabei möglich. Vorstellbar wäre die Entwicklung eines War Crime Detection Score mit abgewandelten Einstufungskriterien und anderen, lage- und ressourcenangepassten Dokumentationsstrategien, wie sie in den Absätzen FIT und ARMED nachfolgend beschrieben werden.
Abb. 2: Darstellung der Kriminalistischen Triage (KiT) bei einem lebenden potenziellen Gewaltopfer (© D. Grassmann)
Forensic Investigation Team
Die Idee eines Forensic Investigation Team (FIT) basiert auf dem in der Bundeswehr bereits existierenden Konzept des Weapons Intelligence Teams (WIT). Die interdisziplinären Experten des WIT nehmen Feldauswertungen nach Vorfällen mit Improvised Explosive Devices (IED)/Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) am Ereignisort (Level 1) vor. Vorgaben hierzu finden sich in NATO-Dokumenten (AJP-2.5(A)) und national in der Heeres-Bereichsverfügung A2-227/0-0-2530 (Feldauswertung von Vorfällen mit behelfsmäßigen Sprengvorrichtungen durch das Weapons Intelligence Team).
Für den Bereich der Kriegsverbrechen könnte analog dazu ein FIT in Form eines interdisziplinären Expertenteams zur forensischen Dokumentation und Sicherung von Spuren bzw. Beweismitteln von potenziellen Kriegsverbrechen gebildet werden. Dieses muss befähigt sein, unter Kriegsbedingungen, also robust, eigenbeweglich und bewaffnet zu agieren.
Abb. 3: Übung/Ausbildung: Tatortarbeit durch Feldjäger (Bild: Bundeswehr/FJgRgt 3)
In einem FIT müssten folgende Expertisen vorhanden sein:
Obligatorisch
- Rechtsberater: Rechtliche Einstufung und Leitung der Ermittlungen vor Ort
- Feldjäger: Durchführung des ersten Angriffs mit gerichtsverwertbarer Beweissicherung
- Sanitätsdienst: Klinische Untersuchungen und forensische Verletzungsdokumentation
Lage- und auftragsabhängig
- ABC-Abwehr: Bei Verdacht auf Einsatz von ABC-Kampfmitteln bzw. toxischen Substanzen
- Sicherungskräfte: Sicherung des FIT und Bewertung der taktischen Lage vor Ort
- Militärische Nachrichtenwesen: Gewinnung von operationsrelevanten Informationen (Human Intelligence (HUMINT))
- Logistik: Abtransport von Asservaten, ggf. Leichen (Chain of Custody)
Forensische Telemedizin
Eine weitere Möglichkeit der Unterstützung bei der ärztlichen Leichenschau bietet die forensische Telemedizin. Hierbei könnte rechtsmedizinisches Personal mittels Datenbrille, Liveübertragung usw. vor allem bei Leichenschauen und bei klinischen Untersuchungen unterstützen.
Abb. 4: Die körperliche Untersuchung im Verdachtsfall erfolgt vor Ort mit Anwendung der Datenbrille (oben). Der Untersuchungsgang wird telemedizinisch durch eine Rechtsmedizinerin begleitet (unten). (Bilder: ©UKHD)
Seit 2023 steht mit dem Projekt ARMED am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg ein System zur telemedizinischen Beteiligung an Untersuchungen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung oder -missbrauch zur Verfügung. Damit sollen Untersuchungen vor allem in rechtsmedizinisch unterversorgten Gebieten unterstützt werden. ARMED steht für „Augmented Reality assisted, forensic Medical Evidence collection and Documentation“.
Das Angebot steht seit Juni 2023 in einigen Partnerkliniken des Instituts für Kinder und Jugendliche (auch zur vertraulichen Spurensicherung) zur Verfügung. Die Verwendung von Datenbrillen und die ständig weiterentwickelte Applikation (Sphere®) ermöglicht eine DSGVO-konforme Verbindung der Untersuchenden mit der Rechtsmedizin. Durch die Datenbrille können sowohl Anamnese als auch Untersuchung mitverfolgt und ggf. angeleitet werden, um die Beweismittelqualität zu steigern. Nach der Untersuchung erfolgt eine fachlich rechtsmedizinische Einschätzung an den Untersuchenden sowie die Abstimmung des weiteren Vorgehens. ARMED wird aktuell im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg durchgeführt und aus Landesmitteln finanziert.
Fazit/Folgerung
In einem zukünftig möglichen LV/BV-Szenario besteht die reale Gefahr, dass es auch zu Kriegsverbrechen kommt bzw. deutsche Soldaten damit konfrontiert werden. Die Fähigkeit, diese aufzuklären bzw. im Verdachtsfall gerichtsverwertbar zu ermitteln, ist derzeit in der Bundeswehr nur sehr eingeschränkt vorhanden. Die Bündelung der insgesamt existierenden Fachexpertise in unterschiedlichen Aufgaben- und Fähigkeitsbereichen – etwa auf dem Gebiet der Rechtsmedizin, derzeit nur vorhanden beim Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe mit Spezialisierung auf Flugunfälle – in Form von Forensic Investigation Teams und/oder mittels telemedizinischer forensischer Unterstützung mit externer Expertise aus Deutschland könnte ein wichtiger Beitrag zur Vermeidung eines rechtsfreien Raums sein.
Literatur
1. Grasmann D: (2022): Der Gewalt auf der Spur?: Das Potenzial einer schema-basierten Einbeziehung der Rechtsmedizin in das Ermittlungsverfahren bei Gewaltstraftaten gegen lebende Opfer. Kriminalistik 2022; 76(10): 532-537.
2. Grassberger M, Yen K, Türk E: Klinisch-forensische Medizin. Interdisziplinärer Praxisleitfaden für Ärzte, Pflegekräfte, Juristen und Betreuer von Gewaltopfern. Wiesbaden: Springer Verlag 2013.
3. Madea B: Rechtsmedizin. Befunderhebung, Rekonstruktion, Begutachtung. Wiesbaden: Springer Verlag 2024.
Weiterführende Links:
D. Grasmann: Leitfaden für besseren Opferschutz.
https://www.youtube.com/watch?v=X4pCy0JCz9U
Bundeswehr: Nachgefragt: Ermitteln Feldjäger Kriegsverbrechen?
https://www.youtube.com/watch?v=KLC-xNL56Ws&t
Universitätsklinikum Heidelberg: ARMED
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/armed
Verfasser
Hauptmann David Grasmann, M.A., M.A.
Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, Hannover
Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin Universitätsklinikum Heidelberg
E-Mail: davidgrasmann@bundeswehr.org