Ernst Ferdinand Sauerbruch – zum 150. Geburtstag eines legendären Chirurgen
Ernst Ferdinand Sauerbruch - Commemorating the 150th Birthday of a Legendary Surgeon
Zusammenfassung:
Im Beitrag anlässlich des 150. Geburtstages des bekannten deutschen Chirurgen Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) werden die wesentlichen Stationen seines Lebens und sowohl seines wissenschaftlichen als auch chirurgischen Wirkens dargestellt und gewürdigt. Eingegangen wird ferner auf seine Positionierung und Verhaltensweisen in der Zeit des Nationalsozialismus, die sehr ambivalent gewesen sind und bis heute Fragen offenlassen. Ferdinand Sauerbruch war bereits zu Lebzeiten eine Legende und wurde nach seinem Tod nachgerade zum Mythos, zur Personifizierung des „Halbgottes in Weiß“ stilisiert, wozu die in seinem Todesjahr 1951 erschienenen, außerordentlich erfolgreichen Memoiren „Das war mein Leben“ sowie der gleichnamige Arztfilm aus dem Jahre 1954 in erheblichem Maße beigetragen haben.
Schlüsselwörter: Ernst Ferdinand Sauerbruch; Chirurgie; Charité; Druckdifferenzverfahren; Sauerbruch-Arm; Nationalsozialismus; „Das war mein Leben“; Arztfilm
Summary
The article on the occasion of the 150th birthday of the well-known German surgeon Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) presents and honors the essential stages of his life and his scientific and surgical work. It also addresses his positioning and behavior during the time of National Socialism, which were very ambivalent and still raise questions today. Ferdinand Sauerbruch was already a legend during his lifetime and was styled into a myth, the personification of the „demigod in white“ after his death, to which the extraordinarily successful memoirs „Das war mein Leben“, published in 1951, and the doctor film of the same name from 1954 contributed sign ficantly.
Keywords: Ernst Ferdinand Sauerbruch; surgery; Charité; pressure difference procedure; Sauerbruch arm; National Socialism; „That was my life“ („Das war mein Leben“); doctor film
Vor nunmehr 150 Jahren, am 3. Juli 1875, wurde in Barmen (einer Großstadt im Bergischen Land, die 1929 mit anderen Gemeinden zur Stadt Wuppertal vereinigt wurde) Ernst Ferdinand Sauerbruch geboren – ein Mann, der als einer der bekanntesten Chirurgen des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen sollte. Nach seiner schulischen Ausbildung in der Volksschule und auf dem Realgymnasium in Elberfeld studierte der junge Ferdinand Sauerbruch ab 1895 in Marburg Naturwissenschaften und schließlich Medizin in Leipzig, wo er im Februar 1901 das Staatsexamen ablegte. [10][S.11–18;17][S.24f.;siehenebendenEinzelnachweisenzudenAusführungenindiesemBeitragzurBiographieSauerbruchsauch7;8;11;13;19;27;28][S.284f.]
In Leipzig wurde Ferdinand Sauerbruch auch mit einer Arbeit zum Thema „Ein Beitrag zum Stoffwechsel des Kalks und der Phosphorsäure bei infantiler Osteomalacie“ [20] promoviert. Es folgten erste ärztliche Tätigkeiten als Landarzt in der Nähe von Erfurt, im Hessischen Diakonissenkrankenhaus in Kassel, in der chirurgischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Erfurt und schließlich in der Pathologie des Krankenhauses Berlin-Moabit. [10][S.19–22;9][S.173f.;17][S.25]
Abb. 1: Öl-Gemälde Sauerbruchs von Max Liebermann aus dem Jahr 1932; der Maler und der Chirurg waren Nachbarn am Berliner Wannsee und freundschaftlich verbunden (Quelle: Wikipedia Commons)
Der Beginn einer Traumkarriere
Der wohl wichtigste Grundstein für die weitere Karriere Sauerbruchs war dessen Wechsel als Volontärarzt (das heißt als untergeordneter Arzt ohne Vergütung) im Oktober 1903 an die Chirurgische Universitätsklinik nach Breslau unter der Leitung des Billroth-Schülers und außerordentlich vielseitigen und innovativen Chirurgen Johannes von Mikulicz-Radecki (1850–1905), der als einer der wichtigsten Fachvertreter der Chirurgie im ausgehenden 19. Jahrhundert gelten kann [28][S.218f.]. Hier absolvierte Sauerbruch eine ebenso harte wie hervorragende Schule und Mikulicz-Radecki regte die Forschungen an, deren Ergebnisse den Ruhm von Sauerbruch begründen sollten: die Entwicklung eines technischen Verfahrens, das Operationen am offenen Brustkorb ermöglichte – das sogenannte „Druckdifferenzverfahren“. Das Problem bei der operativen Öffnung des Brustkorbs bestand darin, dass die Lungenflügel aufgrund der Druckdifferenz der Luft – das heißt des höheren atmosphärischen Außendrucks im Verhältnis zum Luftdruck in den Lungen – kollabierten. Auf der Basis der bereits vorhandenen Forschungsliteratur, theoretischer und experimenteller Vorarbeiten sowie Tierversuche entwickelte Sauerbruch schließlich eine Unterdruckkammer, worin mit einer Pumpe der Druck der Außenluft abgesenkt wurde, sodass bei Öffnung des Brustkorbs keine Druckdifferenz mehr bestand, die einen Kollaps der Lungen bewirkt hätte. Ferdinand Sauerbruch publizierte seine Ergebnisse 1904 in einem umfangreichen Beitrag in den „Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie“ unter dem Titel „Zur Pathologie des offenen Pneumothorax und die Grundlagen meines Verfahrens zu seiner Ausschaltung“ [21;vgl.18]. Bei seiner Entwicklung musste Sauerbruch jedoch auch Rückschläge hinnehmen. So verstarb bei der ersten Operation am Menschen – an einer ohne diesen Eingriff unheilbar erkrankten Frau – die Patientin aufgrund einer Undichtigkeit der Operationskammer an einem nachfolgenden Kollaps der Lunge. Doch letztlich sollte dieses von Sauerbruch entwickelte „Druckdifferenzverfahren“ die Thoraxchirurgie revolutionieren. [10][S.22–49;9][S.174–178;17][S.25f.]
Abb. 2: Lagerung eines Patienten in der Operationskammer (Quelle: 21, S. 461)
Nicht unerwähnt bleiben darf indessen, dass der Internist und Pulmologe Ludolph Brauer (1865–1951) zusammen mit dem Chirurgen Walther Petersen (1867–1922) die Forschungen Sauerbruchs aufgriff, jedoch den umgekehrten Ansatz verfolgte – dieses Prinzip basierte nicht darauf, den Außenluftdruck zu reduzieren und dadurch einen Unterdruck der Umgebungsluft zu erzeugen, sondern dem Lungenkollaps durch einen Überdruck in der Lunge entgegenzuwirken. [5;18]
Im Juni 1905 erfolgte die Habilitation Sauerbruchs in Breslau mit einer Arbeit zum Thema „Experimentelles zur Chirurgie des Brustteils der Speiseröhre“ [22]. Sauerbruchs Lehrer Mikulicz-Radecki verstarb im gleichen Monat an den Folgen einer Krebserkrankung und der junge Privatdozent Sauerbruch ging im Herbst 1905 als zweiter Oberarzt an die Universität Greifswald, wo er seine Forschungen neben anderen Themen weiterführte. Im Gefolge seines Greifswalder Chefarztes Paul Leopold Friedrich (1864–1916), der 1907 nach Marburg berufen wurde, wechselte Sauerbruch ebenfalls an diese traditionsreiche Universität, nun als erster Oberarzt und Leiter der Poliklinik. Auch hier war Sauerbruch weiterhin rege wissenschaftlich tätig, und Ende des Jahres 1908 wurden seine Verdienste durch die Ernennung zum außerordentlichen Professor honoriert. [10][S.47–61;9][S.177f.;17][S.27]
Abb. 3: Sauerbruch während seiner Zürcher Zeit bei einer Operation im Hörsaal (um 1915) (Quelle: Wikipedia Commons)
Die Zeit in Zürich und der Erste Weltkrieg
Im Oktober 1910 schließlich erfolgte die Berufung Ferdinand Sauerbruchs als Ordinarius an die Universität Zürich – nicht zu verwechseln mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, die aus dem 1855 eröffneten Eidgenössischen Polytechnikum hervorgegangen ist und nicht über einen medizinischen Studiengang verfügte. In seiner ersten Anstellung als ordentlicher Professor der Chirurgie war er Direktor der Chirurgischen Klinik und Poliklinik des Kantonspitals Zürich, an dem die Lehre und Forschung der Medizinischen Fakultät stattfand. Auch wenn neben seine forschende, publizistische und chirurgische Tätigkeit nun die Leitung einer großen Klinik getreten war, stellte die Zürcher Zeit für Sauerbruch eine sehr produktive Phase seiner wissenschaftlichen Laufbahn dar, wie zahlreiche Publikationen, auf Sauerbruch zurückgehende chirurgische Fortschritte und vor allem auch die Entwicklung des sogenannten „Sauerbruch-Armes“ bezeugen, auf den gleich noch zurückzukommen sein wird. Dem Versuch, neben seiner Tätigkeit als Ordinarius eine Privatklinik aufzubauen, war indessen (nicht zuletzt durch die Einflüsse des Ersten Weltkrieges) nur wenig Erfolg beschieden. [10][S.62–88;4][S.28f.und35–37;9][S.178f.;17][S.28–30]
Abb. 4: Sauerbruch-Arm (Exponat der Lehrsammlung des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Signatur 223a; Foto: Ralf Vollmuth)
Obwohl in der neutralen Schweiz tätig, nahm der zuvor ungediente Ferdinand Sauerbruch dennoch am Ersten Weltkrieg in unterschiedlichen ärztlichen Funktionen als Kriegsfreiwilliger teil: Er wirkte nach seiner Beurlaubung und der Freiwilligenmeldung zunächst als Beratender Chirurg des XV. Armeekorps im Elsass, kehrte jedoch auf Drängen der Zürcher Universität zu Beginn des Jahres 1915 – nun vom Armeedienst beurlaubt – an seine universitäre Wirkungsstätte zurück. Unter dem Eindruck seiner Kriegserlebnisse widmete sich Sauerbruch zusammen mit dem Ingenieur und Zürcher Maschinenbau-Professor Aurel Stodola (1859–1942) der Entwicklung einer Handprothese zur Rehabilitation der verletzten Soldaten, die sich willkürlich bewegen lassen sollte – dem sogenannten „Sauerbruch-Arm“. In den Sommersemesterferien 1915 leitete er das Reservelazarett an der Chirurgischen Universitätsklinik Greifswald, wo er seine theoretischen, technischen und tierexperimentellen Vorarbeiten auf diesem Gebiet erstmals auf die Patienten übertrug. Wieder zurück in Zürich, arbeitete er neben seiner eigentlichen Hochschultätigkeit in einem Lazarett in Singen (Hohentwiel) nahe der Schweiz (und von Zürich aus gut erreichbar) weiter an diesem sowohl chirurgisch als auch orthopädietechnisch herausfordernden Projekt und in der operativ-prothetischen Versorgung weiterer Patienten. [10][S.74–87;15][bes.S.36–107]
1916 erschien Sauerbruchs Schrift „Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Eine Anleitung für Chirurgen und Techniker“ [23].
Auf dem Gipfel des Ruhms
Im Sommer 1918 wechselte Ferdinand Sauerbruch nach München, wo er das Ende des Krieges, die Wirren nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und den Wiederanfang nach dem verlorenen Weltkrieg erlebte. Zunächst noch durch sein erfolgloses Privatklinikprojekt in der Schweiz verschuldet und durch die wirtschaftlichen Umstände und die Inflation in den Nachkriegsjahren beeinträchtigt, sollte sich seine Situation bald ändern. Sauerbruch führte „die chirurgische Universitätsklinik zu großer Blüte“ [11], er war auch im Ausland ein gefragter Operateur und nicht nur in der Münchener Ärzteschaft sowie im akademischen Umfeld, sondern auch in der Gesellschaft eine feste Größe. In seine Wirkungszeit an der Münchener Fakultät fielen (unter Mitarbeit weiterer Autoren) die Veröffentlichung seines zweibändigen chirurgischen Hauptwerkes „Die Chirurgie der Brustorgane“ [24;vgl.9][S.204–264] sowie zahlreiche chirurgische Innovationen (wie beispielsweise die sogenannte „Umkipp-Plastik“) und Weiterentwicklungen, etwa in der Thorax- und der Herzchirurgie sowie in der Tuberkulosebekämpfung. [10][S.89–126;4][S.40–44;17][S.30–32]
Mit dem Sommersemester 1927 wurde Ferdinand Sauerbruch an die Charité nach Berlin berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung als Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik und Ordinarius für Chirurgie wirkte und zweifellos die ruhmreichste Zeit seiner Karriere erlebte. Zunächst, bis in das Wintersemester 1927/1928, bekleidete Sauerbruch aber auch noch kommissarisch den Münchener Lehrstuhl, der zunächst nicht nachbesetzt werden konnte. Auf seinen bisherigen wissenschaftlichen Arbeiten aufbauend, setzte Sauerbruch in seiner Berliner Zeit wiederum neue Akzente und Schwerpunkte. So widmete er sich sowohl experimentell als auch klinisch der Krebsforschung, er war nach wie vor im Bereich der Thoraxchirurgie und vor allem der Lungenchirurgie (insbesondere auch bei der chirurgischen Therapie der Lungentuberkulose) tätig. Weiter arbeitete er auf dem Gebiet der Neurochirurgie und beschäftigte sich mit der Basedowschen Krankheit und anderem mehr. Der größte Teil von Sauerbruchs Schaffensphase in Berlin fiel in die Zeit des Nationalsozialismus, in der Sauerbruch eine ambivalente Rolle einnahm, worauf später noch eingehender zurückzukommen sein wird. [10][S.123–199;4][S.57f.;17][S.32f.]
Während des Zweiten Weltkrieges war Ferdinand Sauerbruch ab dem Jahr 1940 wiederum als Beratender Chirurg für verschiedene Lazarette in Holland, Belgien und Frankreich tätig. [10][S.192]
Abb. 5: Sauerbruch als Generalarzt bei einer Visite in Belgien im Jahr 1943 (Quelle: Wikipedia Commons)
Sauerbruch und seine Schüler
Im Umgang war Ferdinand Sauerbruch gerade für seine Mitarbeiter oft schwierig. Er war zweifellos sowohl wissenschaftlich als auch klinisch einer der führendsten Chirurgen und Ärzte seiner Zeit, auch in der Bevölkerung ungemein populär und angesehen – und er war sich dessen voll und ganz bewusst. So leutselig, jovial und mitfühlend er seinen Patienten gegenüber auftrat, so autokratisch, aufbrausend, ruppig und herablassend war häufig der Umgang mit seinen Mitarbeitern und Assistenten. Seine Klinik wurde streng hierarchisch geführt und die Mitarbeiter wurden zwar einerseits sowohl chirurgisch als auch publizistisch aufs Äußerste gefordert, andererseits aber entsprechend gut ausgebildet und gefördert. [10][S.144–150;9][S.181–183und264–266;14][S.27–37]
Einen Eindruck von diesem Geist mag folgendes Gespräch Sauerbruchs mit seinem Assistenten Mollier vermitteln [nach 10, S. 147f.]:
[Sauerbruch:] „Ich habe seit Monaten keine wissenschaftliche Arbeit mehr von Ihnen zu sehen bekommen!“
[Mollier:] „Herr Geheimrat! Ich habe eine große operative Station zu versorgen und komme daneben zu nichts anderem!“
[Sauerbruch:] „Was machen Sie denn den ganzen Tag?“
[Mollier:] „Ich stehe morgens um sechs auf, bade, rasiere mich und frühstücke um dreiviertelsieben. Um viertel nach sieben bin ich auf Station und verlasse sie, abgesehen von den Mahlzeiten im Kasino, gegen zweiundzwanzig Uhr.“
[Sauerbruch:] „Und was tun Sie dann? Wann legen Sie sich zu Bett?“
[Mollier:] „Ich lese noch etwas und gehe danach um zwölf Uhr schlafen, Herr Geheimrat!“
[Sauerbruch:] „Sagen Sie mal, Mollier! Der Tag hat doch vierundzwanzig Stunden! Und ein junger Mensch wie Sie! Von Mitternacht bis sechs Uhr im Bett! Liegen Sie sich eigentlich nicht wund?“
Nichtsdestotrotz war diese harte Schule sehr begehrt und Ferdinand Sauerbruch brachte zahlreiche Schüler hervor, die ebenfalls von Rang und Namen waren. Die Zahl von 58 Chefärzten – ein Teil davon Lehrstuhlinhaber, wie beispielsweise Alfred Brunner (1890–1972), Emil Frey (1888–1977) oder Rudolf Nissen (1896–1981) – belegt, dass man tatsächlich von einer Sauerbruch-Schule sprechen kann. [4]
Zwischen Anbiederung und Ablehnung – Sauerbruch in der NS-Zeit
Sehr ambivalent und Gegenstand zahlreicher Forschungen war die Rolle Sauerbruchs in der Zeit des Nationalsozialismus: Einerseits arbeitete Sauerbruch systemkonform weiter und ließ sich von den nationalsozialistischen Machthabern vereinnahmen, andererseits ist er aber weder überzeugter Nationalsozialist noch Antisemit gewesen und hat sich erfolgreich für Verfolgte des Regimes eingesetzt und sie geschützt.
Bereits sehr früh nach der Machtergreifung bezog Ferdinand Sauerbruch Position für die neuen Machthaber und deren Politik: So beispielsweise im Vorfeld der Volksabstimmung vom 12. November 1933 über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund bei der „Kundgebung der deutschen Wissenschaft“ mit einer Rede und der Unterzeichnung des sogenannten „Bekenntnis[ses] der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ [2] sowie mit einer Rundfunkansprache. Ferner bei seiner Dankesrede für die Verleihung des sogenannten „Deutschen Nationalpreises für Kunst und Wissenschaft“ vom Januar 1938, den Hitler als deutsches Gegenstück für den Nobelpreis (dessen Annahme gleichzeitig allen Deutschen untersagt wurde) gestiftet hatte. [6][S.326und330–332;16][S.218;8][S.21–29]
Sauerbruch, der kein Mitglied der NSDAP gewesen ist, gleichwohl persönliche Kontakte zu hohen Repräsentanten des Regimes bis hin zu Adolf Hitler hatte, wurde 1934 Staatsrat, 1942 Generalarzt und erhielt 1943 das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz, einen hohen, von Adolf Hitler gestifteten Orden. Und er nahm verschiedene verantwortliche Funktionen im Wissenschaftsbetrieb wahr und stellte sich damit in den Dienst des nationalsozialistischen Regimes. So war Sauerbruch beispielsweise als „Fachspartenleiter für Allgemeine Medizin“ des Reichsforschungsrates mitverantwortlich für Menschenversuche, die in Konzentrationslagern, Gefangenenlagern und Heil- beziehungsweise Pflegeanstalten durchgeführt wurden, wobei strittig ist, welche Rolle er hierbei spielte und inwieweit ihm das verbrecherische Ausmaß dieser Versuche bekannt oder bewusst gewesen ist. Gesichert ist, dass Sauerbruch als Teilnehmer an der 3. Arbeitstagung der beratenden Ärzte der Militärärztlichen Akademie im Jahre 1943 Kenntnis von Sulfonamid-Versuchen an KZ-Häftlingen in Ravensbrück hatte. [6][S.327f.;16][S.218f.;8][S.31–42;17][S.35f.]
Dem aktiven Eintreten für den Nationalsozialismus gegenüber standen indessen andererseits eine teils gar offen geäußerte Distanzierung und das Engagement für Verfolgte des Regimes. Aus Sauerbruchs Äußerungen und seinem Verhalten, auch gegenüber jüdischen Mitarbeitern und Freunden, lässt sich ableiten, dass ihn trotz einer national-konservativen und völkischen Gesinnung der dem Nationalsozialismus eigene Antisemitismus und Anti-Internationalismus abstießen. Er verkehrte in Kreisen, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden (sein Sohn Peter, selbst Generalstabsoffizier, war mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg befreundet und hatte Kenntnis von den Anschlagsplänen des 20. Juli 1944) und äußerte sich – teils öffentlich, vor allem aber im privaten Bereich – vielfach kritisch zum Nationalsozialismus. Auch half er nachweislich Menschen, die vom Regime verfolgt wurden, oder setzte sich für sie ein; und er war ein Gegner des „Euthanasieprogramms T4“ zur Tötung behinderter Menschen, weshalb er beim Reichsjustizminister vorsprach, um dagegen zu protestieren. [16][S.204–217;6][S.326f.;17][S.34f.]
Eine Einordnung Sauerbruchs bleibt angesichts dieser offensichtlichen und facettenreichen Widersprüchlichkeiten schwierig, wie Fridolf Kudlien und Christian Andree bereits 1980 in ihrer Studie „Sauerbruch und der Nationalsozialismus“ in ihrer abschließenden Bewertung differenziert dargestellt haben. [16][S.220–222] Sauerbruch, so der Medizinhistoriker Wolfgang Uwe Eckart,
„war kein organisierter Nationalsozialist und auch kein uneingeschränkter Befürworter nationalsozialistischer Ideologie und Praxis, er trat nicht der NSDAP bei und er verweigerte sich demonstrativ besonders dem Antisemitismus; aber er hat sich doch zweifellos in Dienst des NS-Staates nehmen lassen, wenngleich sein prätentiös autoritärer Habitus auch der Naziclique gegenüber gelegentlich sperrig daher kam. Sauerbruch war auch für die Nationalsozialisten kein einfacher Zeitgenosse, aber nicht jede Aufmüpfigkeit war Regimekritik oder gar Widerstand.“ [8][S.31]
Publizistische Versuche, die Verstrickungen Sauerbruchs zu sehr zu relativieren und ihn fast schon zum Widerstandskämpfer zu erheben [14;kritischdazu:26], erscheinen hingegen wenig zielführend.
Der „Mythos Sauerbruch“
Neben seiner fachlichen Brillanz und seiner dominierenden Stellung in der Chirurgie trug auch Sauerbruchs Popularität in der Bevölkerung und bei seinen Patienten zu seinem legendären Ruf bei. Einem Ruf, der jedoch bei allen großartigen und unbestrittenen Verdiensten Sauerbruchs in dieser Ausprägung und vor dem Hintergrund seiner ambivalenten Rolle während der Zeit des Nationalsozialismus überhöht und geradezu verklärt gewesen ist. So formulierte der schon erwähnte Medizinhistoriker Wolfgang Uwe Eckart, es scheine „nachgerade angebracht, von einem ‚Mythos Sauerbruch‘ zu sprechen, vom Mythos eines Halbgottes in Weiß, bei dem allerdings sorgfältig zwischen biographischer Verklärung und ärztlich-politischer Realität unterschieden werden muss“ [8][S.1].
Gestützt wurde dieses Bild weit über Sauerbruchs Tod hinaus durch seine 1951 erschienenen Memoiren „Das war mein Leben“ [25], die 1954 unter dem gleichen Titel verfilmt wurden. Beide Werke waren außerordentlich erfolgreich und hatten eine sehr hohe Reichweite: Mit rund 1,2 Millionen verkauften Exemplaren bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Erscheinen zählt das Buch „zu den zehn auflagenstärksten Büchern in Nachkriegsdeutschland überhaupt“ [1][S.233]. Dabei war und ist das Werk gerade im Hinblick auf seine Authentizität und den Wahrheitsgehalt nicht unumstritten: Geschrieben hatte die Memoiren nicht Sauerbruch selbst, sondern im Auftrag des Kindler Verlags der Schriftsteller und Journalist Hans Rudolf Berndorff als Ghostwriter auf der Grundlage der Erinnerungen und Erzählungen Sauerbruchs (der zum Zeitpunkt des Entstehens jedoch bereits an einer fortschreitenden Zerebralsklerose litt, zu deren Symptomen auch Erinnerungsverluste zählen). [1][S.233–239;3][S.62f.;10][S.223–225;9][S.42–44]
Der an das Buch angelehnte Film „Das war mein Leben“ knüpfte an diesen publizistischen Erfolg an, und dieser seinen Protagonisten heroisierende Arztfilm war ebenfalls überaus erfolgreich. Als typischer 50er-Jahre-Film war er, so der Medizinhistoriker Udo Benzenhöfer, „nicht nur ein Unterhaltungsfilm über eine […] schon historische Arztfigur, er war auch ein deutliches Signal des ‚Wir sind wieder wer‘“ [3][S.60]. Eingebettet in einen Rahmen, der auf Sauerbruchs Wirken in der Berliner Charité im Herbst 1948 abhebt, werden in mehreren Rückblenden entscheidende Stationen seines Medizinerlebens aufgegriffen und dargestellt. [3;sieheauch12][S.230–244;8][S.47–49]
Abb. 6: Buchcover des 1951 erschienenen Buches „Das war mein Leben“, Verlag Kindler und Schiermeyer 1951
Sauerbruchs trauriges Ende
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Ferdinand Sauerbruch auf Betreiben der sowjetischen Militärverwaltung in Berlin von Mai 1945 bis Oktober des gleichen Jahres „Stadtrat für Gesundheitswesen“ – ein wichtiges Amt bei der Neuordnung des Gesundheitswesens und der medizinischen Strukturen, der Versorgung der Patienten und der Seuchenabwehr in der zerstörten Stadt. [10][S.200–209].
Sauerbruchs letzte Lebensjahre waren von einer fortschreitenden Zerebralsklerose geprägt, die negativen Einfluss auf seine geistige Verfasstheit, seine Stimmung und nicht zuletzt seine chirurgische Arbeit in der Charité hatte. Zwar beantragte Ferdinand Sauerbruch am 3. Dezember 1949 – auf Druck von außen, jedoch nach offizieller Lesart freiwillig – seine Versetzung in den Ruhestand. Diesem Gesuch wurde umgehend entsprochen, was ihn jedoch wider alle Vernunft und leider begleitet von zahlreichen Misserfolgen nicht davon abhielt, in einer Berliner Privatklinik weiter zu operieren. Am 2. Juli 1951 erlag Ferdinand Sauerbruch schließlich den Folgen seiner Erkrankung. [8][S.43–46;10][S.217–226]
Ferdinand Sauerbruch war zweifellos ein Mann der Widersprüche – in seinem Auftreten gegenüber Patienten und Mitarbeitern, seinem ambivalenten Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus und in seiner letzten Lebensphase, in der es ihm nicht vergönnt war, rechtzeitig den Zeitpunkt zu erkennen, um das Skalpell aus der Hand zu legen. Er war aber ebenfalls ohne jeden Zweifel einer der herausragendsten Chirurgen des 20. Jahrhunderts und die wissenschaftliche Chirurgie und zahllose Patienten haben ihm und seinem Wirken sehr viel zu verdanken.
Literatur
- Adam C: Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945. Berlin: Galiani 2016.
- Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat. Überreicht vom Nationalsozialistischen Lehrerbund Deutschland/Sachsen. [1933] [hier auch die Ansprache Sauerbruchs, S. 21].
- Benzenhöfer U: „Schneidet für Deutschland!“ – Bemerkungen zu dem Film „Sauerbruch – Das war mein Leben“ (1954). In: Benzenhöfer U (Hrsg.): Medizin im Spielfilm der fünfziger Jahre. Pfaffenweiler: Centaurus 1993: 60–73.
- Bhandari JMM: Sauerbruch und seine Schüler. Med. Diss. Tübingen 2023 [08.04.2025]. mehr lesen
- Brauer L: Die Ausschaltung der Pneumothoraxfolgen mit Hilfe des Ueberdruckverfahrens. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 1904; 13: 483–500.
- Dewey M, Schagen U, Eckart WU, Schönenberger E: Ernst Ferdinand Sauerbruch und seine ambivalente Rolle während des Nationalsozialismus. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 4/2006: 325–333 [deutsche Übersetzung des Originalartikels Dewey M, Schagen U, Eckart WU, Schönenberger E: Ernst Ferdinand Sauerbruch and His Ambiguous Role in the Period of National Socialism. Annals of Surgery 2006; 244: 315–321]. mehr lesen
- Eckart WU: Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951). In: Fröhlich M (Hrsg.): Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien. Darmstadt: Primus 2002: 175–187.
- Eckart WU: Ferdinand Sauerbruch – Meisterchirurg im politischen Sturm. Eine kompakte Biographie für Ärzte und Patienten. Wiesbaden: Springer 2016 [vgl. auch den Buchbeitrag, der dieser Sauerbruch-Biographie offensichtlich zugrunde lag: Eckart WU: „Der Welt zeigen, dass Deutschland erwacht ist …“: Ernst Ferdinand Sauerbruch und die Charité-Chirurgie 1933–1945. In: Schleiermacher S, Schagen U (Hrsg.): Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus. Paderborn – München – Wien – Zürich: Ferdinand Schöningh 2008: 189–206].
- Flatau E: Der wissenschaftliche Autor. Aspekte seiner Typologisierung am Beispiel von Einstein, Sauerbruch, Freud und Mommsen. [Phil. Diss. Mainz 2014]. Wiesbaden: Springer 2015.
- Genschorek W: Ferdinand Sauerbruch. Ein Leben für die Chirurgie. 2. Aufl. Leipzig: S. Hirzel 1979 (= Humanisten der Tat. Hervorragende Ärzte im Dienste des Menschen).
- Gerabek WE: Sauerbruch, Ernst Ferdinand. In: Neue Deutsche Biographie 2005, 22: 459–460. Onlinefassung [21.03.2025]. mehr lesen
- Gottgetreu S: Der Arztfilm. Untersuchung eines filmischen Genres. [Diss. Köln 1999]. Bielefeld: Aisthesis 2001.
- Hahn J, Schnalke T (Hrsg.): Auf Messers Schneide. Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch zwischen Medizin und Mythos. [Ausstellungskatalog]. Berlin: Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité 2019.
- Hardinghaus C: Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler. Berlin – München – Zürich – Wien: Europa 2019.
- Karpa MF: Die Geschichte der Armprothese unter besonderer Berücksichtigung der Leistung von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951). Med. Diss. Bochum 2004 [08.04.2025]. mehr lesen
- Kudlien F, Andree C: Sauerbruch und der Nationalsozialismus. Medizinhistorisches Journal 1980; 15: 201–222.
- Maile A: Vom innermedizinischen Umgang mit einer ambivalenten Arztlegende. Vergleich des Sauerbruch-Bildes in der ärztlichen Standespresse der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Med. dent. Diss. Tübingen 2023 [08.04.2025]. mehr lesen
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- Sauerbruch F: Ein Beitrag zum Stoffwechsel des Kalks und der Phosphorsäure bei infantiler Osteomalacie. Med. Diss. Leipzig 1902.
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- Sauerbruch F: Experimentelles zur Chirurgie des Brustteils der Speiseröhre. [Habilitationsschrift]. Breslau 1905.
- Sauerbruch F: Die willkürlich bewegbare künstliche Hand. Eine Anleitung für Chirurgen und Techniker. Berlin: Julius Springer 1916.
- Sauerbruch F: Die Chirurgie der Brustorgane. Bd. I – II. Berlin: Julius Springer 1920–1925.
- Sauerbruch F: Das war mein Leben. Bad Wörishofen: Kindler und Schiermeyer 1951.
- Schagen U, über: Hardinghaus C: Ferdinand Sauerbruch und die Charité. Operationen gegen Hitler. München 2019. In: H-Soz-Kult, 20.03.2019 . mehr lesen
- Tshisuaka BI: Sauerbruch, (Ernst) Ferdinand. In: Gerabek WE, Haage BD, Keil G, Wegner W (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin – New York 2005: 1285–1286.
- Weißer C: Chirurgenlexikon. 2000 Persönlichkeiten aus der Geschichte der Chirurgie. Berlin: Springer 2019.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Vollmuth R: Ernst Ferdinand Sauerbruch – zum 150. Geburtstag eines legendären Chirurgen. WMM 2025; 69(7-8): 353-359.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-569
Verfasser
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam
E-Mail: ralf1vollmuth@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Vollmuth R: [Ernst Ferdinand Sauerbruch – Commemorating the 150th Birthday of a Legendary Surgeon.] WMM 2025; 69(7-8): 353-359.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-569
Author
Colonel (MC) Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Bundeswehr Center for Military History and Social Sciences
Zeppelinstr. 127/128, D-14471 Potsdam
E-Mail: ralf1vollmuth@bundeswehr.org
Der Gewalt auf der Spur?
Detektion und Dokumentation von Kriegsverbrechen
David Grasmanna
11 Der Spruch ist einer Rede Ciceros aus dem Jahr 52 v. Chr. entlehnt. Er bedeutet sinngemäß „Denn unter den Waffen schweigen die Gesetze!“, womit er ausdrücken wollte, dass das normierte Recht im Kriege keine Gültigkeit habe.
a Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, Hannover
Hintergrund: Krieg als rechtsfreier Raum?
Bis weit ins 19. Jh. war oft der römische Rechtsgrundsatz „Silent enim leges inter arma!“1 handlungsleitend. Sowohl das Recht, Krieg zu führen („ius ad bellum“) als auch die Ausgestaltung der Kampfhandlung („ius in bello“) waren nicht reguliert, sondern Machtmittel nationaler, politischer oder auch persönlicher Interessen. Einschränkungen erfuhren die legitimen Kriegsmittel und Ziele militärischer Gewalt durch das Haager und das Genfer Abkommen, u.a. zurückzuführen auf die Pionierarbeit von Henry Dunant (nach Solferino), dem Gründer der Rotkreuzbewegung (ICRC). Eine erste Ächtung des Krieges auf internationaler Ebene erfolgte 1928 (Briand-Kellogg-Pakt), der Vorläufer des Artikel 2(4) der UN-Charta, der seit 1945 ein absolutes Gewaltverbot festschreibt. Adressaten des Humanitären Völkerrechts sind jedoch ausschließlich Staaten als Völkerrechtssubjekte. Schwere Verstöße von Einzelpersonen konnten damit weiterhin nicht auf internationaler Ebene verfolgt und geahndet werden.
Dieses änderte sich erst 1998 mit Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court (ICC), sogenanntes Rom-Statut). Strafrechtlich verfolgt werden Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression. Deutschland ist Gründungsmitglied des in Den Haag ansässigen Gerichtshofes und hat den Inhalt des Rom-Statuts auch in nationales Recht überführt (Völkerstrafgesetzbuch (VStGB)). Das sogenannte Weltrechtsprinzip sorgt für weitgehende Strafverfolgungsmöglichkeiten der Bundesanwaltschaft in Deutschland. Problematisch ist allerdings, dass strafprozessuale Maßnahmen auf deutsches Hoheitsgebiet beschränkt sind. Es existiert aktuell keine gesamtstaatliche Strategie in Bezug auf Ermittlungszuständigkeiten und -möglichkeiten im Bündnisfall. Besteht damit die reale Gefahr, dass für einen Krieg im 21. Jahrhundert quasi erneut ein rechtsfreier Raum bestünde?
Abb. 1: Kriegsverbrechen (Erschießung mit gefesselten Händen) an Zivilpersonen 2022 in Butscha (UKR) durch die russischen Invasionstruppen (oben) und spätere Untersuchung exhumierter Leichen durch die ukrainische Polizei (Quelle: Wikimedia Commons, oben Ukrinform TV, unten National Police of Ukraine)
Anforderung an die Bundeswehr und den Sanitätsdienst
Eine ganzheitlich auf Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) vorbereitete Bundeswehr braucht daher zwingend auch Konzepte zum Umgang mit Kriegsverbrechen sowie den (zivilen) Opfern schwerster Gewalt- und Sexualstraftaten. Dazu gehört zum Beispiel auch die Fähigkeit zur Durchführung einer qualifizierten Leichenschau. Aus fachlichen Gründen kommt hier dem Sanitätsdienst als medizinischem Key Enabler einer kriegstauglichen Bundeswehr eine zentrale Rolle zu. Neben kurativen Versorgungsstrategien bedarf es deshalb zur Auftragserfüllung auch forensisch-medizinischer Ansätze. Im Kern ist zu fordern, dass die Detektion sowie gerichtsverwertbare Dokumentation von Verletzungsbefunden als Grundlage für eine erfolgreiche Strafverfolgung und damit Einhaltung internationaler und nationaler Vorgaben gewährleistet wird.
Eine besondere Herausforderung ist dabei der Umgang mit (über)lebenden Opfern, da
- oft eine komplexe, interdisziplinäre und ressourcenintensive Versorgung der Verletzten notwendig ist,
- keine breit publizierten Leitlinien zur klinisch-forensischen Versorgung existieren und
- kurativ tätigem Personal vielfach die Erfahrung und Fachexpertise zur forensischen Befunddokumentation fehlt.
Aktuell besteht keine ressortübergreifende Gesamtstrategie zu dem Themenkomplex. Abgesehen von den gesetzlichen Defiziten existiert außerdem aktuell noch eine Konzeptions- und damit konsekutiv auch Regelungslücke in der Bundeswehr. Hierdurch besteht die reale Gefahr der Unterversorgung von Gewaltopfern sowohl in Auslandsmissionen als vor allem auch im Rahmen von hochintensiven LV/BV-Szenarien.
Lösungsansätze
Kriminalistische Triage
Im Rahmen eines Forschungs- und Promotionsprojektes am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg (in Kooperation mit dem Innenministerium Baden-Württemberg) wurde ein rechtsmedizinisch-kriminalistisches Triage-Instrument zur Detektion von schweren Gewalt- und Sexualstraftaten in Deutschland entwickelt. Idee dabei ist, in Analogie zu den Vorsichtungsalgorithmen aus der Notfallmedizin, mittels acht einfacher, chronologisch geordneter Fragen das Gewaltopfer einer von vier Farben zuzuordnen. Dabei wird das Ziel verfolgt, beschränkte Ermittlungsressourcen bestmöglich zu verteilen und insbesondere rote, also „kritische Fälle“ aus Strafverfolgungs- und Beweismittelsicherungssicht zuverlässig als solche zu identifizieren und adäquate Folgemaßnahmen einzuleiten. Das Projekt fokussiert aktuell auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Experten aus Strafverfolgung und Rechtsmedizin, also die Anwendung der Kriminalistischen Triage in der polizeilichen Praxis.
Eine Ausweitung des Projekts auf die Anwendung in der Notfallmedizin mittels eines angepassten Scores (Forensic Violence Detection Score) ist aktuell bereits in der Planungs- und Finanzierungsphase. Eine Adaptation an die speziellen Bedürfnisse von Streitkräften bzw. eines Sanitätsdienstes im LV/BV-Szenario zur Detektion von Kriegsverbrechen mit veränderten Parametern ist dabei möglich. Vorstellbar wäre die Entwicklung eines War Crime Detection Score mit abgewandelten Einstufungskriterien und anderen, lage- und ressourcenangepassten Dokumentationsstrategien, wie sie in den Absätzen FIT und ARMED nachfolgend beschrieben werden.
Abb. 2: Darstellung der Kriminalistischen Triage (KiT) bei einem lebenden potenziellen Gewaltopfer (© D. Grassmann)
Forensic Investigation Team
Die Idee eines Forensic Investigation Team (FIT) basiert auf dem in der Bundeswehr bereits existierenden Konzept des Weapons Intelligence Teams (WIT). Die interdisziplinären Experten des WIT nehmen Feldauswertungen nach Vorfällen mit Improvised Explosive Devices (IED)/Unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) am Ereignisort (Level 1) vor. Vorgaben hierzu finden sich in NATO-Dokumenten (AJP-2.5(A)) und national in der Heeres-Bereichsverfügung A2-227/0-0-2530 (Feldauswertung von Vorfällen mit behelfsmäßigen Sprengvorrichtungen durch das Weapons Intelligence Team).
Für den Bereich der Kriegsverbrechen könnte analog dazu ein FIT in Form eines interdisziplinären Expertenteams zur forensischen Dokumentation und Sicherung von Spuren bzw. Beweismitteln von potenziellen Kriegsverbrechen gebildet werden. Dieses muss befähigt sein, unter Kriegsbedingungen, also robust, eigenbeweglich und bewaffnet zu agieren.
Abb. 3: Übung/Ausbildung: Tatortarbeit durch Feldjäger (Bild: Bundeswehr/FJgRgt 3)
In einem FIT müssten folgende Expertisen vorhanden sein:
Obligatorisch
- Rechtsberater: Rechtliche Einstufung und Leitung der Ermittlungen vor Ort
- Feldjäger: Durchführung des ersten Angriffs mit gerichtsverwertbarer Beweissicherung
- Sanitätsdienst: Klinische Untersuchungen und forensische Verletzungsdokumentation
Lage- und auftragsabhängig
- ABC-Abwehr: Bei Verdacht auf Einsatz von ABC-Kampfmitteln bzw. toxischen Substanzen
- Sicherungskräfte: Sicherung des FIT und Bewertung der taktischen Lage vor Ort
- Militärische Nachrichtenwesen: Gewinnung von operationsrelevanten Informationen (Human Intelligence (HUMINT))
- Logistik: Abtransport von Asservaten, ggf. Leichen (Chain of Custody)
Forensische Telemedizin
Eine weitere Möglichkeit der Unterstützung bei der ärztlichen Leichenschau bietet die forensische Telemedizin. Hierbei könnte rechtsmedizinisches Personal mittels Datenbrille, Liveübertragung usw. vor allem bei Leichenschauen und bei klinischen Untersuchungen unterstützen.
Abb. 4: Die körperliche Untersuchung im Verdachtsfall erfolgt vor Ort mit Anwendung der Datenbrille (oben). Der Untersuchungsgang wird telemedizinisch durch eine Rechtsmedizinerin begleitet (unten). (Bilder: ©UKHD)
Seit 2023 steht mit dem Projekt ARMED am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg ein System zur telemedizinischen Beteiligung an Untersuchungen bei Verdacht auf Kindesmisshandlung oder -missbrauch zur Verfügung. Damit sollen Untersuchungen vor allem in rechtsmedizinisch unterversorgten Gebieten unterstützt werden. ARMED steht für „Augmented Reality assisted, forensic Medical Evidence collection and Documentation“.
Das Angebot steht seit Juni 2023 in einigen Partnerkliniken des Instituts für Kinder und Jugendliche (auch zur vertraulichen Spurensicherung) zur Verfügung. Die Verwendung von Datenbrillen und die ständig weiterentwickelte Applikation (Sphere®) ermöglicht eine DSGVO-konforme Verbindung der Untersuchenden mit der Rechtsmedizin. Durch die Datenbrille können sowohl Anamnese als auch Untersuchung mitverfolgt und ggf. angeleitet werden, um die Beweismittelqualität zu steigern. Nach der Untersuchung erfolgt eine fachlich rechtsmedizinische Einschätzung an den Untersuchenden sowie die Abstimmung des weiteren Vorgehens. ARMED wird aktuell im Auftrag des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg durchgeführt und aus Landesmitteln finanziert.
Fazit/Folgerung
In einem zukünftig möglichen LV/BV-Szenario besteht die reale Gefahr, dass es auch zu Kriegsverbrechen kommt bzw. deutsche Soldaten damit konfrontiert werden. Die Fähigkeit, diese aufzuklären bzw. im Verdachtsfall gerichtsverwertbar zu ermitteln, ist derzeit in der Bundeswehr nur sehr eingeschränkt vorhanden. Die Bündelung der insgesamt existierenden Fachexpertise in unterschiedlichen Aufgaben- und Fähigkeitsbereichen – etwa auf dem Gebiet der Rechtsmedizin, derzeit nur vorhanden beim Zentrum für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe mit Spezialisierung auf Flugunfälle – in Form von Forensic Investigation Teams und/oder mittels telemedizinischer forensischer Unterstützung mit externer Expertise aus Deutschland könnte ein wichtiger Beitrag zur Vermeidung eines rechtsfreien Raums sein.
Literatur
1. Grasmann D: (2022): Der Gewalt auf der Spur?: Das Potenzial einer schema-basierten Einbeziehung der Rechtsmedizin in das Ermittlungsverfahren bei Gewaltstraftaten gegen lebende Opfer. Kriminalistik 2022; 76(10): 532-537.
2. Grassberger M, Yen K, Türk E: Klinisch-forensische Medizin. Interdisziplinärer Praxisleitfaden für Ärzte, Pflegekräfte, Juristen und Betreuer von Gewaltopfern. Wiesbaden: Springer Verlag 2013.
3. Madea B: Rechtsmedizin. Befunderhebung, Rekonstruktion, Begutachtung. Wiesbaden: Springer Verlag 2024.
Weiterführende Links:
D. Grasmann: Leitfaden für besseren Opferschutz.
https://www.youtube.com/watch?v=X4pCy0JCz9U
Bundeswehr: Nachgefragt: Ermitteln Feldjäger Kriegsverbrechen?
https://www.youtube.com/watch?v=KLC-xNL56Ws&t
Universitätsklinikum Heidelberg: ARMED
https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/armed
Verfasser
Hauptmann David Grasmann, M.A., M.A.
Schule für Feldjäger und Stabsdienst der Bundeswehr, Hannover
Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin Universitätsklinikum Heidelberg
E-Mail: davidgrasmann@bundeswehr.org