In welchem Umfang können wir uns medizinisch auf den militärischen oder terroristischen Einsatz von Nuklearwaffen vorbereiten?
To what Extent can we Prepare for the Military or Terroristic Use of Nuclear Weapons
from a Medical Perspective?
Cornelius Hermanna, Patrick Ostheima, Andreas Lamkowskia, Birte Diekmeyerb, Stefan Ederc, Michael Grunertd, Burkhard Klemenzd, Michael Abenda, Matthias Porta
a Institut für Radiobiologie der Bundeswehr, München
b Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Abteilung XV – Nuklearmedizin
c Sanitätsakademie der Bundeswehr, Abteilung F – Medizinischer ABC-Schutz, München
d Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Abteilung XV – Nuklearmedizin
Zusammenfassung
Als eine Konsequenz aus dem Krieg in der Ukraine muss der Einsatz staatlich kontrollierter Kernwaffen wieder als reales Bedrohungsszenario angesehen werden. Die medizinischen Folgen eines solchen Einsatzes wären multifaktoriell und auch stark von der Art der Waffe und der Detonationshöhe abhängig. In Summe wird es aber vor allem nahe dem Zentrum der Explosion zu einer hohen Strahlenbelastung kommen, die meist in Kombination mit Brandwunden sowie als Verletzungen durch Druck und herumfliegende Trümmerteile auftreten wird. Der Niederschlag radioaktiver Partikel kann, je nach Szenario, auch eine Gefahr für Menschen bedeuten, welche sich außerhalb des Explosionsradius befanden. Das Institut für Radiobiologie der Bundeswehr arbeitet intensiv daran, Wissenserwerb und Wissensaustausch auf militärischer wie ziviler Ebene voranzubringen und wirkt auf nationaler und internationaler Ebene bei der Verfassung präventiver und reaktiver Empfehlungen mit. Darüber hinaus wird mit Nachdruck an der Verbesserung von Diagnostik und Behandlung betroffener Patienten geforscht und die Anwendung dieser erworbenen Expertise zusammen mit den Bundeswehrkrankenhäusern Ulm und Koblenz geübt und vorgehalten.
Schlüsselwörter: Nuklearwaffe, akutes Strahlensyndrom, Triage, Radiobiologie
Summary
As a conclusion of the war in Ukraine, the use of state-controlled nuclear weapons must again be considered a real threat scenario. The medical consequences of such a strike would be multifactorial and also strongly dependent on the type of weapon and the detonation altitude. In general, however, there will be high radiation exposure, especially close to the center of the detonation, mostly in combination with burns and injuries from blast shock and flying debris. Depending on the scenario, the fallout of radioactive particles can also cause a hazard to people outside the explosion radius. The Bundeswehr Institute of Radiobiology is working intensively to promote acquisition and exchange of knowledge at both military and civilian sites and is involved in the drafting of preventive and reactive recommendations at national and international level. In addition, intensive research is conducted to improve diagnostics and treatment of affected patients, and the application of acquired expertise is rehearsed and maintained together with the Bundeswehr hospitals in Ulm and Koblenz.
Keywords: nuclear weapon, acute radiation syndrome, triage, radiobiology
Hintergrund
Der Ukrainekrieg ist eine massive Zäsur in der friedlichen Weiterentwicklung Europas. Die offen in Fernsehsendern angedrohten Äußerungen russischer Politiker, Nuklearwaffen gegen europäische Staaten einzusetzen, hat auch in Deutschland wieder die Ängste gegen diese Bedrohung in das Bewusstsein der Bevölkerung gebracht. Nach Jahrzehnten nuklearer Abrüstung und der faktischen Reduzierung des Arsenals der Nuklearwaffen der USA und Russlands wurde im Hintergrund auch immer die Modernisierung der Waffentypen vorangetrieben. Nicht zuletzt die Proliferation von Nuklearwaffen in immer mehr Staaten, darunter auch diktatorische Regime, bedeutet eine signifikante Gefahr des Einsatzes in aktuellen und zukünftigen Konflikten. Die Verschärfung der russischen Doktrin zeigt auch, dass zunehmend Nuklearwaffen genutzt werden, um den politischen Druck auf benachbarte oder, aufgrund der Reichweite und des möglichen Einsatzes von U-Booten, auf jeden Staat der Welt zu erhöhen. Im Jahr 2022 wurden auch in deutschen Medien die verschiedenen Optionen des Einsatzes von Nuklearwaffen diskutiert. Dabei wurden vermehrt der russische Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe gegen die Ukraine sowie ein militärisch verursachter Kritikalitätsunfall in einem Kernkraftwerk als reale Gefahren eingestuft [2][10][11].
Neben dem aus humanitären und auch aus Sicht der Autoren nicht zu rechtfertigenden primären Einsatz einer Nuklearwaffe durch einen Staat halten führende internationale Experten auch den Einsatz von improvisierten Nuklearwaffen (improvised nuclear device, IND) durch terroristische Gruppen für möglich [24]. In den USA fanden dazu schon im letzten Jahrzehnt Forschungsarbeiten und Kongresse statt [5]. Eine IND ist eine eher am Boden gezündete Nuklearwaffe. Ihre Sprengkraft wird auf 10 bis 100 kT eingeschätzt, womit diese mit den in Hiroshima und Nagasaki eingesetzten Atombomben vergleichbar ist.
Was sind die medizinischen Folgen eines Nuklearwaffeneinsatzes?
Im primären Wirkungskreis der Nuklearwaffe existiert ein innerer Bereich, in dem ohne Schutz kein Überleben möglich ist. Angrenzend an diesen Feuerball finden sich Areale, in denen primär Überlebende zumeist von Kombinationsverletzungen betroffen sein werden. Diese Verletzungen beinhalten neben der radioaktiven Strahlenexposition auch konventionelle Traumata (z. B. Splitterverletzungen) wie auch Verbrennungen und Schäden durch die Druckwelle. Man kann dies u. a. im Werk des „Gründungsdirektors“ des Instituts für Radiobiologie der Bundeswehr (InstRadBioBw), Oberstarzt Prof. Dr. Messerschmidt, nachlesen [15]. Die schädigenden physikalischen Kräfte nehmen mit zunehmender Entfernung von „ground zero“ ab. Diese Kräfte sind u. a. abhängig von der Art der Nuklearwaffe, der Einsatzhöhe, möglichen Schutzstrukturen und vielen weiteren Faktoren. Zusätzlich ist zu beachten, dass eine mit Radionukliden beladene Fallout-Wolke (eigentlich eine Luftmasse) in Windrichtung die Radioaktivität breitflächig verteilt (Abbildung 1). Der radioaktive Fallout bedeutet eine große Gefahr für darin befindliche Personen, wie auch der „groundshine“ (Radioaktivität ausgehend von auf dem Boden abgelagerten Radionukliden) oder die Aufnahme von Radionukliden durch kontaminierte Lebensmittel und Trinkwasser [3][8].
Wie können wir uns als Individuen schützen und was kann medizinisch getan werden?
Zunächst gilt es, die Exposition wo immer möglich zu vermeiden. Dazu sind im ersten Schritt das Sammeln von Kenntnissen über die Gefahren erforderlich und im zweiten Schritt prophylaktische Maßnahmen vorzubereiten, anzuordnen und durchzuführen. Ferner sind für mögliche Patienten Vorbereitungen zu treffen, damit diese im Ereignisfall nach den besten in diesen Situationen anwendbaren Maßstäben versorgt werden können. Einen umfassenden Lösungsvorschlag können leider auch die Autoren hier nicht liefern, jedoch Anhalte und Hinweise, wie man sich derzeit auf solche Ereignisse vorbereitet (preparedness) [8][23][25].
Nach einer lebensbedrohlichen akuten Ganzkörperbestrahlung von etwa 4 Gy1 (zum Vergleich: Die Strahlenbelastung einer Computertomographie liegt im Bereich von einigen mGy) sterben ohne Therapie etwa 50 % der exponierten Patienten innerhalb von 60 Tagen. Unter optimaler Therapie kann dieser Wert auf etwa 8 Gy angehoben werden [1][12][26]. Modellierungen von Kernwaffeneinsätzen in Großstädten zeigen, dass, optimale Therapie vorausgesetzt, zehntausende Patienten potenziell gerettet werden könnten. Zu den verfügbaren Therapiemöglichkeiten gehören intensivmedizinische Überbrückungstherapien inklusive Substitution von Blutprodukten, Infektionsprophylaxen und -therapien, Radionuklid-Dekorporationstherapien, optimierte OP-Strategien und die psychologische Betreuung von Patienten und Angehörigen. Neuere Entwicklungen zeigen den Nutzen einer sehr frühen Zytokintherapie [7][9][16][19][22], in Einzelfällen den Einsatz mesenchymaler Stammzelltherapie und in absoluten Ausnahmefällen auch die Knochenmarktransplantation.
Um die ressourcenaufwendigen und sehr begrenzt vorhandenen Therapien den Patienten zur Verfügung zu stellen, bei denen der größte Nutzen zu erwarten ist, sind frühzeitig verfügbare Diagnostikverfahren erforderlich [27]. Leider wird in einem solchen Szenar auch eine Triage erforderlich sein, die entsprechende Kenntnisse über die sich im weiteren Verlauf potenziell entwickelnden Krankheitsbilder erfordert.
Bundeswehr-Aktivitäten zur medizinischen Vorbereitung auf einen möglichen Nuklearwaffeneinsatz
Wissenserwerb, Wissensaustausch, Empfehlungen
Mitarbeitende des InstRadBioBw sind in diversen Gremien zum Austausch von Strahlenschutzwissen und zur Vorbereitung von Empfehlungen tätig. Dazu gehört u. a. die Teilnahme an einer NATO-Forschungsgruppe. Diese wird seit mehreren Jahren durch den stellvertretenden Institutsdirektor, Oberstarzt Prof. Dr. Abend, geleitet. An dieser NATO-Forschungsgruppe sind alle im Themengebiet relevanten militärischen, medizinisch-radiobiologisch tätigen Forschungseinrichtungen beteiligt. Darüber hinaus leitet der Institutsleiter, Oberstarzt Prof. Dr. Port, den Notfallausschuss der Strahlenschutzkommission (SSK) und eine Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Schutzstrategien bei Nuklearwaffeneinsatz. Er ist Mitglied in Arbeitsgruppen der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Global Health Security Initiative (GHSI) und beratend für die Berufsgenossenschaft tätig.
Das InstRadBioBw ist zudem Liaison Institut des Radiation Emergency Medical Preparedness and Assistance Network (REMPAN) der WHO und aktiv im Response and Assistance Network (RANET) der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) involviert. In diesen und vielen weiteren Gremien engagieren sich auch weitere Mitarbeiter des Institutes. Aktive Mitarbeit in Strahlenschutzvereinigungen, darunter dem europäischen Biodosimetrienetzwerk (RENEB), dem Fachverband Strahlenschutz oder der internationalen Vereinigung für Retrospektive Dosimetrie (IABERD) sichert auch hier den Zugang zu Wissen und bedient die zivil-militärische Zusammenarbeit.
Die aktive Beteiligung des InstRadBioBw an internationalen Tagungen bildet eine weitere Plattform zum Wissensaustausch, der darüber hinaus durch eine eigene Strahlenschutztagung gefördert wird. Unter dem Kürzel „ConRad“ (Conference on Radiation Topics) finden im zweijährigen Turnus an der Sanitätsakademie der Bundeswehr (SanAkBw) diese institutseigenen, international besetzten und sehr gut besuchten Strahlenschutztagungen statt. Ein herausragendes Ergebnis bzgl. der Erarbeitung von Empfehlungen ist ein Lehrbuch zur Strahlennotfallmedizin der SSK [25]. In diesem Zusammenhang ist auch eine Empfehlung zum „Stockpiling“ (Vorratshaltung) der WHO zu nennen [281].
Das InstRadBioBw bildet approbierte Soldatinnen und Soldaten an der SanAkBw sowie auch Studierende im englischsprachigen Masterstudiengang Radiobiologie der Technischen Universität München aus. Auch wurde ein Kurs (StTARS Workshop) zur Anwendung von Softwaretools für die Triage von Strahlenverunfallten entwickelt und angeboten. Kurzfristige Fortbildungen im Bereich des medizinischen Managements akuter Strahlenschäden wurden in Anbetracht der aktuellen Bedrohungssituation auch für Ärzte und Ärztinnen in der Ukraine durchgeführt.
Forschung zur Verbesserung der Diagnostik
In Hinblick auf konkrete und unmittelbare Anwendbarkeit forscht das InstRadBioBw u. a. an der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der diagnostischen Fähigkeiten akuter oder später auftretender gesundheitlicher Strahlenschäden. Hier sind im Besonderen die biologische Dosimetrie sowie Neuentwicklungen zur Vorhersage akut auftretender gesundheitlicher Strahlenschäden zu nennen (Abbildung 2).
H-Modul
Zur Triage innerhalb der ersten Tage nach Strahlenexposition konnte eine IT-basierte Lösung entwickelt werden, welche auf Grundlage der weltweit größten Datenbank für Strahlenunfallpatienten eine Prognoseabschätzung mittels Differenzialblutbild ermöglicht [5][13][14]. Es können nun bereits anhand von Lymphozyten-, Granulozyten- und Thrombozyten-Werten eines einzelnen Tages Vorhersagen für ein sich eventuell später entwickelndes schweres Strahlensyndrom getroffen werden. Ein einziges Blutbild ist ausreichend, um nach einer Exposition mit einem Vorhersagewert zwischen 75 % und 96 % eine richtige Diagnose zu stellen und eine erste Triage durchzuführen. Somit können Patienten entweder der ambulanten Überwachung oder der stationären Therapie einschließlich eines möglicherweise indizierten Zytokineinsatzes zugeführt werden. Die einfache und sehr frühe Nutzbarkeit, die weit verfügbare Möglichkeit der Erstellung von Differenzialblutbildern und die hohe Verlässlichkeit machen das Tool zusammen mit typischen, wenn auch nicht spezifischen klinischen Zeichen (u. a. Übelkeit, Erbrechen, Temperaturanstieg, Diarrhoe, Erythem) als schnell zu trainierendes und hochskalierbares Werkzeug für die Verwendung im Rahmen eines Nuklearwaffenszenars besonders geeignet. Das sogenannte „H-Modul“ steht als App für Android und Apple frei zur Verfügung. Nachteilig bei der app-basierten Version ist, dass Blutbilder immer nur von einem Patienten nacheinander eingegeben und analysiert werden können. Um hunderte oder tausende Blutbilder im Hochdurchsatz zu analysieren, wurde kürzlich eine serverbasierte Version der App online gestellt. Nach Eingabe der Blutbilder als definierte Datensätze wird eine Auswertung durchgeführt und die für den Kliniker entscheidenden Therapieempfehlungen für jeden einzelnen potenziellen Patienten generiert. Zur Einweisung in solche und andere Software-Triagetools dient der von der NATO-Forschungsgruppe entwickelter Kurs namens „Software Tools for the Evaluation of Clinical Signs and Symptoms in the Medical Management of Acute Radiation Syndrome“ (StTARS). Dieser Workshop wurde 2019 zum ersten Mal unter Federführung des InstRadBioBw und in enger Kooperation mit Partnern aus Frankreich und Großbritannien durchgeführt. Der nächste StTARS-Workshop ist für November 2023 in den USA geplant.
Bio-Dosimetrie
Mit einer Gensignatur von vier Genen hat das InstRadBioBw eine PCR-basierte Diagnostikplattform entwickelt [17], die sich nicht nur in Ringversuchen als Triagetool hervorragend bewährt, sondern auch gut skalierbar ist, was in einem realen wissenschaftlichen Versuch mit der Bearbeitung von 1 000 Proben in 30 h (unter optimalen Voraussetzungen) gezeigt werden konnte [18]. Auch diese Signatur steht der Fachöffentlichkeit zur Nutzung zur Verfügung und könnte unkritisch in weitere Laborstrukturen der Bundeswehr überführt werden. Derzeit arbeitet das Institut an der Möglichkeit, diese Fähigkeit auch als „Point of Care“ Diagnostik basierend auf einer mikrofluidischen Karte zu etablieren. Weitere Entwicklungen zielen auf eine weiter verbesserte Sensitivität in den Bereich kleinster Strahlendosen ab. Zudem wird an einer Verwendung leichter zugänglichen Patientenmaterials, wie z. B. der Nutzung von Speichelproben, gearbeitet.
Weitere anwendungsrelevante Ergebnisse der Forschung finden sich auch bei Radionuklidinkorporationen, welche mittels Proteinmarker sehr empfindlich durch eine interne Arbeitsgruppe nachgewiesen werden können [20][21]. Zusammen mit der neu aufzubauenden Expertise eines diagnostischen Radionuklidlabors kann hier an der Generierung dringend benötigten Wissens auch für inkorporierte Radionuklide nach Nuklearwaffeneinsatz gearbeitet werden.
Etablierte und am InstRadBioBw sogar akkreditierte Standardtechniken wie die Zytogenetik – das Arbeitspferd der Biodosimetrie – werden mit Hochdruck weiterentwickelt. So sind derzeit Untersuchungen zu Neutronenbestrahlung und gemischten Strahlenfeldern in der Planung. Weitere hochinnovative Felder der Diagnostik, aber auch im Hinblick auf Folgeschäden und neuen Therapieoptionen werden von weiteren Forschungsgruppen des Instituts bearbeitet. Ein Artikel zu Sequenzierungstechniken ist in dieser Ausgabe zu finden.
Anwendung und Bereitstellung der Expertise
Mit der Schaffung einer Task-Force medizinischer A-Schutz und der „Reachback“-Fähigkeit steht das Wissen für Soldatinnen und Soldaten und auch für zivile Einrichtungen zur Verfügung. Die Expertise der Task-Force speist sich aus den eigenen Forschungsergebnissen, aber auch dem Wissensaustausch aus Gremien und Kongressen. Bestehend aus einem Team von in Strahlennotfallmedizin ausgebildeten Ärzten und Ärztinnen sowie technischem Personal können sowohl militärische wie auch zivile Szenare unterstützt werden. Die weltweit einsetzbare und schnell verlegbare Gruppe kann ihr Wissen vor Ort verfügbar machen und weitere Partner, wie Dekorporationseinrichtungen, Sanitätseinrichtungen der Ebenen Role 2–4 unterstützen sowie bei der Patientenversorgung beratend zur Seite stehen. Die am Institut etablierten Fähigkeiten zur physikalischen und klinischen Dosimetrie können Nuklearwaffenopfern unmittelbar zu Gute kommen.
Eine wesentliche Aufgabe ist auch die Probengewinnung, die dann zu diagnostischen Zwecken im Institut, der „Reachback“-Einrichtung untersucht werden können. Nicht zu vernachlässigen ist die hohe Expertise um die schädigenden Wirkungen ionisierender Strahlung im InstRadBioBw sowie der angeschlossen Task Force. Dieses Wissen dient nicht nur den Patienten, sondern mittels vorhandener Mess- und Schutzmöglichkeiten auch der Sicherheit des eingesetzten Personals. Letzteres ist auch zur Steigerung der Resilienz von in Radiobiologie wenig ausgebildeten Soldatinnen und Soldaten extrem wertvoll, was sich nicht zuletzt in Übungen eindrücklich gezeigt hat.
Reservisten als Multiplikatoren
Zur Erhöhung der Durchhaltefähigkeit, aber auch zum Transfer des Wissens in den zivilen Bereich, dient die intensive Reservistenarbeit am InstRadBioBw.
Um nukleare Szenare unterstützen zu können, trainieren Soldatinnen und Soldaten des Institutes sowie Reservisten regelmäßig, zuletzt um Aufnahmeübungen in die beiden internen „Prime“-Partner, Bundeswehrkrankenhaus Ulm und Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz erweitert (Abbildung 3). Beide Krankenhäuser sind aufgrund der verfügbaren nuklearmedizinischen Expertise und der hohen Versorgungsqualität in Anästhesie, Innerer Medizin, Chirurgie, Dermatologie und weiteren Fächern prinzipiell sehr gut zur Versorgung von Patienten nach Nuklearwaffeneinsatz geeignet, benötigen aber neben zusätzlicher Weiterbildung in der Strahlennotfallmedizin noch eine Aufwertung der technischen und infrastrukturellen Voraussetzungen.
Können wir mit dem Erreichten zufrieden sein und uns vielleicht sogar zurücklehnen?
Diese Frage ist eindeutig mit „Nein – keineswegs!“ zu beantworten. Die Vorbereitung für Strahlennotfallereignisse weist in Deutschland selbst für kleine Ereignisse noch große Lücken auf. Das Wissen über die gesundheitlichen Folgen von Patienten und deren optimaler Versorgung bei MasCal-Szenaren (Mass Casualty) nach einem Nuklearwaffeneinsatz bedarf größerer Anstrengungen als wir in den vergangenen Jahren bereit waren zu investieren.
Verbesserungspotenziale
Welche Verbesserungspotenziale sehen die Autoren zur Erhöhung der Resilienz in Bundeswehr und Gesellschaft für die medizinischen Fähigkeiten bei einem Nuklearwaffeneinsatz?
- Ausbildung an Schulen, Universitäten etc. zu ionisierender Strahlung
Grundlegendes Wissen zur Radioaktivität kann leider nicht mehr vorausgesetzt werden. Mit dem Ausstieg aus der Kernenergie scheint sich dieser Wissensverlust zu beschleunigen, bei gleichzeitig intensiverer Nutzung ionisierender Strahlung weltweit in Industrie und Medizin sowie bei gesteigerten Bedrohungslagen durch Nuklearwaffen in Europa und der Welt.
- Wissensetablierung für radionuklearen Katastrophenschutz in der Bevölkerung
Wesentliche Kenntnisse, die dem unmittelbaren Schutz gegen Folgen von Nuklearwaffen dienen, sollten jedem Bürger bekannt sein. Dazu gehören auch sehr einfache und wirksame Maßnahmen, wie „go inside, stay inside, stay tuned“ und die Gründe für diese Empfehlungen.
- Schaffung designierter und sicher vorbereiteter Krankenhäuser für Strahlennotfallpatienten inklusive Übungen
Die Versorgung von Patienten erfordert geschultes Personal und angepasste Notfallpläne. Entsprechende von nationalen und internationalen Fach- und Beratungsgremien ausgearbeitete Handlungsoptionen sollten konsequenter umgesetzt werden. Dazu gehören zwingend auch Übungen mit Krankenhäusern, damit die gesamte Versorgungskette abgebildet und trainiert wird.
- Ausbildung von Strahlennotfallmedizinern und Behandlungsteams für radionukleare Szenare
Nur mit fachgerecht ausgebildeten Teams sind nukleare Großschadensereignisse nach heutigem Wissenstand angemessen zu versorgen. Die Bundeswehr bildet hier bereits deutlich intensiver und umfangreicher aus als vergleichbare zivile Institutionen. Eine strukturierte Ausbildung im zivilen Bereich wird aber auch Anpassungen der internen Trainings erfordern. Auch gilt es, psychologisch geschulte Kriseninterventionsteams in Fragen der Strahlenbiologie und des Strahlenschutzes zu schulen.
- Etablierung vonMedikamenten-Stockpiles zur Dekorporation und Therapie des akuten Strahlensyndroms für radionukleare Massenereignisse
Dieses kontroverse Thema wird derzeit international diskutiert. Ein angemessener „Stockpile“ sollte aktuelle Empfehlungen, wie die gerade Erarbeiteten der WHO, berücksichtigen. Zur medizinischen Vorbereitung gegen Nuklearwaffenfolgen gehören auch innovative Medikamente wie Zytokine.
- Professionalisierung der Task-Force medizinischer A-Schutz
Eine kontinuierliche Weiterentwicklung auch der opertiven Fähigkeiten von Ressortforschungsinstituten ist bei gleichzeitig schwindendem Engagement außerhalb des staatlichen Bereiches zwingend erforderlich. Diese Forderung betrifft die zivilen Ressorteinrichtungen ebenso wie die Bundeswehr. Beispielgebend sollte hier die Ausbildung der Komponente des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr sein.
- Optimierung der Weiterbildung, Ausstattung und Infrastruktur für designierte Bundeswehrkrankenhäuser
Nur mit hochmotiviertem und „top“ ausgebildetem Personal kann radionuklearen Großschadensereignissen, wie dem Einsatz von Nuklearwaffen, angemessen begegnet werden. Dazu gehört auch die angemessene Verbesserung von Ausstattung und Infrastruktur. Nicht zuletzt der Eigenschutz der Behandlungsteams muss vollends gewährleistet und den bestehenden Ängsten des Krankenhauspersonals vor ionisierender Strahlung angemessen begegnet werden.
Schlussbemerkung
Auch wenn die Auswirkungen eines Kernwaffeneinsatzes verheerend und in ihrem Umfang kaum vorherzusagen sind, so ist es existentiell, sich militärisch auf ein solches Szenario vorzubereiten. Das kann auf sanitätsdienstlicher Ebene nur durch regelmäßige Trainings und intensive Forschung geschehen. Die Bundeswehr ist hier bereits sehr gut aufgestellt, und es wird stetig an einer Weiterentwicklung gearbeitet. Die glücklicherweise geringe Wahrscheinlichkeit für einen solchen Einsatz darf in Angesicht der möglichen tausenden von Verwundeten und medizinisch zu Versorgenden nicht als Grund angesehen werden, ein solches Szenario in der Vorbereitung zu vernachlässigen.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Hermann C, Ostheim P, Lamkowski A, Diekmeyer B, Eder S, Grunert M, Klemenz B, Abend M, Port M: In welchem Umfang können wir uns medizinisch auf den militärischen oder terroristischen Einsatz von Nuklearwaffen vorbereiten? WMM 2023; 67(3): 65-71.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-103
Für die Verfasser
Oberstabsapotheker Cornelius Hermann
Institut für Radiobiologie der Bundeswehr
Arbeitsgruppe Proteomics
Neuherbergstraße 11, 80937 München
E-Mail: corneliushermann@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Hermann C, Ostheim P, Lamkowski A, Diekmeyer B, Eder S, Grunert M, Klemenz B, Abend M, Port M: [To what Extent can we Prepare for the Military or Terroristic Use of Nuclear Weapons from a Medical Perspective?]. WMM 2023; 67(3): 65-71.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-103
For the Authors
Major (pharm) Cornelius Hermann
Bundeswehr Institute of Radiobiology
Proteomics Working Group
Neuherbergstrasse 11, D-80937 München
E-Mail: corneliushermann@bundeswehr.org
1 Gy = Gray: Maßeinheit für die Energiedosis, die durch ionisierende Strahlung von einer Masse absorbiert wird; 1 Gy entspricht einer aufgenommene Energiedosis von 1 J/kg.