Das Schiffslazarett der Zukunft
The Sickbay of the Future
Marika Schrötera, Markus M. Ringa, Marc Fahrbachb
a Marinekommando, Marinesanitätsdienst
b MTG Marinetechnik GmbH
Zusammenfassung
Hintergrund: 2019 wurde der unabhängige maritime Ingenieurdienstleister MTG Marinetechnik GmbH durch das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw), Abteilung See 1.5 damit beauftragt, die überarbeitungsbedürftige und vielfach inhomogene Bauvorschrift für Wasserfahrzeuge der Bundeswehr (BV) in ein neues und harmonisiertes Format zu überführen.
Das Resultat, der Deutsche Marinestandard für Wasserfahrzeuge der Bundeswehr (DMS), wird als Nachfolger der BV nicht nur den Entwurf zukünftiger Schiffs- und Bootsklassen der Deutschen Marine prägen, sondern im Rahmen der technischen Möglichkeiten auch bei der Modernisierung von Bestandseinheiten als Maßstab für zeitgemäße Baustandards herangezogen werden.
Procedere: Im Januar 2021 übernahm das Referat Konzeption/Planung des Marinesanitätsdienstes die Federführung bei der Gestaltung des DMS-Teils 1850 „Sanitätseinrichtungen“. Dieser soll als zukünftiges normatives Bindeglied zwischen den Werften und dem Bordsanitätsdienst eine adäquate Gesundheitsversorgung von Soldatinnen und Soldaten an Bord von seegehenden Einheiten der Bundeswehr gewährleisten.
Methoden: In wöchentlichen Videokonferenzen wurde dem noch gültigen gleichnamigen Heft 1850 der BV unter intensiver Einbindung von Erfahrungsträgern und Experten vor allem aus der Marine und dem Zentralen Sanitätsdienst eine neue, klare Struktur und Sprache verliehen. Gleichzeitig wurden der aktuelle Stand der Wissenschaft und Normenlandschaft, wie auch die zahlreichen Erfahrungen aus der Flotte berücksichtigt und einbezogen. Die Zusammenarbeit zwischen der im Entwurf von Marineschiffen erfahrenen MTG Marinetechnik GmbH und dem Marinesanitätsdienst stellte dabei sicher, dass die relevanten sanitätsdienstlichen Aspekte in einem realistischen schiffbaulichen Rahmen berücksichtigt werden.
Schlüsselwörter: Bauvorschrift, Deutscher Marinestandard (DMS), Schiffslazarett, Bordsanitätsdienst
Summary
Background: In 2019, the independent provider of maritime engineering services MTG Marinetechnik GmbH was assigned by the Federal Office of Bundeswehr Equipment, Information Technology and In-Service Support (BAAINBw) Sea Directorate 1.5 to revise the Construction Regulations for Bundeswehr Vessels (BV), that were in need of an update and often inhomogeneous, and to develop a new and harmonized format.
The result of this work is the German Navy Standard for Bundeswehr Vessels (German “Deutsche Marinestandard für Wasserfahrzeuge der Bundeswehr”, DMS). As the successor to the Design Specifications (BV), the DMS will not only make an impact on the design of future German Navy ship and boat classes, but it will also be consulted for modernizations of platforms already in service within the framework of technical means while serving as a benchmark for up-to-date design standards.
Approach: In January 2021, the Concepts and Planning Branch of the Naval Medical Service assumed the lead responsibility for compiling the German Navy Standard, Part 1850 “Medical Facilities”. As a future normative link between the shipyards and the shipboard medical service, this standard is to ensure appropriate healthcare for German Navy personnel aboard the Bundeswehr seagoing units.
Methodology: In weekly video conferences and with a deep involvement of experienced personnel and experts mainly from the Navy and the Central Medical Service, a new, clear structure and language was created for the still valid Design Specifications, Volume 1850. The latest academic findings and regulations were considered and incorporated in the DMS as well as the numerous lessons learned from the German Navy personnel. The cooperation between MTG Marinetechnik GmbH, whose experts are experienced in naval ship design, and the Naval Medical Service ensured that relevant medical aspects were considered within a realistic framework of ship construction.
Keywords: Design Specification (BV), German Navy Standard (DMS), medical facilities, shipboard medical service
Der Marinesanitätsdienst bedankt sich an dieser Stelle bei allen Beteiligten. Ohne ihre konstruktive und zielorientierte Unterstützung wäre das vorliegende Ergebnis nicht möglich gewesen.
Grundauslegungen
Im zukünftigen DMS wird es drei funktional abgestufte Grundauslegungen A, B und C für militärisch besetzte Überwassereinheiten der Bundeswehr geben.
Die Grundauslegung C ermöglicht Fregatten und anderen hochseetauglichen und autonom weltweit einsetzbaren Einheiten zusätzlich zur notfallmedizinischen Versorgung (Grundauslegung A, z. B. für Landungs- und Kampfboote) und zur truppenärztlichen Versorgung (Grundauslegung B, z. B. für Korvetten und Minenabwehreinheiten) die intensivmedizinische Versorgung, einschließlich einer anschließenden mehrtägigen Intensivpflege sowie die zahnmedizinische Grund- und Notfallversorgung. Darüber hinaus gewährleistet ein vom Schiffslazarett disloziertes Schiffsnotlazarett bei der Grundauslegung C eine redundante notfallmedizinische Versorgung von Verwundeten auch bei Ausfall oder Unzugänglichkeit des Schiffslazaretts im Schadens- oder Trefferfall.
Eine gesonderte Grundauslegung U für Uboote soll die Möglichkeit schaffen, auf kleinstem Raum ein Maximum an sanitätsdienstlichen Möglichkeiten für den autonomen Einsatz zu realisieren.
Schiffslazarett der Grundauslegungen B und C
Während die Grundauslegungen A und U jeweils nur einen bedarfsweise in einem Raum mit anderer Hauptfunktion, z. B. eine Messe, einzurichtenden Behandlungsplatz mit einem Grundstock an Sanitätsmaterial vorsehen, bieten die Grundauslegungen B und C jeweils ein zweckoptimiertes Schiffslazarett. Die dem Schiffslazarett zugehörigen Sanitätsräume umfassen jeweils einen Behandlungsraum, der auch kleinere Eingriffe ermöglicht, dazu einen Labor- und Aufbereitungsraum sowie mindestens einen Krankenraum mit jeweils einem Krankenbett für je 100 sanitätsdienstlich zu versorgende Personen.
Die Sanitätsräume des Schiffslazaretts werden in beiden Grundauslegungen durch Lasten für Medizinprodukte und Arzneimittel ergänzt.
Bei der Grundauslegung C kommt des Weiteren ein Eingriffsraum mit einer direkt daran angeschlossenen Sterilgutlast für die eingeschiffte Bordfacharztgruppe hinzu. Der Eingriffsraum ermöglicht durch seine räumliche Nähe und ausreichende Tür- und Gangabmessungen einen schonenden und schnellen Patiententransport zum und vom Krankenraum mit rollbarem Patiententransportgerät inklusive handelsüblichen Krankenhausbetten.
Für die umfangreichere Administration erhält die Grundauslegung C einen dem Behandlungsraum vorgeschalteten Vorraum mit der Patientenanmeldung und eine Sanitätsschreibstube.
Schiffsnotlazarett der Grundauslegung C
Das Schiffsnotlazarett der Grundauslegung C umfasst einen Notbehandlungsraum mit einem angeschlossenen Aufbereitungsraum. Beide Räume sind dafür ausgelegt, außerhalb des Gefechts durch eine eingeschiffte Bordzahnarztgruppe genutzt und bei Gefechtsalarm schnell umgerüstet zu werden. Für die zahnmedizinische Behandlung sind im Notbehandlungsraum unter anderem Stauraum und Ablageflächen in kopfseitiger Verlängerung des zum Stuhl umbaubaren Mehrzweck-OP-Tisches vorgesehen. Der OP-Tisch muss die Möglichkeit bieten, die aktuell in Einführung befindliche Bordzahnstation anzubauen und sie alternativ zu ihrem zugehörigen geräuschintensiven Kompressor über einen schiffsseitigen Druckluftanschluss zu betreiben. Der Aufbereitungsraum ist mit kompakten Geräten und Einrichtungen für die alltägliche Reinigung und Sterilisation von zahnmedizinischem Instrumentarium ausgestattet.
Unterkunftsräume für infektionsverdächtige Personen
Für infektionsverdächtige Personen, deren Gesamtzustand keine stationäre Aufnahme im Schiffslazarett erforderlich macht, müssen zukünftig Besatzungsunterkünfte mit mindestens 15 Prozent der vorhandenen Kojenplätze zusammen mit ihren zugehörigen Sanitärräumen so angeordnet und ausgelegt werden, dass eine temporäre Absonderung von der Restbesatzung möglich ist.
Lagerung von Sanitätsmaterial
Der Mangel an Stauraum für Medizinprodukte, Arzneimittel, Sterilgut und anderes Sanitätsmaterial und die jeweils zugehörigen Packgefäße ist eine zentrale negative Erfahrung im Marinesanitätsdienst an Bord von fahrenden Schiffen und Booten der Bundeswehr. Aus diesem Grund wurde gegenüber der gültigen BV, Heft 1850 in allen Grundauslegungen der vorzusehende Stauraum in den Sanitätsräumen, auf den Verband- und Behandlungsplätzen sowie in den zum Schiffslazarett der Grundauslegungen B und C gehörigen Sanitätsmateriallasten deutlich erhöht bzw. konkretisiert.
Die geforderten Regale und Stausysteme für Medizinprodukte sollen sowohl für die in der Bundeswehr vielfach eingesetzten San-Verpackungskästen als auch für nicht genormte Transportverpackungen geeignet sein. Arzneimittel sollen übersichtlich innerhalb von verschließbaren Schränken in entnehmbaren Auszugskörben gelagert werden. Die verwendungsnah platzierten staubdichten Schränke für chirurgisches Sterilgut müssen sowohl Behälter mit steril verpacktem Einmalinstrumentarium als auch marktgängige Sterilisierbehälter für an Bord aufzubereitendes Sterilgut aufnehmen können. Auch Details, wie Staumöbel für die persönliche Bekleidung und Schutzausrüstung des Bordsanitätspersonals werden im DMS-Teil 1850 bedacht.
Die Grundauslegungen B und C sehen für den Fall des Verlusts oder der Unzugänglichkeit des Schiffslazaretts im Schadens- oder Trefferfall eine ergänzende, vom Schiffslazarett weit entfernt angeordnete Sanitätsmateriallast für einen ausreichenden Notvorrat an Sanitätsmaterial vor. Diese ist bei der Grundauslegung C ein integraler Bestandteil des Schiffsnotlazaretts, während sie bei der Grundauslegung B einem vom Schiffslazarett dislozierten Verbandplatz zugeordnet ist.
Zusatzelemente
Neben den Verbandsplätzen berücksichtigt der DMS-Teil 1850 noch weitere sogenannte Zusatzelemente, darunter die an Bord zu verteilenden Erste-Hilfe-Ausrüstungen für die Selbst- und Kameradenhilfe, die mobilen Ausrüstungssätze für die Helfer im Sanitätsdienst („Ersthelfer Bravo“) sowie lokale Plätze für die Erstbehandlung mit mobilem Gerät, z. B. im schiffsseitigen Zugangsbereich von Bereitschaftsbooten und von direkt vom Schiff aus einsetzbaren Systemen zur Personenbergung bzw. -rettung aus dem Wasser.
Hinzu kommen jeweils grundauslegungsspezifische Regelungen für die Erzeugung, Lagerung und Verteilung von medizinischem Sauerstoff sowie spezifische und allgemeine Regelungen für den schiffsinternen Patiententransport, den Patiententransfer in See und im Hafen, die Patientenverpflegung, die hygienegerechte Handhabung von verschmutztem Speisegeschirr, Schmutzwäsche und Abfällen aus Sanitätsräumen sowie die nicht auszuschließende bedarfsweise Handhabung und Aufbewahrung von Toten.
Weitere entwurfsspezifische Zusatzelemente sind Mittel für die normobare und hyperbare Sauerstoffbehandlung (u. a. Taucherdruckkammer) sowie die auf ABC-geschützten Einheiten der Bundeswehr erforderlichen Vorkehrungen zum medizinischen ABC-Schutz.
Ähnliche Herausforderungen gelten auch für die Einbootung und platzintensive Unterbringung von Liegend-Patientinnen und -Patienten in Überlebensfahrzeugen im Fall einer Havarie oder der Evakuierung der Einheit. Auch dieses Thema wird im DMS-Teil 1850 adressiert.
Stücklisten und Musterskizzen
Bei der Erarbeitung der im DMS-Teil 1850 enthaltenen Geräte- und Möbelstücklisten sowie den skizzierten Musterlösungen der Grundauslegungen B und C wurde große Sorgfalt daraufgelegt, sowohl aus medizinischer Sicht zweckmäßige als auch funktional und ergonomisch durchdachte Lösungen vorzusehen, die sich technisch an Bord schwimmender Einheiten umsetzen und unter den Bedingungen des nautischen Bordbetriebs einsetzen lassen. Beispielsweise sehen die in Eingriffs-, Behandlungs- und Notbehandlungsräumen einheitlich geforderten Mehrzweck-OP-Tische jeweils ausreichende Arbeits- und Behandlungsfreiräume zu allen Seiten vor. Gleichzeitig sind die OP-Tische so in den Räumen anzuordnen, dass mindestens eine grobe Trennung von reinen und unreinen Raumbereichen möglich ist und an den Raumwänden gehalterte und angeschlossene Beatmungs- und andere Medizingeräte sowohl bei Eingriffen an der unteren wie auch an der oberen Körperhälfte über möglichst kurze Distanzen zum OP-Tisch geführt werden können.
Neben der sanitätsdienstlichen Praxistauglichkeit berücksichtigen die im DMS-Teil 1850 skizzierten Musterlösungen der Grundauslegungen B und C aber auch schiffstypische Notwendigkeiten und Gegebenheiten wie beispielsweise Treppenschächte, Klimageräte, E-Verteiler, Fluchtwege sowie Decksstützen, Wandversteifungen und andere unvermeidbare strukturelle Bauteile. Die in den Musterskizzen dargestellte Trennung der innerhalb einer wasserdichten Abteilung an Steuerbord- und Backbordseite auf demselben Deck angeordneten Sanitätsräume und Sanitätsmateriallasten durch einen zentralen, öffentlichen Mittellängsgang ist aus Sicht des Sanitätsdienstes nicht optimal, entspricht aber der gängigen Entwurfspraxis für deutsche Kampfeinheiten.
Im vollem Bewusstsein, dass es sich bei den Musterlösungen im DMS-Teil 1850 trotz aller berücksichtigten Details nur um eine generische Lösung handeln kann und jeder konkrete Schiffsentwurf andere räumliche Voraussetzungen (z. B. Abteilungsabmessungen) bietet, wurden die Vorgaben so formuliert, dass unumstößliche medizinische Mindestanforderungen gewahrt werden und dem Auftragnehmer gleichzeitig technische Freiräume zur Adaption und zur Anpassung verbleiben.
MIT-Netz
Zum ersten Mal wird ein schiffsklassenübergreifend standardisierter generischer Forderungskatalog für ein medizinisches IT-Netzwerk (MIT-Netz) bereitgestellt. Dieses MIT-Netz ist die Grundlage für eine wirksame digitale Arbeitsablaufunterstützung des Bordsanitätsdienstes in der Heimat und im weltweiten autarken Einsatz. Es vereint die Anforderungen aus dem marinespezifischen Seebetrieb mit den Anforderungen aus der Gesundheitsversorgung. In die kommenden Fortschreibungen des DMS Teil 1850 werden weiterhin die Erkenntnisse aus den laufenden Rüstungsprojekten für medizinische IT-Ausstattungen an Bord einfließen. Umgekehrt werden kommende Realisierungen und in den Instandsetzungsphasen der Bestandseinheiten vorzunehmende Ertüchtigungen auf projektspezifischen Detaillierungen des DMS basieren.
Das MIT-Netz umfasst Netzwerkkomponenten, zentrale Rechenzentrumskomponenten, Arbeitsplatzrechner (mobil und stationär), Mobilgeräte, Medizinprodukte (z. B. Patientenmonitor, EKG, Laborgerät, Beatmungsgerät, Röntgengeräte), medizinische Fachanwendungen (z. B. Medizinisches Informationssystem (MIS), Arzneimitteldatenbank, Arzneimitteltherapiesicherheitssoftware, Picture Archiving and Communication System (PACS)) und Bürokommunikation (z. B. E-Mail, Office, Bildbearbeitung, Kalender, Chat). Dabei sind neben den sanitätseinrichtungsinternen auch sanitätseinrichtungsübergreifende Arbeitsabläufe, z. B. mit Bundeswehrkrankenhäusern, vorgesehen. Die einrichtungsübergreifenden Abläufe verbinden z. B. das MIS an Bord mit dem MIS im Geschwadersanitätsbereich bzw. für Konsile das MIS an Bord mit dem Klinikinformationssystem im Krankenhaus oder das PACS an Bord für die Befundung mit dem PACS in der Klinik. Ergänzt wird die strukturierte Zusammenarbeit mit telemedizinischen Funktionen für gleichzeitige oder versetzte Kommunikation u. a. mit Text-Chat oder Audio- und Video-Konferenz.
Im Gegensatz zur Situation der Bundeswehrkrankenhäuser ist, während die Einheiten in See stehen, keine kurzfristige Unterstützung durch Medizinproduktehersteller oder andere zivile Dienstleister für medizinische IT-Systeme vor Ort möglich. Aus Gründen der militärischen Sicherheit ist auch die Fernwartung auf die marineinterne Einrichtung für Support von medizinischer IT beschränkt. Die Fernwartung aus der Marine soll, zusammen mit einer maximalen Automatisierung, den durchgehenden Betrieb an Bord unterstützen und das Bordkommando so weit wie möglich in den Betriebsaufgaben entlasten.
Fazit
Zusammenfassend ist festzustellen, dass bei der Neufassung der alten Bauvorschrift in Form des DMS-Teil 1850 die Chance genutzt wurde, eine Grundlage zu schaffen, um neu zulaufende schwimmende Einheiten mit Sanitätseinrichtungen auszustatten, die den zukünftigen Anforderungen der Einsätze der Deutschen Marine gerecht werden können.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Schröter M: Das Schiffslazarett der Zukunft. WMM 2022; 66(9-10): 347-351.
Für die Verfasser
Oberstabsarzt Marika Schröter
Marinekommando
Marinesanitätsdienst
Referat Planung/Konzeption
Kopernikusstraße 1 ,18057 Rostock
E-Mail: marikaschroeter@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Schröter M: The Sickbay of the Future. WMM 2022; 66(9-10): 347-351.
For the Authors
Lieutenant Commander (Navy MC) Marika Schröter
Navy Command
Navy Medical Service
Department Planning and Concepts
Kopernikusstraße 1 D-8057 Rostock
E-Mail: marikaschroeter@bundeswehr.org
Digitales Beschwerde- und Meinungsmanagement im Marinesanitätsdienst
Digital Appeal and Feedback Management in the Medical Service of the Navy
Marika Schrötera
a Marinekommando, Marinesanitätsdienst
Zusammenfassung
Hintergrund: Das ärztliche Qualitätsmanagement ist Teil der medizinischen Tätigkeit und somit auch Teil der sanitätsdienstlichen Versorgung an Bord seegehender Einheiten. Das Beschwerde- und Meinungsmanagement ist Bestandteil des Qualitätsmanagements. Mit dem nachfolgenden Konzept soll diese Fähigkeit an Bord wiederhergestellt werden.
Schlüsselwörter: Qualitätsmanagement, Beschwerde- und Meinungsmanagement, Digitalisierung, Innovation, Intrapreneurship
Summary
Background: Medical quality management forms part of medical support, and is thus also part of medical care aboard seagoing units. Appeal and feedback management is a component of quality management. With the following concept, this capability shall once again be established on board.
Key words: Medical quality management, Appeal and feedback management, digitization, innovation, intrapreneurship
Einleitung
Das Beschwerde- und Meinungsmanagement ist ein Bereich des Qualitätsmanagements zur Erfassung, Analyse und Auswertung von Patientenäußerungen. Mit diesem Konzept wird der analoge Kummerkasten mittels Digitalisierung aktualisiert.
Soziologie an Bord seegehender Einheiten der Marine
Die Schiffsbesatzung ist das perfekte Beispiel einer Totalen Institution, denn „dieSchranken,dienormalerweisediedreiLebensbereiche(desSchlafens,desSpielens, des Arbeitens) voneinander trennen“[6] sind an Bord aufgehoben.
Die soziale Struktur an Bord ist von ausgeprägter Asymmetrie bestimmt. Als Teil dieser asymmetrischen sozialen Struktur bildet der Bordsanitätsdienst den organisatorisch-institutionellen Rahmen für die Arzt-Patient-Beziehung an Bord.
Die Arzt-Patient-Beziehung ist von verschiedenen Merkmalen geprägt. Hierzu zählt die unterschiedliche Wissensverteilung, wobei der Schiffsarzt/die Schiffsärztin der Experte/die Expertin und der Patient/die Patientin der Laie ist. Weiterhin befinden sich Schiffsarzt/Schiffsärztin und Patient/Patientin in unterschiedlichen sozialen Rollen. Der Patient/die Patientin ist der/die Hilfesuchende und der Arzt/die Ärztin hat die Definitionsmacht (Diagnosestellung, Krankschreibung, Repatriierung/Ausschiffung). Auch die Steuerungsmacht liegt an Bord deutlich bei dem Schiffsarzt/der Schiffsärztin, denn anders als an Land, hat der Patient/die Patientin nicht die Möglichkeit, den Arzt/die Ärztin frei zu wählen, da sich keine weiteren Kollegen/Kolleginnen an Bord befinden. Die Verhandlungsmacht des Patienten/der Patientin ist somit massiv eingeschränkt.
In einer solch asymmetrischen Beziehung, wie sie hier aufgezeigt ist, können sich latente Konflikte finden, die sich in umgeleiteten Konflikten äußern. In der Arzt- Patient-Beziehung sind latente interpersonelle Konflikte zu erwarten, die strukturinduziert sind. Eine aufgetretene Erwartungsenttäuschung aufseiten des Patienten/der Patientin wird unter diesen Bedingungen eventuell nicht angesprochen, da es nicht jedem Patienten/jeder Patientin gegeben ist, Kritik oder Konflikte direkt zu artikulieren.
Auch die Formen der klinischen Entscheidungsfindung unter medizinischen und nicht medizinischen Aspekten (z. B. Hafenplanung) birgt Konfliktpotential und hat u. a. Einfluss auf das Kontrollgefühl des Patienten/der Patientin.
Ferner können Behandlungsfehler Anlass für Kritik sein und sind in 80 % der Fälle auf Prozessfehler zurückzuführen [8]. Diese sind mittels eines umfassenden funktionierenden Qualitätsmanagements vermeidbar. An Bord wird die Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung durch die Asymmetrie des Bordlebens verstärkt.
Konzept
Das Konzept des digitalen Beschwerde- und Meinungsmanagements bietet dem/der Patienten/Patientin mittels eines QR-Codes, den er/sie mit dem privaten Smartphone scannt, die niedrigschwellige Möglichkeit, Feedback anhand eines Fragebogens und Freitextes äußern zu können. Über eine Eingabemaske kann das Feedback anonymisiert oder mit Angabe der persönlichen Daten (für Rückfragen oder ggf. ein persönliches Gespräch) abgegeben werden. Ein Aushang mit dem QR-Code wird direkt in der Nähe des Behandlungsortes angebracht und ist so für die Patienten gut sichtbar und zugänglich. Abb. 1 zeigt beispielhaft, wie ein Aushang und Fragebogen aussehen könnte. Die Realisierung umfasst drei Komponenten: Mobile (App), Web und Backend. Dem Patienten/der Patientin stehen entweder eine App oder eine responsive Webanwendung zur Abgabe des Feedbacks zur Verfügung. Eine zweite Webanwendung dient der Schiffsarztgruppe zur Erfüllung ihrer Aufgaben und hält automatisch die Daten in einem vordefinierten Dashboard zur Ansicht und Auswertung vor, die diese auch im Rahmen eines zeitgemäßen Beschwerde- und Meinungsmanagements weiterbearbeitet.
Abb. 1: Scan des QR-Codes
Der/Die Beauftragte Qualitätsmanagement Admiralarzt Marine als unabhängiger Bearbeiter/unabhängige Bearbeiterin und die Leiter/Leiterinnen Sanitätsdienst(LSD) als Fachvorgesetzte der beiden Flottillen erhalten über die Webanwendung ebenso Zugang zu den anonymisierten Daten, um diese im Sinne eines umfassenden Qualitätsmanagements zu analysieren und auszuwerten sowie Prozesse anpassen zu können (Abb. 2). Ziel des digitalen Beschwerde- und Meinungsmanagements ist die Erhöhung der Patientenzufriedenheit. Weiterhin soll mithilfe der Patientensicht das Risikomanagement verbessert werden, indem Hinweise der Patienten/Patientinnen auf Fehler zur Prozessanpassung genutzt werden.
Abb. 2: Darstellung Prozess
Rechtliche Rahmenbedingungen
„DerSanitätsdienstderBundeswehr(SanDstBw)stelltunterBerücksichtigung militärischer Erfordernisse und Besonderheiten eine demallgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende und demwissenschaftlichenFortschrittRechnungtragendesanitätsdienstlicheVersorgung der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr sicher. AuftragdesSanDstBwbeiEinsätzenistdieumfassendesanitätsdienstlicheVersorgung, die neben der Patientenversorgung auch alle Maßnahmen desGesundheitsschutzesundderGesundheitsförderungmitdemZielbeinhaltet,imEinsatzeinimErgebnisdemfachlichenStandardinDeutschlandentsprechendesBehandlungsergebniszugewährleisten“ [3].
Das „Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) hat für die sanitätsdienstlichen Einrichtungen des Marinesanitätsdienstes richtungsweisenden Charakter. Der Admiralarzt der Marine trägt die Verantwortung für das Qualitätsmanagement und die Qualitätssicherung im Marinesanitätsdienst. Das Beschwerde- und Meinungsmanagement ist als ein wesentlicher Bestandteil zur Umsetzung angewiesen. In zivilen wie auch militärischen Krankenhäusern ist es seit 2013 Pflicht, ein Beschwerde- und Meinungsmanagement zu betreiben, zu analysieren und auszuwerten.
Aspekt der Gesundheitskommunikation
Betrachtet man die Arzt-Patient-Beziehung aus Sicht Watzlawicks anhand des Konstruktivismus, so haben Arzt/Ärztin und Patient/Patientin jeweils eine eigene Vorstellung der wirklichen Welt, jedoch keine objektive Erkenntnis der wirklichen Welt. Die persönliche Interpretation von Gegebenheiten ist individuell verschieden und „die sogenannte Wirklichkeit das Ergebnis von Kommunikation“ [7]. So ist es zu erklären, dass Arzt/Ärztin und Patient/Patientin über ein und dieselbe Situation oder dasselbe Gespräch einen jeweils individuellen und gegebenenfalls konträren Eindruck erhalten.
In der heutigen Zeit haben Medien in allen Formen einen hohen Stellenwert in allen Lebensbereichen, so auch für die Besatzung an Bord. Das eingeführte Betreuungsnetz (Internet) ermöglicht nun auch die Nutzung von Smartphones, Tablets oder ähnlichen Geräten auf See. Social Media, Bewertungsportale und Fitnessapps gehören zum Alltag der Soldaten an Bord. So wird das Internet auch genutzt, um eventuelle Informationsdefizite nach dem Besuch beim Schiffsarzt zu recherchieren. Genau hier setzt das Konzept an. Der militärische Patient/Die militärische Patientin an Bord bekommt eine fortschrittliche und im Zivilen alltägliche Variante, um seine/ihre Anliegen mit dem Schiffsarzt/der Schiffsärztin zu kommunizieren. Dies bietet die Gelegenheit, der Asymmetrie der Arzt-Patient-Beziehung zu begegnen. Der Patient/Die Patientin erhält eine weitere Möglichkeit, außerhalb der Sprechzeit und der asymmetrischen direkten Situation im Arzt-Patient-Gespräch seine/ihre Anliegen zu adressieren.
Dieses Konzept hat das Potential, die Verbindung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin zu stärken und der dargestellten Asymmetrie entgegen zu wirken. Der Patient/Die Patientin erhält die Möglichkeit, seine/ihre Anliegen ggf. anonym zu äußern und kann bei Abgabe der persönlichen Daten auch eine Rückmeldung zum Sachverhalt erhalten. So kann der Schiffsarzt/die Schiffsärztin bei Bedarf eine Anschlusskommunikation anbieten und persönlich mit dem Patienten/der Patientin über das Anliegen sprechen. Auf diese Weise lassen sich unter anderen Umständen ungeklärt gebliebene Konflikte auflösen.
Fazit und Ausblick
Die Sichtweise der Patienten/Patientinnen soll aktiv eingefordert werden, um diese wahrnehmen zu können, zu analysieren und auszuwerten. Mithilfe der gewonnenen Erkenntnisse können anschließend die Anliegen der Patienten/Patientinnen gelöst werden und Prozesse im Rahmen des Qualitätsmanagements angepasst werden. Auch Hinweise für materielle und konzeptionelle Anpassungen sind zu erwarten. Durch das Wahrnehmen des Patienten/der Patientin und das Lösen seiner/ihrer Anliegen erfährt der Patient/die Patientin, dass ihm/ihr zugehört wird und er/sie wertgeschätzt wird. Weiterhin bietet das Konzept für den Patienten/die Patientin Transparenz, da er/sie über das Ergebnis seiner/ihrer Anliegen informiert wird. Auf diese Weise kann die Arzt-Patient-Beziehung verbessert werden. Dies ist gerade an Bord, einer Totalen Institution, von großem Wert, um der ausgeprägten Asymmetrie zu begegnen.
Die Einführung als digitale Variante ist in der heutigen Zeit geboten, um die Akzeptanz der Patienten/Patientinnen zu erreichen, da es ansonsten, wie aufgezeigt, nicht angenommen werden würde. Durch das Angebot von zwei intuitiven Anwendungen (Webkomponente und App) ist dem Patienten/der Patientin jede Möglichkeit geboten, sein/ihr Feedback anzubringen. Bei Klärungsbedarf kann diese/r sogar eine personalisierte Rückmeldung abgeben, umso die Patienten-Arzt-Beziehung zu verbessern. Es muss unbedingt anwenderfreundlich und intuitiv nutzbar umgesetzt werden, damit das Angebot niedrigschwellig ist.
Rechtlich gesehen ist der Marinesanitätsdienst, nicht wie Krankenhäuser, dazu verpflichtet, ein Beschwerde- und Meinungsmanagement einzuführen, jedoch deutlich dazu unter Beachtung des Datenschutzes angewiesen.
Die Patientensicherheit wird dahingehend beeinflusst, dass die nun möglichen Prozessanpassungen die Sicherheit der Behandlung erhöhen. Auch die Verbesserung der Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin ist in der Lage die Patientensicherheit zu erhöhen, denn der Patient/die Patientin wird in die Lage versetzt, validere Entscheidungen für seine/ihre eigene Gesundheit zu treffen. Der Arzt/Die Ärztin erhält durch eine verbesserte Kommunikation von seinen/ihren Patienten/Patientinnen gegebenenfalls wichtige Informationen, die ihn/sie in der Diagnose und Therapieentscheidung wesentlich beeinflussen.
Dieser hier aufgezeigte kleine Bereich des Qualitätsmanagements für einen sehr kleinen Bereich der Marine zeigt auf, welche Vorteile aus einem umfassenden Qualitätsmanagement nicht nur für den Marinesanitätsdienst, sondern auch für die Marine entstehen können. Zufriedenes Personal, verbesserte Arbeitsbedingungen, verbesserte Kommunikation und somit gesteigerte Effizienz und Effektivität könnten dringend benötigte Ressourcen zur Erfüllung des Auftrages freisetzen.
Diese technische Variante kann nicht nur an Bord, sondern auch an Land eingesetzt werden. Wenn man den Fragebogen austauscht, kann jede Evaluation in der Bundeswehr auf diese Weise durchgeführt werden. Es muss jedoch die Möglichkeit geschaffen werden, digitale Innovationen, deren Nutzen experimentell bewiesen wurde, nach dem Pilotprojekt zügig und dauerhaft in der Bundeswehr einzuführen.
Infobox:
SoftWerk006: Digitales Beschwerde- und Meinungsmanagement
Startschuss für die Agile Coding Phase des SW006 mit dem Marinekommando ist August 2022. Das MVP soll bis Ende 2022 zum Testen der Nutzergruppe bereitgestellt werden.
Die Schmiede ist eine Innovationseinheit der BWI GmbH und entwickelt in drei bis sechs Monaten ohne extra Beauftragung einsatzfähige Software in Form eines MVPs. Die Use Case dafür kommen direkt von einem Nutzer/einer Nutzerin aus der Bundeswehr.
Kontakt zur Schmiede: www.schmiede.dev
Literaturverzeichnis
- Goffmann E: Asyle: Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995.
- Kleve H: Die Wirklichkeit der Möglichkeit. In: Huber A, Fürst R (Hrsg.):Watzlawicks pragmatischer Konstruktivismus. , aufgerufen am 29. Juli 2022. mehr lesen
- Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr: C1–885/0–4004 Bereichsvorschrift Medizinische Qualitätssicherung für die ambulante und stationäre Patientenversorgung in Einrichtungen des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Koblenz: Kdo SanDstBw 2018.
- Walhalla Fachredaktion: Das gesamte Sozialgesetzbuch SGB I bis SGB XIV mit Durchführungsverordnungen und Sozialgerichtsgesetz (SGG). Regensburg: Walhalla Fachverlag 2022.
- Schrappe M: APS-Weißbuch Patientensicherheit. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verkagsgesellschaft 2018.
- Siegrist J: Medizinische Soziologie, München: Urban & Fischer Verlag 2005.
- Watzlawick P: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn – Täuschung – Verstehen. München: Piper 1976.
- Wiesener TM: Qualitätsförderung durch Fehlervermeidung. Analyse von Behandlungsfehlerverläufen in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Magisterarbeit im Public-Health-Aufbaustudiengang). Düsseldorf: Heinrich-Heine-Universität 2004.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Schröter M: Digitales Beschwerde- und Meinungsmanagement
im Marinesanitätsdienst. WMM 2022; 66(9-10): 352-355.
Verfasser
Oberstabsarzt Marika Schröter
Marinekommando
Marinesanitätsdienst
Referat Planung/Konzeption
Kopernikusstraße 1, 18057 Rostock
E-Mail: marikaschroeter@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Schröter M: Digital Appeal and Feedback Management in the Medical Service of the Navy. WMM 2022; 66(9-10): 352-355.
Author
Lieutenant Commander (Navy MC) Marika Schröter
Navy Command
Navy Medical Service
Department Planning and Concepts
Kopernikusstraße 1, D-18057 Rostock
E-Mail: marikaschroeter@bundeswehr.org