Validierung eines 4-Gensets zur Vorhersage der lebensgefährlichen akuten Strahlenkrankheit in einem Primatenmodell
Daniel Schwankea
a Institut für Radiobiologie der Bundeswehr, München, in Verbindung mit der Universität Ulm
Einleitung
Radionukleare Ereignisse sind Großschadensereignisse, im Rahmen derer innerhalb kurzer Zeit mit tausenden strahlenexponierten zivilen und militärischen Verletzten gerechnet werden muss. Für eine gute Prognose sind eine frühe Triage und das rechtzeitige Einsetzen therapeutischer Maßnahmen essenziell [5]. Grund hierfür ist die zeitverzögerte Manifestation der akuten Strahlenkrankheit (ASK). Um baldigst mit der Behandlung der ASK zu beginnen, sind diagnostische Marker erforderlich, die bereits zum frühestmöglichen Zeitpunkt erhoben werden können. Klinische Symptome (Prodromalsymptome) sind aufgrund der Unsicherheit des Auftretens und ihrer geringen Spezifität nur bedingt für die Abschätzung des weiteren Verlaufs der ASK geeignet. Zudem muss der Marker aus zuvor genannten Gründen hochdurchsatzfähig sein, also eine große Zahl von Untersuchungen in kurzer Zeit ermöglichen.
In Kooperation mit dem französischen militärischen Schwesterinstitut (Institut de Recherche Biomédicale des Armées, IRBA) des Instituts für Radiobiologie der Bundeswehr (InstRadBioBw) konnte in Genexpressionsanalysen an bestrahlten Pavianen ein vielversprechendes Genset bestehend aus DDB2, FDXR, POU2AF1 und WNT3 identifiziert werden [7–9]. Weitere Untersuchungen unserer Arbeitsgruppe an ganzkörperbestrahlten Leukämiepatienten in Zusammenarbeit mit unseren tschechischen militärischen Kooperationspartnern erlaubten eine Validierung. Dies war jedoch zum einen nur an einer kleinen Anzahl an Patienten möglich, zum anderen führte die Grunderkrankung zu einer supprimierten Reaktion des Transkriptoms [12][14]. Zur Validierung sind im Besonderen gesunde, ganzkörperbestrahlte Kohorten erforderlich, wie dies beim Einsatz einer nuklearen Bombe (Hiroshima und Nagasaki) bzw. des Kernkraftwerkunfalls von Tschernobyl erlebt wurde. In Zusammenarbeit mit unserem amerikanischen militärischen Kooperationspartner vom Armed Forces Radiobiology Research Institute (AFRRI) ergab sich die Möglichkeit, Blutproben von Rhesusaffen aus einer bereits laufenden tierexperimentellen Studie zu erhalten. Im Rahmen dieser Studie wurde die Wirksamkeit eines Medikaments zur Behandlung der akuten Strahlenkrankheit (γ-Tocotrienol-(GT3)) zu verschiedenen Zeitpunkten vor und nach Bestrahlung untersucht. So war es möglich, eine entscheidende Validierung des o.g. Gensets an gesunden, ganzkörperbestrahlten Individuen durchzuführen.
Material und Methoden
Am AFRRI wurden 41 (27 männliche, 14 weibliche, Tabelle 1) Rhesusaffen der Spezies Macaca mulatta entweder mit 5,8 Gy; 6,5 Gy oder 7,2 Gy (Ganzkörperbestrahlung, Einzeldosis) bestrahlt. Dabei wurde den Tieren vor Bestrahlung und an den Tagen 1, 2, 3, 35 und 60 nach Bestrahlung 1 ml peripheres Blut in PAXgene® Blood RNA Tubes (PreAnalytiX®; Quiagen®; Becton, Dickinson, and Company; Franklin Lakes, NJ) abgenommen. Zudem wurde einem Teil der non-human primates (NHP) γ-Tocotrienol (GT3) s.c. (37,5 und 75 mg/kg) vor der Bestrahlung verabreicht. Der nicht behandelte Teil der Kohorte erhielt eine Placebolösung s.c. injiziert.
Tab. 1: Verteilung der Tiere über die untersuchten Untergruppen sortiert nach Strahlendosis, Geschlecht, Behandlungsgruppe und Überlebensstatus
Bei den applizierten hohen Dosen ionisierender Strahlung war ein schwerer Verlauf der akuten Strahlenkrankheit in diesem Tiermodell zu erwarten. Erreichten die Tiere ein vordefiniertes moribundes Stadium, wurden sie unter Beachtung des örtlich geltenden Tierschutzes eingeschläfert und als „letal erkrankt“ eingestuft. Tiere, die 60 Tage ohne Erreichen dieses Stadiums überlebten, wurden als „überlebend“ eingestuft und abschließend ebenfalls eingeschläfert.
Die gewonnenen Blutprobenröhrchen wurden über Nacht bei Raumtemperatur inkubiert, am nächsten Tag bei -80 °C tiefgefroren, gesammelt und nach Beendigung des Experimentes an das InstRadBioBw versandt. Hier erfolgte die semi-automatische RNA-Isolation der Blutproben von 41 zufällig ausgewählten NHP. Die extrahierten RNA-Proben wurden bezüglich ihrer Qualität und Quantität untersucht. Es wurden 500 ng Gesamt-RNA mittels High-Capacity cDNA Reverse Transcription Kit (Applied Biosystems™, Life Technologies, Darmstadt, Germany) in cDNA konvertiert. Zur Quantifizierung der RNA Kopienanzahl von FDXR (Hs01031617_m1), DDB2 (Hs00172068_m1), POU2AF1 (Hs01573371_m1) und WNT3 (Hs00902257_m1) wurden pro Reaktion 10 ng cDNA, PCR-Master-Mix und genspezifische TaqMan-Assays verwendet. Die quantitative Echtzeitpolymerasekettenreaktion (qRT-PCR) in Duplikat-Messung erfolgte im 96-Wellformat mittels QuantStudio™ 12K OA Real-Time PCR System (Thermo Fisher SCINTIFIC Inc., Waltham, Massachusetts, USA). Im Rahmen der qRT-PCR korreliert die RNA-Kopienanzahl eines Gens mit dem sogenannten Ct-Wert (Cycle threshold). Die Raw-Ct-Werte der Gene wurden gegen den 18S rRNA Ct-Wert normalisiert. Unterschiede in der Genexpression wurden mittels des -ΔΔCt-Verfahrens () quantifiziert (Fold-Change = FC). Dabei wurde der normalisierte Ct-Wert jedes Gens vor Bestrahlung als Referenz verwendet. Unter Berücksichtigung der methodischen Varianz des Verfahrens wurden um den Faktor 2 veränderte Genexpressionsmessungen als unterschiedlich zu Kontrollwerten betrachtet (unbestrahlte Genexpressionsmessungen wurden auf eins gesetzt). Die statistische Analyse erfolgte mittels Varianzanalyse (Analysis of variance, ANOVA) und Zwei-Wege ANOVAs, sowie Analysen zur „Receiver-Operator-Characteristics“.
Ergebnisse
Änderungen der Genexpression
Die Expression von FDXR und DDB2 nach Bestrahlung war bereits am zweiten (FDXR) bzw. am ersten Tag nach Bestrahlung (DDB2) im Median signifikant erhöht (2,3-fach bzw. 3,4-fach; p < 0.,001, Abbildung 1). Die Expression stieg kontinuierlich bis zum dritten Tag nach Bestrahlung (3,5-fach bzw. 13,5-fach), um dann am 35. Tag nach Bestrahlung herunterreguliert zu sein. Am Tag 60 nach Bestrahlung wurden differenzielle Genexpressionsänderungen wie in unbestrahlten NHP gemessen.
Für POU2AF1 konnte bereits am ersten Tag nach Bestrahlung eine etwa 8-fach erniedrigte Expression relativ zur unbestrahlten Referenz gezeigt werden, die auch am 35. Tag nach Bestrahlung gemessen wurde (Abbildung 1). Am Tag 60 nach Bestrahlung wurden differenzielle Genexpressionsänderungen wie in unbestrahlten NHP festgestellt.
Abb. 1: Graphen der differenziellen Expression der 4 Gene vor und an den Tagen nach Bestrahlung (oberer Teil FDXR und DDB2, unterer Teil WNT3 und POU2AF1). Die Symbole zeigen den Median aller Tiere zum jeweiligen Tag an. Signifikante Unterschiede in der Genexpression zur unbestrahlten Referenz vor Bestrahlung sind mit Sternchen gekennzeichnet (*p-value < 0.05, **p < 0.01, ***p < 0.001). Die graue Fläche im Hintergrund stellt einen angenommenen Sicherheitsbereich dar. Werte in diesem Bereich (FC zwischen 0,5 und 2,0) lassen keine sichere Unterscheidung zwischen methodischer Varianz und tatsächlicher Änderung der Genexpression zu. Die unterbrochene horizontale weiße Linie bezieht sich auf einen FC von 1, als Referenz für die Genexpression vor Bestrahlung.
WNT3 zeigte in dieser Studie eine hohe Varianz; es konnte lediglich am Tag 35 nach Bestrahlung eine supprimierte Expression gezeigt werden, während an den anderen Tagen keine eindeutigen Unterschiede zur unbestrahlten Referenz nachweisbar waren (Abbildung 1).
Kombination der Genexpressionsmessungen
Die Kombination der Genexpressionsmessungen von DDB2 und POU2AF1 an jedem der ersten 3 Tage nach Bestrahlung erlaubten eine vollständige Diskriminierung der unbestrahlten von den bestrahlten Tieren (AUC = 1). AUCs ≥ 0,88 wurden für die einzelnen Gene ermittelt (Abbildung 2). Analysen zu Unterschieden in Geschlechtern und Behandlungsgruppen (GT3 versus Placebo) hatten keinen Einfluss auf die hier gezeigten Ergebnisse.
Abb. 2:Sensitivität gegenüber der 1-Spezifität in einer Receiver-Operator-Characteristics (ROC)-Kurve für die Tage 1–3 nach Bestrahlung für DDB2 und POU2AF1, sowie in einem bivariaten Modell dieser beiden Gene: Die AUC gibt die Fläche unter der Kurve für jedes der beiden Gene einzeln und kombiniert wieder (bivariates Modell).
Diskussion
Die gestiegene Wahrscheinlichkeit eines radionuklearen Ereignisses durch die sich weltweit verschärfende Sicherheitslage erfordert Maßnahmen im Sinne einer „preparedness“. Eine hochdurchsatzfähige Frühdiagnostik ermöglicht eine frühe und suffiziente Triage, die wiederum für eine effektive Zuteilung der begrenzten medizinischen Ressourcen, wie z. B. Intensivbetten, relevant ist [3]. Besonders für die akute Strahlenkrankheit gilt, dass eine möglichst frühe Therapie, noch vor Auftreten erster Symptome, die Prognose des Patienten und somit seine Überlebenswahrscheinlichkeit entscheidend verbessert [4][5].
Hohe diagnostische Sicherheit
Diese Studie hatte zum Ziel, ein bereits in Pavianen und humanen in vivo- bzw. ex vivo-Proben identifiziertes molekularbiologisches Diagnosewerkzeug entscheidend zu validieren [1][2][6][7][9–12]. Für 3 der 4 Gene konnte diese Validierung mit einer gezeigten hohen diagnostischen Sicherheit erfolgreich geführt werden. Dabei war die Expression dieser Gene und insbesondere ihre diagnostische Aussage zum Verlauf der akuten Strahlenkrankheit nahezu unabhängig von der hier verabreichten Bestrahlungsdosis, dem Geschlecht, dem Überlebensstatus und der Behandlung mit GT3. Im Unterschied zu Pavianen war FDXR, wie auch im humanen Modell, im Rhesus-Modell nach Bestrahlung hochreguliert [1][7][8]. Jedoch im Unterschied zum humanen Modell war hier DDB2 im Vergleich zu FDXR stärker hochreguliert.
Vorhersage des Verlaufs einer ASK
Weiterhin konnte durch die im Unterschied zu vielen anderen Studien prolongierte Beobachtungsphase nach Bestrahlung das vorgestellte Modell zur Vorhersage des Verlaufs der ASK weiter studiert werden. So zeigte sich am Tag 35 eine generelle Supprimierung aller 4 Gene und am Tag 60 nach Bestrahlung ein Trend hin zu Kontrollwerten der unbestrahlten Referenz. Weitere Studien, die eine feinere Auflösung des Zeitraums zwischen 4 und 60 Tagen nach Bestrahlung erlaubten, würden dazu beitragen, die Verwendung des Verfahrens auf spätere Zeitpunkte nach Bestrahlung auszuweiten. Bezüglich des Einflusses der Behandlungs- und Placebogruppe sowie des Geschlechts sei auf die Originalpublikation verwiesen [13].
Macaca mulatta ist ungeeignet für die Validierung von WNT3
Das Gen WNT3 zeigte in diesem Tiermodell keine eindeutigen strahleninduzierten Genexpressionsänderungen. Somit ist dieses Tiermodell (Macaca mulatta) als nicht geeignet für die Validierung bereits gezeigter strahleninduzierter WNT3-Genexpressionsänderungen in bestrahlten humanen Blutproben einzustufen.
Fazit und Ausblick
Insgesamt konnte für 3 der 4 Gene (FDXR, DDB2 und POU2AF1) die hohe diagnostische Signifikanz der Prädiktion des Schweregrades der ASK gezeigt und erfolgreich validiert werden. Dies gibt Ausblick darauf, für ein künftiges radionukleares Ereignis den hier beschriebenen Arbeitsablauf durch z. B. das Multiplexen und die Verwendung einer One-Step-qRT-PCR zu beschleunigen. Auch die Entwicklung einer Point of Care-Diagnostik in Form einer Microfluidik-Karte als sogenanntes „Lab on a Chip“ könnte die frühe Differenzierung klinisch relevanter Gruppen wie unbestrahlte und tödlich exponierte Menschen weiter vereinfachen. Auch eine Point of Care-Sequenzierung mittels Nanopore-Sequencing kann hier weitere Vorteile bringen.
Zusammengefasst konnte an dieser Kohorte gesunder letal bestrahlter NHP das bereits identifizierte molekularbiologische Genset zur Früh- und Hochdurchsatzdiagnostik der ASK erfolgreich validiert werden. Mit diesem entscheidenden Experiment kann das Verfahren nunmehr zur Triage bei zukünftigen radionuklearen Ereignissen eingesetzt werden.
Literatur
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Verfasser
Oberstabsarzt Daniel Schwanke
Institut für Radiobiologie der Bundeswehr
Neuherbergstraße 11, 80937 München
E-Mail: danielschwanke@bundeswehr.org
Urologie im Auslandseinsatz der Bundeswehr: Lehren aus Afghanistan1
Justine Schocha, Christian Rufc, Cord Matthiesd, Holger Heidenreiche, Hans Schmelza, Tim Nestlera,b
1 Originalarbeit: Urology during Afghanistan mission: lessons learned and implications for the future © 2023 von Justine Schoch, Cord Matthies, Holger Heidenreich, Jens Diehm, Hans Schmelz, Christian Ruf und Tim Nestler. World J Urol 2023; 41(8): 2195-2200.
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik XI – Urologie
b Universitätsklinikum Köln, Klinik für Urologie
c Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik XI – Urologie
d Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Klinik XI – Urologie
eBundeswehrkrankenhaus Berlin – Klinik XI – Urologie
Einleitung
Aufgrund der zunehmenden Qualität der medizinischen Versorgung konnte die Letalität von Kriegsverwundungen auf aktuell 10 % gesenkt werden, während im zweiten Weltkrieg noch 30 % der Soldaten an ihren Verwundungen verstorben sind [3]. Ein zusätzlicher Einflussfaktor, welcher zum Rückgang gefechtsbedingter abdomineller und thorakaler Verwundungen geführt hat, ist die flächendeckende Einführung von persönlicher Kevlar-Schutzausrüstung. So ist beispielsweise die Inzidenz von Nierenverletzungen von 31 % im Vietnamkrieg auf 17 % in der Operation Desert Storm im Irak gefallen. Einhergehend mit der sinkenden Letalität konnte jedoch eine relative Zunahme an Verwundungen des äußeren Genitale verzeichnet werden [14].
Urogenitale Verwundungen treten in 5,3 % der gefechtsassoziierten Verwundungen auf und sind in ihrer Häufigkeit vergleichbar mit urogenitalen Verletzungen in Deutschland, welche bei 7,1 % der polytraumatisierten Patienten nachweisbar sind [5][8]. Gefechtsbedingt sind besonders Schrapnell- und Sprengverwundungen typische Mechanismen, die zu urogenitalen Verwundungen führen können. Der häufigste Unfallmechanismus im Inland ist das stumpfe Trauma nach Verkehrs- oder Freizeitunfällen, Sprengverletzungen sind äußerst selten [11]. Ziel dieser Studie war es zu untersuchen, ob die urologische Ausbildung im Inland adäquat die operativen Herausforderungen im Auslandseinsatz adressiert bzw. ob eine Modifikation der einsatzvorbereitenden Ausbildung notwendig ist.
Material und Methoden
Die urologischen Operationen und ambulanten Patientenkonsultationen wurden in einem Zeitraum von 5 Jahren (04/2015–05/2020) in einem NATO-geführten Militärkrankenhaus der Behandlungsebene 3 in Bagram, Afghanistan, anonymisiert erfasst und analysiert. Deutsche Urologen waren hier zur fachlichen Unterstützung eingesetzt. In diesem Zeitraum waren in etwa 10 000–20 000 US Amerikaner und alliierte Soldaten in Bagram stationiert. Aufgrund der kontingentbedingten Personalwechsel wurden in einem Jahr keine Daten erfasst (10/2017–10/2018). Die ambulanten Patientenkonsultationen wurden mit denen der urologischen Ambulanz im Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz verglichen (10/2022–12/2022). Zur statistischen Analyse wurde der Pearson’s Chi²-Test verwendet. Das zweiseitige Signifikanzniveau betrug p<0,05.
Ergebnisse
Insgesamt wurden im Airfield Bagram 314 chirurgische Eingriffe von Urologen durchgeführt. Die Eingriffe wurden kategorisiert in gefechtsassoziierte (battle-related) Interventionen (BRI: n = 169, 53,8 %) und nicht gefechtsassoziierte (non battle-related) Interventionen (non-BRI: n = 145, 46,2 %). Während innerhalb der BRI-Gruppe hauptsächlich Operationen am äußeren Genitale durchgeführt wurden (BRI: n = 67, 39,6 %; non-BRI: n = 27; 17,9 %, p < 0.001), überwogen in der non-BRI Gruppe die endourologischen Eingriffe (non-BRI: n = 109, 75,2 %; BRI: n=41, 24,2 %, p < 0,001, siehe hierzu auch Abbildung 1).
Abb. 1: Analyse der Operationsdaten aus Bagram, aufgeteilt in gefechtsassoziierte Eingriffe = battle-related interventions (BRI) und nicht gefechtsassoziierte Eingriffe = non battle-related interventions (non-BRI).
Zusätzlich wurde in der BRI-Gruppe ein höherer Anteil an Laparotomien, Abdominal-, Becken- und Retroperitoneal-Eingriffen beobachtet (BRI: n = 51; 30,2 % vs. non-BRI: n = 3, 2,1 %, p < 0.001). Weiterhin unterschieden sich die Eingriffe am äußeren Genital in beiden Gruppen signifikant: Während in der BRI-Gruppe skrotale Explorationen zumeist nach Hodentrauma (BRI: n = 39, 58,2 % vs. non-BRI: n = 0, p < 0.001) durchgeführt wurden, wurden skrotale Hodenfreilegungen in der non-BRI Gruppe hauptsächlich bei vermuteter Hodentorsion (n = 13, 50 %) oder zur Hydrozelenresektion (n = 5, 19,2 %) durchgeführt.
Innerhalb der endourologischen Eingriffe unterschied sich der Anteil der durchgeführten retrograden Zystogramme und Zystoskopien signifikant zwischen beiden Gruppen. Während der Anteil in der BRI-Gruppe hauptsächlich aufgrund vermuteter Harnröhrenverletzungen bei 31,7 % lag, wurden in der non-BRI Gruppe lediglich bei 2,8 % der Patienten Zystogramme oder Zystoskopien durchgeführt (p < 0.001).
Weiterhin wurden in dem analysierten Zeitraum 733 urologische Patienten ambulant mit insgesamt 1 011 Konsultationen behandelt, entsprechend einem Patientenaufkommen von 0,7 Patienten pro Tag. Die häufigsten Krankheitsbilder im Auslandseinsatz betrafen das äußere Genital mit unspezifischen Schmerzen, Varikozele, Hydrozele, Trauma, Meatusstenose oder Hernien (n = 252, 32,7 %); Steinleiden (n = 181, 23,5 %) und Infektionen (n = 140, 18,2 %) kamen in genannter Häufigkeit vor. Vorstellungen aufgrund von Miktionsbeschwerden (n = 78, 10,1 %), Hämaturie (n = 46, 6,0 %) und sonstige Beschwerden (n = 55, 7,1 %) waren deutlich seltener. Schließlich war der Prozentsatz an vermuteten malignen Erkrankungen zwar gering, aber trotzdem kamen sie auch im Auslandseinsatz vor (n = 18, 2,3 %).
Im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz wurden in dem analysierten Zeitraum von 3 Monaten (10/2022–12/2022) insgesamt 720 Patientenvorstellungen mit 817 Diagnosen in der allgemeinen Soldatensprechstunde erfasst, entsprechend einem Patientenaufkommen von 15 Patienten pro Tag. Im Gegensatz zum Auslandseinsatz waren im Inland die häufigsten Vorstellungsgründe Vor- und Nachsorgeuntersuchungen (n = 407, 49,8 %). Weitere Ursachen, mit denen sich Patienten im Auslandseinsatz nicht präsentiert haben und die von der weiteren Analyse ausgeschlossen wurden waren erektile Dysfunktion (n = 40, 5,0 %), Testosteronsubstitution (n = 20, 2,4 %), bestätigte oder vermutete Prostatakarzinome (n = 29, 3,5 %) sowie Kontrolle von bekannten Nierenzysten (n = 18, 2,2 %). Nach Ausschluss der oben genannten Diagnosen stellten sich auch im Inland die meisten Patienten mit Beschwerden des äußeren Genitales wie Schmerzen oder Schwellung bei Variko-/Hydrozele, Hernien oder Meatusstenosen vor (Inland: n = 87, 28,8 %; Ausland: n = 252, 32,7 %; p = 0–178, siehe Abbildung 2). Die Häufigkeit der ambulanten Behandlung von Miktionsbeschwerden (Inland: n = 76, 25,1 %; Ausland: n = 78, 10,1 %, p < 0.001) und Steinleiden (Inland: n = 26, 8,6 %; Ausland: n = 181, 23,5 %, p < 0. 001) unterschied sich im In- und Ausland signifikant (Abbildung 3).
Abb. 2: Ambulante Patientenvorstellung in Bagram (n = 733): Wiedervorstellungen und Konsultationen wegen Operationsindikation wurden von der Analyse ausgeschlossen. Die Konsultation eines Patienten konnte mehrere Diagnosen enthalten (n = 770).
Abb. 3: Ambulante Patientenvorstellungen in der urologischen Klinik des BwZKrhs Koblenz (n = 302). Insgesamt wurden 817 Diagnosen von 720 Patienten erfasst. Nach Ausschluss von Vor- und Nachsorgeuntersuchungen (407), sowie Vorstellungen wegen Erektilen Dysfunktionen (n = 41), Testosteronsubstitutionen (n = 20), malignen Erkrankungen (n = 29) und Zystenkontrollen (n = 18) aufgrund des Fehlens dieser Vorstellungsgründe im Auslandseinsatz, bestand der auszuwertende Datensatz aus 302 Patienten ohne Wiedervorstellungen.
Diskussion
In dieser Studie wurde die Einsatzrealität deutscher Urologen in einem US amerikanisch geführten Krankenhaus der Behandlungsebene 3 in Afghanistan analysiert. Während sich die meisten Soldaten im Auslandseinsatz urologisch mit Beschwerden im Bereich des äußeren Genitals vorstellten, werden Urologen im Inland zumeist bezüglich der Prostata (benigne Prostatahyperplasie, Krebsvorsorgeuntersuchungen) konsultiert. Beschwerden des äußeren Genitale, wie Nebenhodenentzündungen, unspezifischer Hodenschmerz oder Hodentumore, sind typische Probleme des jüngeren Mannes [12]. Das Patientenklientel im Einsatzland unterscheidet sich auch in seiner Altersspanne deutlich von ambulanten, urologischen Patienten in Deutschland, die durchschnittlich zwischen 50 und 80 Jahre alt sind [4]. Weitere häufige Konsultationsgründe im Einsatz waren kolikartige Beschwerden und Infektionen, welche auch zu den häufigsten Konsultationsgründen im Inland zählen, wie unsere Daten bestätigen [7][8]. Neu diagnostizierte, maligne Erkrankungen sind selten, da Soldaten vor ihrem Einsatz einer genauen medizinischen Begutachtung unterzogen werden. Dennoch wurde ein geringer Prozentsatz an malignen Erkrankungen auch im Einsatz erkannt und führte zur Repatriierung der entsprechenden Soldaten. Urologen müssen sich daher bewusst sein, dass es auch in unserem Patientenklientel im Auslandseinsatz zur Manifestation von Krebserkrankungen kommen kann.
Darüber hinaus haben wir uns mit dem urologisch-operativen Spektrum im Auslandseinsatz beschäftigt, indem wir die urologisch-chirurgischen Eingriffe erfasst und gefechtsassoziierte von nicht-gefechtsassoziierten Eingriffen unterschieden haben. In den letzten Jahrzehnten hat die Sterblichkeit von gefechtsassoziierten Verletzungen aufgrund der verbesserten Kevlar-Schutzausrüstung kontinuierlich abgenommen, was jedoch zu einer relativen Zunahme an urogenitalen Verwundungen geführt hat. Dies ist hauptsächlich mit der veränderten Kriegsführung und damit zu erklären, dass die Genitalregion unzureichend gegen Sprengwirkung von unten geschützt ist. Unsere Ergebnisse zeigen, dass trotz der verbesserten Schutzausrüstung 30 % der gefechtsassoziierten, urologischen Eingriffe den Bereich des Abdomens, Beckens und Retroperitoneums betreffen. Somit ist trotz der Zunahme an Verwundungen des äußeren Genitals die operative, urologische Expertise in Abdomen, Becken und Retroperitoneum sehr wichtig, da es sich hierbei oft um zeitkritische und lebensbedrohliche Verwundungsmuster handelt [13].
Als Folge von Verwundungen des äußeren Genitales gelten erektile Dysfunktion, Blasenentleerungsstörungen/Inkontinenz, rezidivierende Harnwegsinfektionen und posttraumatische Belastungsstörungen als häufige Langzeitkomplikationen [9][10]. Nicht nur um die Komplikationsrate gering zu halten, sondern auch, um funktionell gute und kosmetisch adäquate Ergebnisse zu erreichen, sind operative Empfehlungen zur langfristigen Versorgung von urogenitalen Verwundungen notwendig. Während die nicht-gefechtsassoziierten Eingriffe dem operativen Spektrum in Deutschland entsprechen, erfordert die Versorgung von gefechtsassoziierten Verwundungen zusätzliche Basiskenntnisse im Bereich der rekonstruktiven und plastischen Chirurgie aufgrund der damit einhergehenden ausgedehnten Weichteildefekte inklusive typischerweise einem hohen Grad an Kontamination [1][6][7]. Nur wenn durch den Einsatz-Urologen die Weichen im Rahmen der Erstversorgung richtiggestellt wurden, kann im Anschluss in Deutschland eine adäquate finale kosmetische und funktionelle Versorgung des äußeren Genitales erfolgen. Der Urologe ist somit der Spezialist für Verwundungen des äußeren Genitales [15].
Prävention, Management und Nachsorge von urogenitalen Verwundungen stellen den Urologen nach wie vor eine Herausforderung und die einsatzvorbereitende Ausbildung sollte darauf abzielen, sie optimal auf die zu erwartenden Probleme vorzubereiten [2]. Die Ausbildung der Urologen bei der Bundeswehr basiert auf der zivilen Facharztweiterbildung mit speziellen notfallmedizinischen Aspekten in der Ausbildung. Es lässt sich festhalten, dass die uroonkologischen Operationen im Inland die essenzielle Basis für chirurgische Fähigkeiten im Bereich des Abdomens, Retroperitoneums und Beckens bieten. Weiterhin wird ein Bedarf an Grundlagenausbildung im Bereich der rekonstruktiven/plastischen Urochirurgie erkannt. Ferner sind im Falle eines Massenanfalls von Verwundeten die Urologen Teil des chirurgischen Notfallteams und müssen entsprechend vorbereitet und trainiert werden.
Limitationen
Die größte Limitation der Studie liegt in der eingeschränkten Verfügbarkeit der ausgewerteten Daten, indem ein Jahr der Datenerhebung nicht erfasst wurde und darüber hinaus nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Dokumentation der Eingriffe zumindest phasenweise nicht vollständig erfolgte. Weiterhin liegen uns keine weiteren Daten über die durchgeführten Eingriffe vor (Komplikationen, Folgeeingriffe, Outcome, etc.). Insgesamt sind die Daten homogen und es gibt keinen Hinweis darauf, dass die fehlenden Daten die Interpretation unserer Ergebnisse relevant beeinflussen.
Schlussfolgerung
Das ambulante, urologische Patientenspektrum im In- und Auslandseinsatz ist vergleichbar und unterscheidet sich lediglich geringfügig in der Verteilung der jeweiligen Symptome bzw. Diagnosen.
Bezüglich der Auswertung der operativen Eingriffe im Auslandseinsatz in Bagram Airfield konnten wir deutliche Unterschiede in der Versorgung von gefechtsassoziierten und nicht-gefechtsassoziierten Eingriffen zeigen. Es lässt sich festhalten, dass im interdisziplinären, chirurgischen Team zur Versorgung von gefechtsassoziierten Verwundungen der Urologe der Spezialist für das Retroperitoneum, Becken und zusammen mit den Viszeralchirurgen für das Abdomen ist. Im Inland wird diese Expertise im Rahmen von uroonkologischen Operationen ausgebildet und in Übung gehalten. Weiterhin ist der Urologe aber besonders für die Versorgung von Verwundungen des äußeren Genitals zuständig. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, werden zusätzlich zur oben angesprochenen Expertise Basiskenntnisse in rekonstruktiver und plastischer Chirurgie gefordert. Nur so können schon im Einsatz die Weichen für die erfolgreiche definitive Versorgung später im Inland gestellt werden, um Verwundungen des äußeren Genitales funktionserhaltend und mit kosmetisch adäquatem Ergebnis versorgen zu können. Um dies im Inland zu gewährleisten, wird aktuell in der Klinik für Urologie im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz ein Zentrum für rekonstruktive Urologie etabliert.
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Für die Verfasser
Oberstabsarzt Dr. Justine Schoch
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Klinik XI – Urologie
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz
E-Mail: justineschoch@bundeswehr.org