Intraoperativ-geformte (Palacos®) versus CAD-CAM-PMMA-Kranioplastiken nach (dekompressiver) Kraniektomie: Eine retrospektive Single-Center-Analyse von 359 Fällen
Hädrich Da, b, Lilla Nb, c, Ernestus R-Ib, Westermaier Tb
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz KlinikIV – Augenheilkunde
b Universitätsklinik Würzburg, Neurochirurgische Klinik und Poliklinik
c Universitätsklinik Magdeburg, Neurochirurgische Klinik
Hintergrund und Wehrmedizinische Relevanz
Im aktuellen russischen Angriffskrieg in der Ukraine wird über eine Rate von ca. 35 % Schädel- und Nackenverletzungen berichtet [18]. Nach ballistischer oder explosionsassoziierter Einwirkung am Schädel kann in der Folge eine dekompressive Kraniektomie erforderlich werden. In den US-amerikanischen Einsätzen im Irak und in Afghanistan war dies der führende neurochirurgische Eingriff im Bereich der Role 2 und Role 3 mit insgesamt 1 704 Kraniektomien [20].
Die Kranioplastik (auch Schädeldachplastik) ist ein neurochirurgisches Verfahren, welches die Funktionalität und Ästhetik des Patientenschädels nach der Kraniektomie wiederherstellt. Die Deckung des entstandenen Knochendefektes ist wichtig, weil dadurch der zerebrale Metabolismus verbessert, das „Syndrome of the trephined“ or „sinking skin flap syndrome“ verhindert und die soziale und neurologische Rehabilitation ermöglicht werden kann [9].
Wenn der autologe Knochendeckel nicht mehr verwendet (z. B. durch Zerstörung oder Verlust) oder nicht ausreichend konserviert werden kann (Kryokonservierung bei -80°C), können alloplastische Materialien zur Deckung genutzt werden. Hierbei werden insbesondere Polyetheretherketon (PEEK), Hydroxylapatit, Titan oder Polymethylmethacrylat (PMMA) im klinischen Alltag verwendet [22]. PMMA kommt bereits seit den 1950er-Jahren als alloplastisches Material bei Kranioplastiken zum Einsatz [1], jedoch zumeist als intraoperativ freihand-gefertigtes Implantat mittels Palacos®-Knochenzement. Neben hohen Komplikationsraten bei Kranioplastiken allgemein [2], wird insbesondere bei den intraoperativ-gefertigten Palacos®-PMMA-Implantaten von einem unbefriedigenden subjektiven ästhetischen Ergebnis berichtet [5]. Daher gibt es seit den 1990er-Jahren eine intensive Forschung an patientenspezifischen, 3D-konstruierten Implantaten. Diese Technik, auch als CAD-CAM (Computer-Aided Design, Computer-Aided Manufacturing) bezeichnet, kann die Wiedergabe der natürlichen Schädelkontur ermöglichen [16].
Im Vorfeld der Operation wird eine Dünnschicht-Computertomografie (CT) des Schädels inklusive des Schädeldefektes durchgeführt, dieses in eine Software eingepflegt und der Defekt mittels Implantats gedeckt (Abbildung 1). Mit verschiedenen präoperativen Optionen (z. B. Vorverplattung des Implantats, siehe Abbildung 2) kann eine Optimierung des Operationsergebnisses erreicht werden [17].
Abb. 1: Bild a und b: Rekonstruktion des Defektes und Erstellung des Implantats mittels Software [14]; rechtes Bild: Stereolithografiemodell (Bildquelle: Autor)
Die Fragestellung der Studie besteht darin, inwiefern die CAD-CAM-PMMA-Implantate den Palacos®-Implantaten hinsichtlich eingriffsbezogener, ökonomischer und ästhetischer Ergebnisse überlegen ist. Zur Beantwortung dieser Fragestellung wurden in der vorliegenden Studie beide Implantate im Hinblick auf perioperative Modalitäten, kurz- und langfristige Komplikationsraten und ästhetische Ergebnisse verglichen.
Methoden
Die Studie ist als retrospektive Single-Center-Analyse konzipiert und umfasst 350 Patienten mit insgesamt 359 Kranioplastiken zwischen 2005 und 2018, die in der Neurochirurgischen Klinik und Poliklinik der Universitätsklinik Würzburg operiert wurden. Palacos®-Patienten (n = 133) erhielten zwischen 2005 und 2012 eine Kranioplastik. Den CAD-CAM-Patienten (n = 226) wurden zwischen 2010 und 2018 ein Implantat der Firma Zimmer Biomet GmbH (Freiburg i. B.) eingesetzt. Die Krankenakten wurden retrospektiv ausgewertet und umfassten demografische Daten, patientenspezifische Risikofaktoren und Vorerkrankungen, Daten zur Kranioplastik (Größe, Ort), chirurgische Daten sowie postoperative Komplikationen. Diese postoperativen Komplikationen wurden nach der Erforderlichkeit einer Revisions-Operation in kurzfristige (< 30 Tage) und langfristige (> 30 Tage) Komplikationen unterteilt. Die Größe des Defekts wurde bei fehlender Dokumentation anhand der Ellipsenformel Fläche A = π*(a/2)*(b/2) (a = Hälfte der maximalen kranio-kaudalen Ausbreitung, b = Hälfte der maximalen rostro-dorsalen Ausbreitung) berechnet.
Abb. 2: Intraoperativer Situs: rechts: Wiedereröffneter Kraniektomiedefekt, links: Deckung des Defekts mittels vorverplatteten CAD-CAM-Implantats (Bildquelle: Autor)
Grundsätzlich wurden alle Patienten, die im genannten Zeitraum eine Kranioplastik erhielten, und jedes Implantat in die Analyse einbezogen und als einzelner Fall gezählt. Eine Ausnahme bildete ein Revisionsimplantat. Es wurden keine Einschränkungen hinsichtlich des Patientenalters, der minimalen oder maximalen Größe des Schädeldefekts oder Vorerkrankungen festgelegt. Bei einem einzeitigen Vorgehen musste die Operationsdauer ausgeschlossen werden, da eine Differenzierung in Kraniektomie und Kranioplastik nicht möglich war.
Die ästhetischen Ergebnisse der Kranioplastiken wurden per Telefoninterview evaluiert. Hierfür wurde ein Fragebogen zur Erhebung der subjektiven Zufriedenheit mit dem ästhetischen Ergebnis erstellt. Die Patienten wurden über das Forschungsprojekt informiert und um eine schriftliche Einverständniserklärung ersucht. Anschließend wurden sie gebeten, das subjektive ästhetische Ergebnis auf einer 5-Punkte-Skala zu bewerten: „sehr unzufrieden“ (1 Punkt), „unzufrieden“ (2 Punkte), „teilweise zufrieden“ (3 Punkte), „zufrieden“ (4 Punkte) und zum Zeitpunkt der Befragung „sehr zufrieden“ (5 Punkte).
Die Auswertung aller beschriebenen Daten erfolgte nach Prüfung und Zustimmung durch die Ethikkommission der Universität Würzburg mit dem Aktenzeichen 20200205 03.
Ergebnisse
Das Studienkollektiv unterteilt sich in 63,1 % (n = 226) CAD-CAM-PMMA-Implantate und 36,9 % (n = 133) Palacos®-Implantate. Palacos®-Patienten (60,2 % Männer, 39,8 % Frauen) und CAD-CAM-Patienten (59,7 % Männer, 40,3 % Frauen) erhielten eine Kranioplastik mehrheitlich aufgrund eines vorangegangenen Schädel-Hirn-Traumas. Das mittlere Intervall zwischen Kraniektomie und Kranioplastik war bei beiden Implantatgruppen ähnlich (Palacos®: 110 Tage, CAD-CAM: 105 Tage). In beiden Gruppen war die Kranioplastik am häufigsten rechtshemisphärisch und hatte eine durchschnittliche Größe von 75,46 ± 26,12 cm2 (Palacos®) und 90,87± 32,26 cm2 (CAD-CAM).
Hinsichtlich der operativen Parameter zeigten sich für beide Implantate unterschiedliche Ergebnisse.
CAD-CAM-Patienten (145,10 ± 45,27min) hatten eine signifikant (p < 0.001) kürzere Operationszeit als Palacos®-Patienten (199,00 ± 80,23 min). Auch der intraoperative Blutverlust bei CAD-CAM-Implantaten (300,55 ± 220,67 ml) war signifikant (p < 0.001) geringer als in der Palacos®-Gruppe. Zudem hatten CAD-CAM-Patienten (7,57 ± 4,26 Tage) im Vergleich zu Palacos®-Patienten (8,70 ± 4,35 Tage) einen signifikant kürzeren (p < 0.001) postoperativen Krankenhausaufenthalt.
Operative Revisionen traten bei CAD-CAM-Implantaten weniger häufig auf (12,8 % vs. 15,8 %). Im Kurzzeitverlauf (< 30 Tage) war der Hauptgrund dafür in beiden Gruppen ein epidurales Hämatom mit gleichen Anteilen (5,8 %). Im Langzeitverlauf (>30 Tage) zeigten sich Unterschiede zwischen beiden Gruppen. Bei Palacos®-Patienten ereigneten sich im Vergleich zu CAD-CAM signifikant häufiger Implantatdislokationen (p < 0.001).
Postoperative Infektionen traten in 3,8 % der Palacos®-Fälle und nur in 1,8 % der CAD-CAM-Fälle auf. Allerdings zeigten sich bei CAD-CAM-Patienten signifikant (p < 0.001) mehr postoperative revisionsbedürftige Wundheilungsstörungen (WHS). Im Kontext dieser WHS waren insgesamt signifikant mehr kranielle Voroperationen bzw. Wiedereröffnungen des Hautschnittes bei CAD-CAM-Patienten zu sehen (p < 0.01). Im Vergleich zur Gruppe der Palacos®-Patienten zeigte insbesondere das CAD-CAM-Kollektiv mit WHS nahezu doppelt so viele Wiedereröffnungen des kraniellen Hautschnittes (Abbildung 3).
Abb. 3: Boxplot zum Vergleich der Anzahl der Wiedereröffnungen des kraniellen Hautschnittes: Die Patienten mit WHS zeigten nahezu doppelt so viele Wiedereröffnungen als Palacos®-Patienten.
Bei CAD-CAM-Patienten zeigten sich zudem signifikant (p < 0.05) weniger nicht-revisionspflichtige Komplikationen (z. B. Wundpolster, Liquorpolster).
Das ästhetische Ergebnis konnte bei 27,8 % (n = 37) der Palacos®-Patienten und 25,2 % (n = 57) der CAD-CAM-Fälle beurteilt werden. Palacos®-Patienten (M = 3,97, SD = 1,28) waren im Durchschnitt etwas weniger zufrieden als CAD-CAM-Patienten (M = 4,23, SD = 1,00), obwohl beide Gruppen das ästhetische Ergebnis als „zufrieden“ bewerteten. Es konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den beiden Implantatgruppen nachgewiesen werden (p > 0.05).
Diskussion
Die vorliegende Studie ist die derzeit weltweit größte Single-Center-Studie zum Vergleich von freihand-modellierten Palacos®- und CAD-CAM-PMMA-Kranioplastiken. Wir konnten für CAD-CAM-Implantate im Vergleich zu Palacos®-Implantaten überlegene Ergebnisse im Bereich der intra- und postoperativen Parameter zeigen, die zum Teil hochsignifikant waren.
Operationszeit/Blutverlust/stationäre Behandlungsdauer
Die signifikant kürzere Operationszeit und der signifikant geringere intraoperative Blutverlust bei CAD-CAM-Patienten konnten in einigen Studien bereits gezeigt werden, jedoch anhand deutlich geringerer Fallzahlen [16].
Generell können die präoperative Anfertigung, die Möglichkeit der Vorverplattung der Implantate und ein vereinfachter Insertionsprozess als mögliche Gründe für die kürzere Operationszeit angesehen werden [17].
Ein weiteres wichtiges Ergebnis unserer Arbeit war die signifikant kürzere postoperative Hospitalisierung von CAD-CAM-Patienten im Vergleich zu Palacos®-Patienten. Eine Erklärung könnte die schnellere allgemeine und neurologische Rehabilitation der Patienten mit vorgefertigten Implantaten sein [4].
Komplikationsraten
Ein Schwerpunkt unserer Studie war der Vergleich hinsichtlich Kurz- und Langzeitkomplikationen. Allgemeine Komplikationsraten für Kranioplastiken liegen im Bereich zwischen 12 % und 50 % [3][8]. Wir zeigten bei beiden Implantaten eine Komplikationsrate im unteren Bereich, wenngleich CAD-CAM-Implantate weniger revisionspflichtige Komplikationen aufwiesen (12,8 %). In den meisten Studien wird nicht zwischen intraoperativ-geformten und präoperativ-hergestellten PMMA-Kunststoffen unterschieden [6], was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse erschwert. Mögliche Faktoren, die die postoperativen Komplikationen beeinflussen, wie z. B. die Grunderkrankung des Patienten, das Alter des Patienten, das Operationsverfahren, die Erfahrung des Chirurgen oder bestimmte Indikationen für eine Kranioplastik, konnten in unserer Studie nicht nachgewiesen werden.
CAD-CAM-Patienten waren mit 1,8 % weniger anfällig für postoperative Infektionen als Palacos®-Patienten mit 3,8 %. In der Literatur werden zwischen 6 % und 11 % Infektionen für intraoperativ-geformte PMMA-Implantate und 7 % für CAD-CAM-PMMA-Implantate angegeben [15][21]. Im Vergleich zu diesen Studien sind die Infektionsraten für beide Implantate in unserer Studie sehr niedrig.
Eine Erklärung für die geringere Infektionstendenz bei CAD-CAM-Implantaten könnte ihre poröse Struktur sein, die das Einwachsen in das umliegende Gewebe und die Penetration von Gefäßen ermöglicht und unterstützt. Darüber hinaus hat das CAD-CAM-Implantat eine negative Oberflächenspannung, die eine Anhaftung von Bakterien verhindert. In der Literatur werden auch patientenspezifische Merkmale als Einflussfaktoren für Infektionen diskutiert. Insgesamt konnten wir keine patientenspezifischen Faktoren identifizieren, die die Infektionsrate beeinflussen.
Im Langzeitverlauf fanden sich signifikant (p < 0.001) mehr WHS bei CAD-CAM-Kranioplastiken. Die Studienlage hierzu ist nicht eindeutig [7][12]. In unserer Studie lässt sich die erhöhte Anzahl von WHS bei CAD-CAM-Implantaten durch die stark erhöhte Anzahl von kraniellen Voroperationen bzw. Wiedereröffnungen des kraniellen Hautschnittes in dieser Gruppe erklären. Die mehrfachen Wiedereröffnungen des vorangegangenen Hautschnittes könnten zu WHS prädisponiert haben. Eine weitere Ursache könnte sein, dass die CAD-CAM-Implantate aufgrund der besseren Nachbildung der natürlichen Schädelkontur mehr Spannung auf der Haut erzeugten als Palacos®- Implantate. Ebenso könnte die deutlich größere Implantatgröße bei CAD-CAM im Vergleich zu Palacos® zu einer größeren Wundfläche oder Naht und einem entsprechend erhöhten Risiko für WHS geführt haben.
In der vorliegenden Studie zeigten die Palacos®-Implantate signifikant (p < 0.001) mehr postoperative Dislokationen im Langzeitverlauf als CAD-CAM-Implantate. Dies entspricht den Ergebnissen weiterer Studien [21]. Ein Grund für die Dislokationstendenz bei Palacos® könnte die verstärkte Freisetzung von Sauerstoffradikalen im Rahmen des Polymerisationsprozesses sein, welches zu Mikrobewegungen zwischen Material und Knochen führt [19]. Weiterhin kann das Material während des Aushärtungsprozesses schrumpfen [13].
Postoperative Ästhetik
Hinsichtlich der postoperativen Ästhetik zeigten sich bei den CAD-CAM-Implantaten bessere Ergebnisse als bei Palacos®-Implantaten. Die Literaturrecherche ließ ein signifikant besseres Ergebnis zugunsten der CAD-CAM-Implantate erwarten, da vor allem die Freihand-Modellierung mit schlechteren ästhetischen Ergebnissen einherzugehen scheint [10]. Dies konnte in unserer Studie nicht bestätigt werden. Ein Grund dafür könnte die niedrige Anzahl an befragten Patienten sein. Zudem gibt es bis jetzt kein wissenschaftlich anerkanntes und geeignetes Messinstrument zur Bestimmung des ästhetischen und funktionellen Ergebnisses, das validiert ist und standardisiert angewendet werden kann [11]. Die Implementierung eines solchen Messinstruments ist neben der Erhöhung der Anzahl der befragten Patienten das Ziel weiterer Forschung, um aussagekräftige Ergebnisse und eine Vergleichbarkeit der Studien zu erreichen.
Fazit
Diese Studie zeigt eine Überlegenheit der CAD-CAM-Implantate gegenüber Palacos®-Implantaten hinsichtlich peri- und postoperativen sowie ästhetischen Ergebnissen. Insbesondere die kürzere Operationszeit, die kürzere Hospitalisierung, der geringere intraoperative Blutverlust und der klare Trend für eine höhere Zufriedenheit mit dem ästhetischen Ergebnis spricht für die Verwendung der CAD-CAM-PMMA-Implantate. Zudem haben CAD-CAM-Implantate eine geringere Infektionsrate als Palacos®-Implantate und zeigten positive Effekte, wenn sie in vorinfiziertes Gewebe implantiert wurden. Somit könnte die Nutzung von CAD-CAM-PMMA-Implantaten im klinischen Alltag bei Patienten nach Kraniektomie zu einer optimalen und langfristigen Versorgung beitragen. Weitere Studien sind jedoch erforderlich, um die langfristigen Komplikationsraten, insbesondere bei CAD-CAM-Implantaten, zu bewerten und die Stichprobengröße der Befragung zu erhöhen, um die Resultate im ästhetischen Ergebnis zu bestätigen.
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Verfasser
Stabsarzt Dr. Dustin Hädrich
Bundeswehrzentalkrankenhaus Koblenz
Klinik IV – Augenheilkunde
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz
E-Mail: dustinhaedrich@bundeswehr.org
Der Vortrag belegte den 2. Platz beim Wettbewerb um den Heinz-Gerngroß-Förderpreis 2023 der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V.