Low-grade muzinöse Neoplasie der Appendix – Flankenschmerz in der truppenärztlichen Sprechstunde
Low-grade Mucinous Neoplasm of the Appendix – Flank Pain Presented in Military Medical Consultation
Patrick Kandzioraa, Nathalie Maagb, Benny Kölbelc, Patrick Heinza
a Sanitätszentrum Regen
b Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Institut für Pathologie und Molekularpathologie
c Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie
Zusammenfassung
Im Rahmen der erweiterten Abklärung bei einem Patienten, der sich mit Flankenschmerz in der truppenärztlichen Sprechstunde vorstellt, wird im vorliegenden Fall eine low-grade muzinöse Neoplasie der Appendix (LAMN) diagnostiziert. Hierbei handelt es sich um eine insgesamt seltene Tumorentität. Gemäß Registerdaten wird eine LAMN in 0,13 % aller Appendektomien in Deutschland histopathologisch gesichert. Nach der Diagnosestellung und der definitiven Therapie schließt ein mehrjähriges multimodales Nachsorgeschema an. Im vorliegenden Artikel soll der ungewöhnliche Weg zur Diagnose, die Therapie und die spezifische Nachsorge dargestellt werden.
Schlüsselwörter: Low-grade muzinöse Neoplasie der Appendix (LAMN), Flankenschmerz, Pseudomyxoma peritonei (PMP), Hypertherme intraperitoneale Chemoperfusion (HIPEC), Appendektomie, Kernspintomografie
Summary
As part of the extended evaluation of a patient presenting flank pain during military medical consultation, a low-grade mucinous neoplasm of the appendix (LAMN) was diagnosed. This is an overall rare tumor entity. According to registry data, LAMN is histopathologically confirmed in 0,13 % of all appendectomies in Germany. After diagnosis and definitive therapy, a multimodal follow-up regimen over a time span of several years is recommended. This article will describe the unusual path to diagnosis, therapy and specific follow-up care.
Keywords: Low-grade mucinous neoplasm of the appendix (LAMN); flank pain; pseudomyxoma peritonei (PMP); hyperthermic intraperitoneal chemoperfusion (HIPEC); appendectomy; magnetic resonance imaging
Falldarstellung
Wir berichten über einen 31-jährigen Soldaten, welcher sich erstmals Mitte Februar 2023 mit unspezifischen, teilweise belastungsabhängigen mäßigen Schmerzen rechts subkostal und im Bereich der Flanke truppenärztlich vorstellte. Er selbst sah hier einen Zusammenhang mit schon länger bekannten Schulterbeschwerden und einer Arthroskopie der rechten Schulter im Dezember 2022 (arthroskopische subakromiale Dekompression, Bursektomie und AC-Gelenksresektion bei chronischer AC-Gelenksarthrose nach stattgehabter AC-Gelenksdistorsion). Weitere relevante Vorerkrankungen waren nicht bekannt, er nahm keine Dauermedikation ein.
Der klinische Befund zeigte sich bis auf einen Druckschmerz im rechten Oberbauch komplett unauffällig. Eine durch uns erhobene Abdomen-Sonografie ergab keinen pathologischen Befund. Die Appendix vermiformis war nicht darstellbar. Der Soldat verblieb zunächst aufgrund der fehlenden körperlichen Beeinträchtigung im Tagdienst. Unter dem Verdacht auf eine muskuloskelettale Genese wurde Physiotherapie verordnet.
Ein bei Beschwerdepersistenz im April 2023 initiiertes konventionelles Röntgen-Hemithorax rechts konnte keinen Hinweis auf eine frische oder ältere knöcherne Läsion erbringen. Laborchemisch zeigten sich sowohl die Entzündungswerte (C-reaktives Protein, Procalcitonin), Transaminasen, Cholestaseparameter (Bilirubin, γ-Glutamyltransferase) als auch Kreatinin normwertig.
Im zeitlichen Verlauf beschrieb der Soldat die Beschwerdesymptomatik als fluktuierend ziehend-stechenden Flankenschmerz; Übelkeit oder Erbrechen wurden verneint, jedoch wurden gelegentliche Stuhlunregelmäßigkeiten mit Schleimbeimengung beklagt.
Zum Ausschluss einer okkulten Hernie der ventralen Bauchwand wurde im Juli 2023 eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Abdomens nativ und mit Kontrastmittel terminiert. Hier kam eine ileozökal lokalisierte, nach dorsal ragende längliche Struktur mit hyperintensem Lumen, vereinbar mit einer prominenten dehiszenten Appendix vermiformis, zur Darstellung. Bildmorphologisch musste neben einer chronischen Appendizitis differentialdiagnostisch auch an einen zystischen (muzinösen) Appendixtumor gedacht werden (Abbildungen 1 und 2).
Abb.1: Kernspintomografie des Abdomens (frontal): Appendix vermiformis mit hyperintensem Lumen (gelbe Markierung)
Abb. 2: Kernspintomografie des Abdomens (transversal): Ileozökal lokalisierte, nach dorsal ragende längliche Struktur, vereinbar mit der Appendix vermiformis (gelbe Markierung)
Der Soldat wurde in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Ulm zur weiterführenden Diagnostik vorgestellt. Eine dort durchgeführte Ileokoloskopie mit Einsicht bis in das terminale Ileum zeigte eine invertierte und vergrößerte Appendixwurzel.
Im interdisziplinären Tumorboard wurde zur Abklärung der unklaren Raumforderung der Appendix vermiformis bei differenzialdiagnostisch auch denkbarem Pseudomyxom die Indikation zur diagnostischen Laparoskopie, laparoskopischen Appendektomie und Probenentnahme des Peritoneums mit histopathologischer Aufarbeitung des Gewebes gestellt. Der minimalinvasive Eingriff sowie die Gewebeentnahmen erfolgten im August 2023 komplikationslos; intraoperativ imponierte die Appendix vermiformis verdickt, aber reizlos. Der Soldat berichtete anschließend über Beschwerdefreiheit (Abbildungen 3 und 4).
Abb. 3: Peritoneale Aussaat in der Laparoskopie (gelbe Markierungen)
Abb. 4: Laparoskopische Appendektomie
Die pathologische Begutachtung (Institut für Pathologie und Molekularpathologie BwKrhs Ulm) erbrachte schließlich die Diagnose „LAMN mit azellulärer Muzinose des Peritoneums“ (Abbildung 5).
Abb. 5: Niedrigmaligne muzinöse Neoplasie (LAMN) der Appendix vermiformis mit großflächigem, extrazellulärem Muzin (Schleimseen):
(A) HE-morphologisch abgeflachtes, villöses Epithel mit geringen Atypien und ohne Stromadesmoplasie
(B) Großflächige PAS-positive und azelluläre Schleimseen (Stern), die das Appendixlumen ausfüllen
(C) Expansive Invasion von Muzin in die Muscularis propria (Raute). Scale bar 200µm.
Auf Empfehlung der Kollegen der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie BwKrhs Ulm erfolgte im Oktober 2023 die Vorstellung des Soldaten an der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie am Krankenhaus Barmherzige Brüder in Regensburg (Referenzzentrum für chirurgische Erkrankungen des Peritoneums). Im November 2023 wurde dort eine diagnostische Re-Laparoskopie mit Probenentnahme durchgeführt. Hierbei konnten intraoperativ suspekte peritoneale Herde im rechten Unterbauch, geringer im rechten Oberbauch und Peritoneum parietale sowie auch auf dem Blasenperitoneum bestätigt werden. Der Soldat wird sich im Januar 2024 einer zytoreduktiven Operation (CRS) und hyperthermen intraperitonealen Chemoperfusion (HIPEC) mit kurativem Ansatz unterziehen.
Diese Fallpräsentation veranschaulicht den langen und mehrstufigen Diagnostikprozess in der Abklärung einer zunächst als banal erscheinenden Beschwerdesymptomatik mit dem Ergebnis einer absolut seltenen Krankheitsentität.
In der truppenärztlichen Sprechstunde sind neben akut infektiösen Erkrankungen insbesondere orthopädische Krankheitsbilder und muskuloskelettale Beschwerden überproportional häufig anzutreffen. Gerade deswegen fällt hierbei dem Truppenarzt die herausfordernde Aufgabe zu, fächerübergreifend zu denken und im individuellen Fall auch konsequent weiterführende Diagnostik zu betreiben.
Diskussion
Inzidenz von Apendixneoplasien
In Deutschland werden jährlich etwa 100 000 Appendektomien durchgeführt [1][13]. Der Großteil der resezierten Präparate zeigt einen gutartigen Befund, der Neoplasienachweis bleibt die Ausnahme. Die histopathologische Aufarbeitung aller Appendektomiepräparate in einem Patientenkollektiv, welches sich mit klinischem Verdacht auf eine Appendizitis präsentierte, ergab eine Neoplasierate von bis zu 2,5 %. Insbesondere ein höheres Patientenalter, eine atypische klinische Präsentation (fehlender charakteristischer Schmerz im rechten unteren Quadranten) und vorangegangene immunsuppressive Therapien sind mit einem erhöhten Malignomrisiko vergesellschaftet [10].
Die Diagnose der primären Appendixneoplasie ist grundsätzlich selten, sodass die primäre Operation zunächst meist in Unkenntnis der definitiven Situation erfolgt. Erschwerend kommt hinzu, dass auch mithilfe von Schnittbildgebungen präoperativ nur mit unzureichender Sicherheit verlässlich die Diagnose eines Appendixtumors gestellt werden kann. Meist finden sich nur indirekte Hinweise für das Vorliegen einer solchen Situation. Die höchste Sensitivität liefert dabei die abdominelle Kernspintomografie [9].
Eine Subklasse der primären Appendixneoplasien stellen die muzinösen Neoplasien der Appendix dar. Hierunter werden die low-grade muzinösen Neoplasien der Appendix (LAMN) sowie die high-grade muzinöse Neoplasie der Appendix (HAMN) subsumiert. Beide Tumorentitäten gehen von dem die Appendix auskleidenden, schleimbildenden Drüsenepithel aus und sind durch extrazelluläre Schleimablagerungen und verdrängendes, aber nicht gewebeinvasives Wachstum gekennzeichnet. Bei Perforation kann es zu peritonealen Schleimaustragungen kommen. Sind diese azellulär, spricht man von einer peritonealen Muzinose. Finden sich in der Muzinmenge auch neoplastische Zellen, handelt es sich um ein Pseudomyxoma peritonei (PMP) [2][12].
Kennzeichnend für LAMN ist eine Distension der Appendix vermiformis, häufig in Verbindung mit intraluminalem Muzin. Es zeigen sich niedriggradige Zellatypien in Abwesenheit von Siegelringzellen oder high-grade-Atypien. LAMN werden als Grad 1 Tumor klassifiziert [12]. Die Tumour-Node-Metastasis-Klassifikation (TNM-Klassifikation) bietet die Besonderheit, dass die Tumorkategorien pT1 und pT2 für LAMN nicht vergeben werden, da eine Ausbreitung bis in die Lamina muscularis propria bereits als Herniation gewertet wird. Die TNM-Klassifikation und UICC-Stadien der low-grade muzinösen Neoplasien der Appendix sind in Tabelle 1 dargestellt [16]. In einer retrospektiven Auswertung eines populationsbasierten deutschen Krebsregisters wurde eine LAMN in 0,13 % der insgesamt durchgeführten Appendektomien histopathologisch nachgewiesen. Etwa 63 % der Patienten waren weiblich, bei der Hälfte der Betroffenen wurde bereits initial das Tumorstadium T4 festgestellt [7].
Tab. 1: TNM-Klassifikation und UICC-Stadien der low-grade muzinösen Neoplasien der Appendix vermiformis
Therapieregime
Kann im Rahmen der Appendektomie eine vollständige Resektion erzielt werden (Ausschluss einer Perforation, einer intraabdominellen Muzinose oder eines Pseudomyxoma peritonei), so ist die Appendektomie die definitive Therapie. Bei Eintragungen von Muzin in die Peritonealhöhle ist die zytoreduktive Chirurgie mit hyperthermer intraperitonealer Chemoperfusion (HIPEC) angezeigt. Die Durchführung einer HIPEC erfolgt im Anschluss an die zytoreduktive Chirurgie durch Infundieren einer erwärmten Zytostatikalösung nach intraperitoneal. Die auf etwa 42 °C erwärmte Lösung wird über großlumige Drainagen zugeführt und für einen Zeitraum von 60–90 min zirkuliert. Im Anschluss erfolgt die Ausleitung der Narkose [8][11]. Eventuell verbliebene Tumorzellen sollen durch diese Therapie erfasst werden. Das Ziel der HIPEC ist eine vollständige Entfernung des Tumorgewebes [14]. Die Therapieempfehlungen sind in Abbildung 6 dargestellt.
Abb. 6: Therapieempfehlung der low-grade muzinösen Neoplasien der Appendix vermiformis (PMP: Pseudomyxoma peritonei; HIPEC: Hypertherme intraperitoneale Chemoperfusion)
Für die Prognoseabschätzung ist entscheidend, ob im intraabdominell nachgewiesenen Muzin neoplastische Zellen nachweisbar sind. Lassen sich keine Zellen und damit eine azelluläre Muzinose nachweisen, besteht eine niedrigere Rezidivwahrscheinlichkeit. Bei Nachweis einer zellhaltigen Muzinose ist die Diagnose eines PMP zu stellen. Die Rezidivwahrscheinlichkeit ist damit trotz intraoperativ gegebenenfalls vollständiger Zytoreduktion signifikant erhöht [5].
Für eine adjuvante oder perioperative systemische Chemotherapie konnte bisher kein positiver Nutzennachweis erbracht werden. Eine neoadjuvante Chemotherapie korreliert sogar negativ hinsichtlich des Gesamt- und progressionsfreien Überlebens. Bei frühen Tumorstadien ohne Perforation ist die Rezidivrate und die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines PMP signifikant geringer als bei primär perforierter Appendix vermiformis [3][5]. Hierbei muss allerdings auf das Fehlen prospektiv randomisierter Studien hingewiesen werden [6].
Nachsorge
Weitgehender Konsens besteht darin, dass nach erfolgter Resektion eine engmaschige Nachsorge, bestehend aus MRT-Kontrollen und Bestimmung der Tumormarker (CA-125 (Cancer-Antigen 125), CA-19–9 (Cancer-Antigen 19–9) und CEA (Carcinoembryonales Antigen)) angezeigt ist. Die Rezidiverkennung soll damit möglichst frühzeitig gewährleistet werden [4][15]. Ein pragmatischer Vorschlag ist, alle sechs Monate über einen Zeitraum von fünf Jahren abdominelle Schnittbildgebungen (vorzugsweise MRT) sowie die simultane Bestimmung der Tumormarker vorzunehmen [6].
Kernsätze
- Low-grade muzinöse Neoplasien und Pseudomyxoma peritonei sind insgesamt seltene Diagnosen.
- Die Diagnosestellung erfolgt häufig als Zufallsbefund.
- Ein spezifisches Therapieregime und Nachsorgeschema sollten Anwendung finden.
- Es besteht eine Assoziation mit höherem Patientenalter, dem weiblichen Geschlecht und einer vorangegangenen immunsuppressiven Therapie.
Literatur
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- Wittekind C (ed.): TNM Klassifikation maligner Tumoren. 8 Edition. Weinheim: Wiley-VCH. 2015: 93–96.
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Bildquellen:
Abbildungen 1 und 2: Dr. med. Nikolaus Arndt, DIE RADIOLOGEN Deggendorf, Graflinger Str. 135, 94469 Deggendorf
Abbildungen 3 und 4: BwKrhs Ulm, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie
Abbildung 5: BwKrhs Ulm, Institut für Pathologie und Molekularpathologie
Manuskriptdaten
Zitierweise
Kandziora P, Maag N, Kölbel B, Heinz P: Low-grade muzinöse Neoplasie der Appendix – Flankenschmerz in der truppenärztlichen Sprechstunde. WMM 2024; 68(3): 83-87.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-258
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Patrick Kandziora, MBA
Sanitätsunterstützungszentrum Kümmersbruck
Sanitätszentrum Regen
Bodenmaiser Straße 66, 94209 Regen
E-Mail: patrickkandziora@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Kandziora P, Maag N, Kölbel B, Heinz P: [Low-grade mucinous neoplasm of the appendix – flank pain presented in military medical consultation]. WMM 2024; 68(3): 83-87.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-258
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Dr. Patrick Kandziora, MD, MBA
Major Medical Clinic Kümmersbruck
Medical Clinic Regen
Bodenmaiser Straße 66, D-94209 Regen
E-Mail: patrickkandziora@bundeswehr.org