Editorial
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser!
Der Alltag des Fachpersonals in der regionalen sanitätsdienstlichen Unterstützung bietet eine unendliche Vielfalt an spannenden Themen und Herausforderungen. Im Vordergrund steht mit Sicherheit der Versorgungsauftrag für Soldatinnen und Soldaten, der das gesamte Spektrum der Allgemeinmedizin umfasst. Truppenarzt sein heißt aber viel mehr: Dieser Beruf bedeutet Vorgesetzter zu sein, den Betrieb der Sanitätseinrichtung zu organisieren und, vor allem, Menschen zu führen in allen Lagen.
Die aktuelle sicherheitspolitische Zeitenwende ist umfassend: Krieg in der Ukraine, in Gaza und am Roten Meer. Waren wir in den letzten zwei Jahrzehnten von „Freunden umzingelt“ und mit den Streitkräften nur im internationalen Krisenmanagement (IKM) tätig, so ist die Landes-/Bündnisverteidigung nun wieder zwingender Kernauftrag, auf den sich alles ausrichtet. Einsatzbereitschaft und Kriegstüchtigkeit der Streitkräfte sind für den Kommandobereich Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung daher handlungsleitend.
Diese Ihnen vorliegende Ausgabe der Wehrmedizinischen Monatsschrift will Bewusstsein schaffen für diese neue Lage. Insofern sorgt der erste Beitrag des Kommandeurs Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung für die Einstimmung und gibt die Richtung des Handelns vor. Andreas Lison mit seinen Autoren und Viveka Thun-Blasche et al. geben einen exzellenten Einblick in die veränderte Perspektive der militärisch-dienstlich orientierten Rehabilitation. Hier haben sich in der Vergangenheit enorm viele Erkenntnisse ergeben, die eine Rollen- und Bewusstseinsänderung für den soldatischen Wiederherstellungsprozess bewirkt haben. Besonders eindrücklich ist zu beobachten, wie daraus auch erste strukturelle Veränderungen entstanden sind, indem die dienstliche Rehabilitation in die Eigenverantwortung der Sanitätsunterstützungszentren verlagert worden ist. Die folgenden Kasuistiken von Patrick Kandziora et al. und Ingo Teufelhart spiegeln wirklich die Arbeit der Truppenärztinnen und Truppenärzte wider. An diesen medizinischen Fällen erkennt man, welche diagnostischen Probleme den Alltag kennzeichnen, aber auch die Vorgesetztenrolle und die Verantwortung, die ein Bataillonsarzt auf dem Truppenübungsplatz hat. Absolut spannend!
Den fachlichen Abschluss des Heftes stellen die Kasuistiken von Thomas Okon und René Thierbach. Diese werden ergänzt Gregor Eckstein mit den Perspektiven der akademischen Lehrpraxis im Bereich eines Sanitätsunterstützungszentrums. Viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe.
Herzlichst
Ihr Horst Peter Becker
Chefredakteur
Die regionale Versorgung verändert sich – was bewegt uns?
Armin Kalinowskia
a Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung, Diez
Hintergrund
„Die Gesundheit ist zwar nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts“.
Egal, ob dieser Aphorismus vom Philosophen Arthur Schopenhauer stammt oder erst später entwickelt wurde, er bleibt allgemeingültig und ist bei den Menschen hoch akzeptiert.
Die Sicherstellung von Gesundheit als Quelle von Lebensglück und Grundlage von Leistungsfähigkeit ist in entwickelten, modernen Gesellschaften ein bedeutender Faktor für politische und soziale Stabilität. Aufgrund dieser zunehmenden Bedeutung gehört Gesundheitsversorgung zu den wenigen zukunftsweisenden globalen Megatrends.
Es bestehen enge naturgesetzliche Beziehungen zwischen Gesundheit und Leistung. Es ist breiter Konsens, dass für die Einsatzbereitschaft von Streitkräften eine stabile und aktive Gesundheitsversorgung überragende Bedeutung hat. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr ist dabei eine Erfolgsgeschichte. Er hat sich zu einem der weltweit führenden militärischen Gesundheitssysteme entwickelt. Wesentliche Erfolgsfaktoren dafür waren die Durchsetzung professioneller Vorgaben analog zum zivilen Gesundheitssystem, konsequente Weiterentwicklung der Wehrmedizin und vor allem die Selbstständigkeit als Organisationsbereich seit nunmehr über 20 Jahren. Es ist immer wieder irritierend, dass bei fast jeder Strukturdiskussion diese Selbstständigkeit in Frage gestellt wird – sie ist und bleibt ein Kern des Erfolges.
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr hat seine hohe Leistungsfähigkeit vor allem entlang den Erfahrungen aus Auslandseinsätzen sowie Missionen in Katastrophenfällen entwickelt. Die sogenannte Rettungskette integriert alle Versorgungsebenen und -sektoren harmonisch und hat ihre Exzellenz immer wieder bewiesen. Die Auswertung der Einsätze und die wissenschaftliche Beschäftigung mit wehrmedizinischen Themen hat die Qualität der Versorgung weit vorangebracht und hat sogar einigen Einfluss auf die zivile Gesundheitsversorgung, besonders im Bereich der Traumatologie und der Notfallmedizin.
Die aktuellen Strukturen des Sanitätsdienstes bilden ein vollständig integriertes Gesundheitssystem ab, einzigartig in Deutschland. Durch enge organisatorische und ressourcenbestimmende Vorgaben entstanden naturgemäß manchmal ungünstige Schnittstellen, insgesamt jedoch funktioniert das Gesamtgebilde sehr gut. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr entlang eines ständigen Qualitätsanstiegs nicht größer wurde, sondern Dienstposten verloren hat.
Die zentrale Wichtigkeit der Truppenärztinnen und Truppenärzte
Das Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung wurde 2013 aufgestellt, um die Aufgaben der ambulanten medizinischen Versorgung außerhalb der Bundeswehrkrankenhäuser sicherzustellen. Hinzu kommt die Wahrnehmung der Aufgaben der Role 1-Versorgung bei Übungen und Einsätzen sowie eine prominente Rolle in der Administration der Heilfürsorge der Bundeswehr.
Das „Kümmern“ um die Gesundheit und damit ein wesentlicher Aspekt der Einsatzbereitschaft des militärischen Personals passiert weit überwiegend bei den Truppenärzten und -ärztinnen. Sie sind Dreh- und Angelpunkt aller Angelegenheiten, die die gesundheitliche Situation betreffen. Das Spektrum geht weit über den reinen medizinischen Praxisbetrieb hinaus. Die Truppenärzte und -ärztinnen sind neben der Kuration Berater in präventivmedizinischen Dingen und Koordinatoren bei komplexen Fragestellungen, z. B. in Sachen der Einsatzweiterverwendung.
In der truppenärztlichen und ambulanten fachärztlichen Versorgung besteht Facharztstandard. Dies ist das Ergebnis konsequenter Personalentwicklung und einer Organisation in Berücksichtigung erfolgreicher ziviler Strukturen. Leitliniengerechte Medizin und gute apparative Ausstattung garantieren höchste Versorgungsqualität in der Human- und in der Zahnmedizin (Abbildungen 1 und 2).
Abb. 1: Gute apparative Ausstattung in der Humanmedizin (Bildquelle: Kdo RegSanUstg)
Abb. 2: Behandlungssituation in der Zahnmedizin (Bildquelle: Kdo RegSanUstg)
Die Allgemeinmedizin wird in der Ausrichtung zunehmend präventiver; Ziel ist es primär, Krankheit zu verhindern. Die Rolle des Truppenarztes als Gesundheitsscout wird prägender, die Nutzung auch des Betrieblichen Gesundheitsmanagements bedeutsamer. Auch das korreliert mit den Anstrengungen der gesamten Streitkräfte zur Erhöhung der personellen Einsatzbereitschaft.
Im Bereich der Rehabilitation und der Wiedereingliederung wurde die truppenärztliche Verantwortung kontinuierlich erweitert. Da die komplexe rehabilitative Medizin nur wenig Inhalt universitärer Ausbildung ist, wird hier noch deutlich mehr in Fortbildung investiert werden müssen. Dies ist im Gange.
Wissenschaft liegt im dienstlichen Interesse. Die Auswertung von Daten und die Weiterentwicklung von Qualitätsstandards sind Basis für den Erfolg. Die noch nicht adäquate Digitalisierung ist leider – nicht nur hierbei – ein erheblicher Hemmschuh, die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen dadurch erschwert. Akademische Kooperationen sind noch derzeit im Anfangsstadium, führten aber schon zu einer Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten.
Erfreulich ist, dass einige Sanitätsversorgungszentren bereits den Status einer Akademischen Lehrpraxis erreichen konnten. Von zentraler Bedeutung ist, dass möglichst viele militärische Einrichtungen eine Weiterbildungserlaubnis besitzen. Dies unterliegt durch unterschiedliche Philosophien der zuständigen Landesärztekammern mitunter Schwankungen, ist aber zunehmend stabil.
Ausblick auf die Zukunft
Die vollständige Ausrichtung auf die Kernaufgabe Landes- und Bündnisverteidigung hat für den Kommandobereich wesentliche Auswirkungen. War die truppenärztliche Versorgung aufgrund fehlender Ressourcen bisher zentral organisiert, ist nun wieder die kohäsive Zuwendung zur Truppe gefordert. Die bisherige Vorgabe, innerhalb einer Entfernung von 30 km bzw. einer Anreise von bis zu 30 min truppenärztlich zu versorgen, war für die rein medizinische Seite erfolgreich. Die Beratung der Truppenkommandeure und die Verbindung zur Truppe konnte unter diesen Bedingungen allerdings nicht vollständig aufrechterhalten werden. Der aktuelle strukturelle Ansatz, an den Standorten der für die Division 25 assignierten Kampf- und Kampfunterstützungsbataillone neue Sanitätszentren zu installieren, die alle Unterstützungselemente der Role 1 im Bereich führen, wird dieser Anforderung gerecht. Allerdings müssen die entsprechenden Einrichtungen infrastrukturell, personell und materiell zum größten Teil erst aufgestellt werden – und das ohne Unterbrechung der Versorgung. Hinzu kommt die notwendige Unterstützung der zukünftigen Brigade in Litauen, ebenfalls mit zwei neuen Sanitätszentren.
Die Dienstpostenbesetzung in der regionalen Versorgung ist mit deutlich über 80 % formal als gut zu bezeichnen. Seit vielen Jahren liegt die tatsächliche Tagesantrittsstärke aber deutlich niedriger, nicht selten unter 50 %. Es ist der Motivation des Personals zu verdanken, dass die Versorgung im Ergebnis nach wie vor sehr gut ist. Insbesondere die Covid-Pandemie hat die Menschen an den Rand der Leistungsfähigkeit gebracht. Etwas Ruhe täte gut, ist aber nicht in Sicht. Die bisher erfolgreiche Möglichkeit, zivile Vertragsärzte mit Versorgungsaufgaben zu betrauen, musste zurückgefahren werden, nachdem es seit über sechs Jahren nicht gelungen ist, die notwendigen Regelungen zu treffen, um neue Vertragsärzte anstellen zu können. Dieser Umstand ist kaum noch vermittelbar.
Die regionale Versorgung, dabei insbesondere der truppennahe Anteil der Role 1, wächst personell auf. Über 1 000 neue Dienstposten sind initial zu besetzen, um den weiter gestiegenen Anforderungen gerecht werden zu können. Die Personalgewinnung funktioniert auch in Hinblick auf die starke Konkurrenz des zivilen Marktes aktuell zwar gut, es liegt allerdings in der Natur größerer Umstrukturierungen, dass passager zusätzliche Lücken entstehen werden. Hier ist Führung gefragt, die eindeutige Priorisierungen vorgibt und die strukturellen Veränderungen eng begleitet.
Kritische Momente ergeben sich immer wieder aus einer ungünstigen Materiallage, insbesondere bei den Fahrzeugen. Ungeschützter und geschützter Patiententransport ist ein wesentlicher Eckpfeiler der Rettungskette in allen Szenarien. Ohne einsatzfähige Fahrzeuge kann die Truppe nicht wirksam unterstützt und kann die eigene Truppe nicht versorgt werden. Hier muss wirksam nachgesteuert werden.
Gesundheitsversorgung ist ein komplexes und durch viele Rechtsnormen geregeltes Geschäft. Die Gefahr einer Überbürokratisierung ist groß, zumal die Verarbeitung der Daten noch nicht wirkungsvoll digitalisiert ist. Insgesamt wird Bürokratie als Belastung empfunden, es muss weiterhin priorisiertes Ziel bleiben, die Truppe von Meldeverpflichtungen zu entlasten. Zwingend jedoch ist die umfangreiche und alle sanitätsdienstlichen Elemente umfassende Digitalisierung. Die Rahmenbedingungen dafür wurden geschaffen, die Sicherstellung der Finanzierung und die zügige sowie nachhaltige Umsetzung ist einer der wesentlichen Erfolgsfaktoren der Zukunft.
Die regionale sanitätsdienstliche Unterstützung ist derzeit hoch leistungsfähig. Sie ist von den Ressourcen her gesehen teilweise am Limit, aber überaus motiviert. Sie ist von den strukturellen Veränderungen hin zur Landes- und Bündnisverteidigung besonders betroffen und befindet sich in einer länger andauernden Konvergenzphase.
Die Leistungskapazitäten sind nahezu ausgereizt. Stabilität auf längere Sicht ist nur zu erwarten, wenn die ressourcenbedingten Defizite beseitigt werden. Dies betrifft vor allem die Verbesserung der Tagesantrittsstärken, eine adäquate Ausstattung mit Fahrzeugen und eine Digitalisierung der Praxiseinrichtungen im Grundbetrieb und Einsatz.
Die regionale Versorgung bietet mit seiner fachlichen Professionalität und Motivation hervorragende Entwicklungsmöglichkeiten für ambitionierte Menschen. Sie ist durch ihre Leistungsfähigkeit im Rahmen der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung auch ein wesentlicher Attraktivitätsfaktor für die Bundeswehr an sich.
In zwei Ausgaben der Deutschen Wehrmedizinischen Monatsschrift stellt das Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung aus der breiten Palette seiner Verantwortung Kostproben seiner Arbeit und Erfahrung vor. Ich würde mich freuen, wenn diese das Systemverständnis in der wehrmedizinischen Community erweitern und unserem fachlichen Nachwuchs Appetit machen, sich in diesem Umfeld zu entwickeln.
Verfasser
Generalstabsarzt Dr. Armin Kalinowski
Kommandeur Kommando Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung
Schloss Oranienstein, 65582 Diez