Hautaffektionen nach S-Lost Exposition
Skin Lesions after Sulfur Mustard Exposure
Simone Rothmillera, Franz Woreka, Dirk Steinritza
aInstitut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr, München
aInstitut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr, München
Zusammenfassung
Trotz Ächtung durch das Chemiewaffenübereinkommen geht vom chemischen Kampfstoff Schwefel-Lost (S-Lost) auch heute noch eine Bedrohung aus. Nach Kontakt mit der Haut treten mit zeitlicher Latenz Rötung, Blasenbildung, Ulzerationen und Wundheilungsstörungen auf. Der Artikel beschreibt diesen klassischen Verlauf anhand eines Vergiftungsfalls mit S-Lost in einem Chemiebetrieb in Deutschland.
Der Schädigungsmechanismus von S-Lost ist äußerst komplex und bis heute nicht vollständig verstanden, sodass eine spezifische Behandlung nicht existiert. Bei der Wundheilung spielen mesenchymale Stammzellen eine entscheidende Rolle: Diese migrieren in das geschädigte Areal und regen dort Zellen zur Regeneration des zerstörten Gewebes an oder differenzieren selbst in Zellen des Zielgewebes. S-Lost stört die Funktion dieser Stammzellen in empfindlichem Maße: Die Migration bleibt nahezu aus, das sekretorische Profil der Stammzellen wird signifikant beeinflusst und ihr Teilungsverhalten ist gestört. Diese dysfunktionalen Eigenschaften werden als zelluläre Seneszenz bezeichnet.
Der Artikel beschreibt unsere Untersuchungen zur durch S-Lost induzierten Seneszenz in humanen mesenchymalen Stammzellen und diskutiert diesen Aspekt als möglichen neuen Therapieansatz von nicht heilenden Hautwunden nach S-Lost Exposition.
Schlüsselwörter: Chemische Kampfstoffe, Hautkampfstoff, Kasuistik, mesenchymale Stammzellen, zelluläre Seneszenz, Senolytika
Summary
Despite being banned by the Chemical Weapons Convention, the chemical warfare agent sulfur mustard (SM) still poses a threat today. After contact to the skin, reddening, blistering, ulceration, and wound healing disorders occur after an asymptomatic interval. This article describes this classic course of events based on a case of poisoning with SM in a chemical plant in Germany.
The mechanism of SM damage is highly complex and has not been fully understood by today so that specific treatment does not exist. Mesenchymal stem cells play a crucial role in wound healing: these migrate to the damaged area and stimulate cells to regenerate the destroyed tissue or differentiate into cells of the target tissue themselves. SM disrupts the function of these stem cells to a sensitive degree: migration is almost absent, the secretory profile of stem cells is significantly affected, and their division behavior is disturbed. These dysfunctional properties are referred to as cellular senescence.
The article describes our studies on SM-induced senescence in human mesenchymal stem cells. It discusses this aspect as a possible new therapeutic approach to non-healing skin wounds after SM exposure.
Keywords: chemical warfare agents; blister agent; mesenchymal stem cells; cellular senescence; senolytic drugs
Einleitung
Schwefel-Lost (S-Lost, „Senfgas“, Yperit, CAS-Nr. 505–60–2) ist ein chemischer Kampfstoff, der durch das seit 1997 in Kraft getretene Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) geächtet ist [17]. Das CWÜ verbietet die Herstellung, das Vorhalten, den Transport sowie den Einsatz von chemischen Kampfstoffen. Die Einhaltung des CWÜ wird durch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) überwacht [16]. Dennoch ist eine reale Bedrohung durch chemische Kampfstoffe evident: Der Nervenkampfstoff Sarin, der Hautkampfstoff S-Lost sowie Chlorgas wurden seit 2013 wiederholt in Syrien und im Irak durch staatliche und nicht-staatliche Akteure, z. B. durch die Terrororganisation „Islamischer Staat“, eingesetzt [7]. Nervenkampfstoffe wurden immer wieder in den vergangenen Jahren verwendet, wie beispielsweise der Nachweis eines Nervenkampfstoffs aus der Nowitschok-Gruppe bei der versuchten Ermordung des russischen Oppositionspolitiker Alexei Anatoljewitsch Nawalny im Jahr 2020 zeigt [25].
Im Jahre 1820 führte der belgisch-französische Chemiker César-Mansuète Despretz erstmals die Synthese von S-Lost durch. In seinem Bericht beschrieb er die Entstehung einer „abscheulich stinkenden Verbindung“, welche er durch die Reaktion von Schwefeldichlorid und Ethylen erhielt [13]. Die Untersuchung der neu synthetisierten Verbindung erfolgte erst später fast zeitgleich im Jahr 1859 durch den deutschen Chemiker Albert Niemann (nebenbei: Niemann stellte 1860 erstmals das Kokain als Reinalkaloid dar) und im Jahr 1860 durch den britischen Chemiker Frederick Guthrie [6][15]. Niemann lieferte bereits eine sehr präzise Beschreibung des klinischen Bildes einer kutanen S-Lost-Vergiftung:
„Die charakteristischste Eigenschaft dieses Öles ist zugleich eine sehr gefährliche. Sie besteht darin, dass selbst die geringste Spur, die zufällig auf irgendeine Stelle der Haut kommt, anfangs zwar keinen Schmerz hervorruft, nach Verlauf einiger Stunden aber eine Rötung derselben bewirkt und bis zum folgenden Tage eine Brandblase hervorbringt, die sehr lange eitert und außerordentlich schwer heilt, unter Hinterlassung starker Narben.“ [15]
Ähnliche Beobachtungen machte auch Guthrie:
„Die geringsten Mengen Dampf, welche sich von ihr verbreiten, greifen die zarteren Teile der Haut, z. B. zwischen den Fingern und um die Augen, an und zerstören die Epidermis. Lässt man sie in flüssigem Zustand auf der Haut verweilen, so bildet sich eine Blase.“ [5]
Beide Chemiker erkannten, dass klinische Symptome nach Kontakt mit der Substanz nicht unmittelbar, sondern erst mit einer zeitlichen Verzögerung auftreten [5][15].
In der darauffolgenden Zeit fand die Substanz S-Lost keine weitere Berücksichtigung, doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges änderte sich dies schlagartig. Eine stagnierende Kriegssituation mit geringen Fortschritten auf beiden Seiten und der drohende Mangel an herkömmlicher Munition führten schließlich zur Verwendung von chemischen Verbindungen im Kriegsgeschehen [12]. Nach dem Einsatz von Tränengas und Chlor durch alle Kriegsparteien wurde S-Lost erstmals 1917 auf Anraten von Prof. Fritz Haber, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin, eingesetzt [4]. Dort erarbeiteten vorab die Chemiker Wilhelm Lommel und Wilhelm Steinkopf unter Nutzung einer von Victor Meyer beschriebenen Technik ein Verfahren zur Produktion dieses Kampfstoffes im erforderlichen großvolumigen Maßstab. Das bis heute genutzte Akronym „S-Lost“ (S für Schwefel, Lo für Lommel und st für Steinkopf) ist auf diese beiden Wissenschaftler zurückzuführen. Am 12. Juli des Jahres 1917 wurde S-Lost erstmals in der Nähe des belgischen Yperns eingesetzt. Dieses führte innerhalb von lediglich drei Wochen zu einem Verlust von 20 000 Menschenleben [8]. Es gestaltet sich als schwierig, die exakte Anzahl der S-Lost Opfer während des Ersten Weltkriegs festzulegen, da viele Soldaten erst nach Kriegsende an den Spätfolgen erkrankten. Schätzungen gehen jedoch von 400 000 S-Lost-Geschädigten aus. S-Lost war somit für die Mehrheit aller durch C-Waffen verursachten Verletzungen verantwortlich [9].
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde S-Lost in weiteren militärischen Konflikten eingesetzt. Insbesondere der Einsatz im Ersten Golfkrieg (Irak-Iran, 1981–1988) hat zu einer Vielzahl von S-Lost-Opfern geführt. Schätzungsweise leiden heute noch 40 000 Iraner an S-Lost-induzierten Langzeitschäden [1]. Trotz großer Fortschritte bei der Vernichtung chemischer Waffen gemäß den Vorgaben des CWÜs, welches bisher von 193 Mitgliedsstaaten ratifiziert worden ist [16], sind weltweit immer noch C-Waffen, einschließlich S-Lost, aus Restbeständen oder Neusynthesen vorhanden, die auch in militärischen Konflikten und Bürgerkriegen eingesetzt werden [7][16]. Neben dem kriegerischen und terroristischen Einsatz von S-Lost, die eine große Zahl an Kampfstoffverletzen verursacht haben, sind Unfallgeschehen bei der Delaborierung und Zerstörung des Kampfstoffes sowie bei einer unbeabsichtigten Herstellung beschrieben worden [23][27].
Klinische Symptomatik nach S-Lost Exposition
Jedes Gewebe, das mit S-Lost in Kontakt gekommen ist, wird geschädigt. Bei lokaler Exposition können akute Haut-, Augen-, oder auch Lungenschäden nach inhalativer Aufnahme auftreten [11]. Insbesondere nach inhalativer Aufnahme, aber auch nach dermaler Exposition mit hohen Dosen, ist eine systemische Aufnahme wahrscheinlich, die zur Schädigung innerer Organe und Gewebe führen kann. Hier ist insbesondere das Knochenmark zu nennen. Aufgrund der charakteristischen Hautsymptome wird S-Lost als „Hautkampfstoff“ klassifiziert – aus den vorherigen Aussagen muss aber folgerichtig abgeleitet werden, dass dieses dem klinischen Bild einer S-Lost Vergiftung nicht vollständig gerecht wird.
Akute Symptome treten nicht unmittelbar nach Kontakt mit dem Kampfstoff auf, sondern zeigen eine charakteristische Latenz, die dosisabhängig bis zu 24 h betragen soll – aus eigenen Erfahrungen mit dermalen S-Lost Vergiftungsfällen wurden aber deutlich kürzere Latenzzeiten von wenigen Stunden festgestellt [23][27]. Akute Gewebeschäden können zu schlecht heilenden Wunden voranschreiten. In manchen Fällen können nach einer initialen Besserung auch verzögert einsetzende Gesundheitsstörungen auftreten, was vor allem auf S-Lost-induzierte Lungenschäden zutrifft [28].
Hautschäden nach dermaler S-Lost Exposition
Klassisch für S-Lost-induzierte Hautschäden ist die Abfolge Rötung → Juckreiz/Schmerz → Blasenbildung → Ulzeration → Wundheilungs- und Pigmentierungsstörung [10]. Der Schweregrad und das Fortschreiten der Abfolge sind abhängig von der Expositionsdosis. Feucht-warme Körperareale (z. B. Achselhöhle, Genitalregion, Gesäß) sind vornehmlich betroffen. Physische Belastung, die mit einer Mehrdurchblutung bestimmter Hautareale einhergeht, starkes Schwitzen und mechanische Belastung (z. B. durch Tragen eines Rucksacks) können zu einer stärkeren Ausprägung der Symptome beitragen [11].
Die Blasenbildung beginnt meist mit kleinen Bläschen, die zu größeren Blasen zusammenfließen können. Die typischen Lost-Blasen sind dünnwandig und mit einer gelblichen Flüssigkeit gefüllt. Diese enthalten aber kein reaktives S-Lost. Die Nikolsky-Zeichen I und II sind positiv. Große Lost-Blasen rupturieren leicht und können sich zu tiefen Ulzerationen weiterentwickeln. Die Wundheilung ist in der Regel stark verlangsamt oder bleibt aus. Im Expositionsbereich sind Hypo- und Hyperpigmentierungen, die ein poikiloides Muster haben, sehr häufig zu beobachten [28]. Weiterhin sind in den betroffenen Arealen persistierender Juckreiz und Hauttrockenheit, sensible Störungen und Gefäßmalformationen (z. B. Teleangiektasien, Hämangiome) beschrieben worden [29].
Obwohl S-Lost durch die International Agency for Research on Cancer(IARC) als Karzinogen der Klasse I, d. h. als sicher karzinogen, eingestuft ist und eine Vielzahl von in vitro Studien dieses auch klar belegen, zeigen die Beobachtungen zahlreicher Vergiftungsfälle aus dem 1. Weltkrieg eher ein geringes Tumorrisiko nach einer einmaligen Exposition [28]. Bei einer chronischen „low-level“ Exposition, wie sie z. B. in Herstellungsfabriken von chemischer Munition aufgetreten sind, konnte eine höhere Tumorinzidenz festgestellt werden [28]. Dieser Sachverhalt sollte aber mit Vorsicht interpretiert werden, da es sich bei den zugrunde liegenden Publikationen in der Regel um retrospektive deskriptive Fallanalysen handelt.
Folgend werden die S-Lost induzierten Hautschäden anhand einer Vergiftungskasuistik [23] in Deutschland illustriert.
Kasuistik
Zur Herstellung einer schwefelhaltigen Plastikverbindung wurde von einem Chemieunternehmen in Unkenntnis des CWÜ ein Syntheseweg konzipiert, bei dem S-Lost als hoch-reaktives Zwischenprodukt genutzt werden sollte. Bei der Etablierung der Syntheseprozedur exponierte sich ein 27-jähriger Chemikant mit wenigen Tropfen des für ihn unbekannten Zwischenproduktes. Trotz eines schnellen Wechsels des Kittels kam es zu einem Durchschlagen der Substanz bis auf die Bauchhaut. Dieses wurde jedoch erst nach ca. 30 min bemerkt. Nach Angaben des Chemikanten war zu diesem Zeitpunkt bereits eine ca. 2 cm große Hautrötung erkennbar, sodass er sich zu einer Dekontamination des betroffenen Hautareals entschied. Fatalerweise war kein für die Dekontamination von S-Lost geeignetes Mittel vorhanden. Vermutlich wurde durch die Nutzung des vorhandenen, aber für S-Lost ungeeigneten Dekontaminationsmittels das sich noch auf der Haut befindende S-Lost großflächig auf der Bauchhaut verteilt.
Nach fünf Stunden kam es dann auch zu einer deutlichen Zunahme der Hautrötung, worauf der Betroffene betriebsärztliche Hilfe aufsuchte. Nach 9 h traten erste Bläschen im betroffenen Hautareal auf. Am nächsten Tag, ca. 18 h nach dem Unfall, konsultierte der Patient erneut den Betriebsarzt. Aufgrund einer mittlerweile entstandenen ausgedehnten großen Blase sowie weiterer kleinerer Läsionen am linken Unterarm, der linken Leiste und dem linken Brustkorb (Abbildung 1) wurde der Patient zur stationären Aufnahme an das BG-Krankenhaus Hamburg verwiesen.
Abb. 1: Fotodokumentation einer akzidentellen kutanen S-Lost Exposition. Die klassische Trias Rötung – Blasenbildung – Ulzeration ist klar erkennbar. Ab Tag 2 ist eine deutliche inflammatorische Rötung des umliegenden Gewebes erkennbar. Am Tag 3 ist das Blasendach rupturiert. Die Wundränder zeigen die Tendenz zur Bildung von Granulationsgewebe, jedoch blieb die Wundheilung bis Tag 12 aus. Neben dem großen abdominellen Hautdefekt sind die kleineren Läsionen am Unterbauch (Teilbilder +1d, +5d, +12d) und am Brustkorb (Teilbilder +3d, +5d, +12d) erkennbar (Bilder modifiziert nach [23]).
Insgesamt war zu diesem Zeitpunkt eine Hautoberfläche von ca. 1 % von der Blasenbildung betroffen. Der Patient klagte zudem über die nach S-Lost Exposition typischen Schmerzen und Spannungsgefühl. Weiterhin bestand eine milde Leukozytose (10,0 x 109/L) und ein geringer CRP-Anstieg auf 0,74 mg/dl. Das CRP stieg am 8. Tag auf 2,0 mg/dl und fiel erst nach ca. 3 Wochen auf 0,6 mg/dl. Die Leukozyten normalisierten sich bereits am Tag 13 (7,0 x 109/L).
Aufgrund ausbleibender Wundheilung der abdominalen Läsion erfolgte am Tag 14 nach Exposition eine Spalthautdeckung, bei der das nicht abheilende Hautareal tangential exzidiert wurde. Die histologische Untersuchung des Gewebes zeigte eine vollständige Zerstörung der Epidermis mit einer Nekrose der oberflächlichen Dermis. Im Gewebe konnte eine moderate, aktive, aber unspezifische Entzündungsreaktion verzeichnet werden. Der Heilungsprozess verlief komplikationslos. Nach 4 Wochen zeigten die Areale, die konservativ behandelt wurden, und das Hautgewebe lateral der Spalthaut eine rötlich-braune Hyperpigmentierung. Die Pigmentierungsstörung war auch noch ein Jahr nach der Exposition evident.
Wirkung von S-Lost auf zellulärer Ebene
Schädigungs- und Reparaturmechanismen
Der Schädigungsmechanismus von S-Lost ist trotz intensiver Forschung nicht vollständig verstanden. Als wesentlich wird die Alkylierung der DNA durch das hoch-reaktive S-Lost angenommen [9]. Das bifunktionelle S-Lost kann neben Monoalkylierung auch Quervernetzungen der DNA (sowohl intra- als auch inter-Strang) verursachen. Je nach Schwere des Zellschadens werden Reparaturvorgänge eingeleitet oder die Zelle initiiert Zelltodmechanismen. Neben der DNA werden weitere Biomakromoleküle (z. B. Proteine) durch S-Lost alkyliert, die für einen forensischen Nachweis genutzt werden können (für weiterführende Informationen siehe z. B. [7]). S-Lost verursacht oxidativen Stress [19], der zur Oxidation von Membranlipiden sowie zu weiteren DNA-Schäden führen kann [10].
Die Reparatur von durch S-Lost induzierten DNA-Schäden erfolgt meist über transient auftretende Einzel- und/oder Doppelstrangbrüche. Diese aktivieren das Enzym Poly(ADP-ribose) Polymerase (PARP), das nachgeschaltete Reparaturmechanismen koordiniert [20]. Dabei wird Nicotinamid Adenin Dinukleotid (NAD+) verbraucht, was konsekutiv eine Adenosin-Triphosphat (ATP)-Depletion auslöst [20].
Inflammation
Eine schwerwiegende ATP-Depletion führt zum nekrotischen Zelltod und damit verbunden zur Inflammation. Die Freisetzung pro-inflammatorischer Zytokine (z. B. IL-6, IL-8 und TNF-α) ist integraler Bestandteil S-Lost-induzierter Zellschädigung und ist ein zentrales therapeutisches Target [14]. Die pro-inflammatorischen Zytokine haben einen chemotaktischen Effekt auf inflammatorische Zellen, die in das geschädigte Gewebe einwandern und zu einer andauernden Entzündung führen [26]. Eine kontrollierte und milde Entzündungsreaktion hat eine tragende Rolle bei der Geweberegeneration [3]. Kommt dieser Prozess jedoch aus der Balance und wird dysfunktional, dann sind Wundheilungsstörungen häufig die Folge [3].
Wundheilungsstörungen
Schlecht heilende Wunden sind das Hauptproblem nach einer S-Lost Exposition, da sie eine lange Hospitalisierung von Patienten zur Folge haben und bisher kaum therapiert werden können. Wundheilungsstörungen nach S-Lost könnten durch dysfunktionale mesenchymale Stammzellen (MSC) verursacht werden. MSC sind adulte multipotente Stammzellen, die in bestimmten Nischen wie beispielsweise dem Knochenmark zu finden sind. Sie haben ein hohes Proliferations- und Differenzierungspotenzial. Bei der Wundheilung der Haut spielen MSC eine essenzielle Rolle, indem sie durch sekretierte Botenstoffe andere Zellen stimulieren oder selbst differenzieren können (Abbildung 2).
Abb. 2: Mesenchymale Stammzellen spielen bei der Wundheilung eine wesentliche Rolle. Nach Migration der MSC in das geschädigte Gewebe können sie durch Freisetzung eines Zytokin-Cocktails die Geweberegeneration maßgeblich unterstützen („Cell Empowerment“) oder auch selbst zu Zellen des Zielgewebes differenzieren („Cell Replacement“) (modifiziert nach [30]).
Dabei werden sie nach einem Gewebeschaden aus dem Knochenmark über den Blutstrom zum Ort des Geschehens rekrutiert. Dort können sie nun vor allem durch die Sekretion von Wachstumsfaktoren die Angiogenese, Endothelreparatur, die Deposition oder Zusammensetzung der extrazellulären Matrix sowie die Differenzierung von Gewebevorläuferzellen initiieren sowie über Immunsupprimierende Faktoren Zellen des Immunsystems hemmen [30]. Sie können andererseits allerdings auch selbst differenzieren, beispielsweise in Knochen-, Knorpel- oder Fettgewebezellen [30]. Damit wird deutlich, dass die Migrations- und Sekretionsfähigkeit der MSC entscheidend für ihre wundheilungsrelevante Funktion sind. Eine Schädigung dieser regenerativen Zellen könnte so zur Wundheilungsstörung nach S-Lost maßgeblich betragen.
Forschung mit Humanen MSC
Humane MSC für Forschungsvorhaben werden am Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr (InstPharmToxBw) aus dem Knochenmark von Hüftköpfen, welche als Abfallprodukt bei einer totalen Endoprothese des Hüftgelenks anfallen, isoliert. Dabei wird das Knochenmark mit einem scharfen Löffel herausgeschabt und in Nährmedium überführt (Abbildung 3). Durch sanftes Schwenken werden die Zellen aus den Knochenbälkchen in die Flüssigkeit herausgelöst. Anschließend wird die Zellsuspension mittels Dichtegradientenzentrifugation getrennt, nach der die MSC in der Interphase angereichert sind. Diese wird entnommen, nochmals gewaschen und dann auf Zellkulturschalen ausplattiert. Genau zwei Tage später können nicht-adhärente Zellen abgewaschen werden, da nur MSC auf der Plastikoberfläche der Zellkulturschale adhärieren können. Mikroskopisch haben MSC eine spindelartige, fibroblasten-ähnliche Morphologie (Abbildung 3). MSC können für einige Passagen vermehrt und in diesem Zeitraum für verschiedene Versuche genutzt werden.
Abb. 3: Isolation der MSC aus dem Knochenmark humaner Hüftköpfe (links)
Die MSC sind adhärente, fibroblastenähnliche adulte Stammzellen (rechts). (Bilder: InstPharmToxBw)
MSC (LC50 von 70,7 µM S-Lost) zeigen sich im Vergleich zu Keratinozyten (LC50 von 1,7 µM S-Lost) erstaunlich resistent gegenüber S-Lost, da erst höhere Konzentrationen die Viabilität signifikant beeinflussen [21]. Auch die Differenzierungsfähigkeit zu Adipozyten, Chondrozyten und Osteozyten wird selbst durch hohe S-Lost Konzentrationen nicht beeinträchtigt [21]. Im Gegensatz dazu führen bereits geringste S-Lost Konzentrationen zu einer Beeinträchtigung der Migrationsfähigkeit der MSC (Abbildung 4). Erstmalig konnten wir damit einen direkten Einfluss von S-Lost auf MSC nachweisen, da sie zwar hohe Dosen an S-Lost überleben, aber vorher eine stark reduzierte Migration zeigen [24]. Diese ist aber für die regenerative Wirkung der MSC unabdingbar, da MSC erst durch Migration in die geschädigten Körperregionen gelangen können.
Abb. 4: Simulation eines Wundschlusses mittels Scratch Assay: Genau 24 h nach dem Scratch konnte die Kontrolle die „Wunde“ wieder schließen (links), während die gegenüber S-Lost exponierten Zellen (rechts) dies zum gleichen Zeitpunkt noch kaum schafften. (Bilder: InstPharmToxBw)
Neben ihrer Migrationsfähigkeit ist auch die Sekretion löslicher Faktoren (z. B. Zytokine, Chemokine oder Wachstumsfaktoren) ein entscheidender Faktor für die regenerativen Eigenschaften der MSC, da sie dadurch Entzündungszellen beeinflussen und gewebeständige Zellen zur Proliferation, Sekretion oder Differenzierung anregen. Bereits wenige Stunden nach S-Lost Exposition wird die Sekretion dieser Faktoren signifikant beeinflusst: Vor allem eine erhöhte durch S-Lost induzierte Produktion pro- sowie verminderte Sekretion anti-inflammatorischer Faktoren [24] würde die direkte Umgebung der Zelle stark verändern und die lokale Entzündung nach S-Lost weiter fördern. Weitere Untersuchungen zeigten, dass selbst bei höheren S-Lost Konzentrationen keine Apoptose-Induktion bei MSC stattfindet, die Zahl proliferierender MSC, die auch einen morphologisch veränderten Zellkern zeigten, gleichzeitig abnimmt [22].
S-Lost induzierte Seneszenz
Diese Beobachtungen (modifiziertes Sekretom, verminderte Migrationsfähigkeit, verminderte Proliferation, kein Zelltod) führten zur Hypothese, dass S-Lost eine Seneszenz in MSC induzieren könnte. Seneszenz ist eine vorzeitige Zellalterung, die mit Verlust der Proliferation, Resistenz gegenüber Apoptose und Veränderungen des Zellkerns einhergeht [22]. Die Rolle von seneszenten Zellen in der Wundheilung wird kontrovers diskutiert, wobei man aktuell zwischen akuter und chronischer Seneszenz unterscheidet. Die akute und vorübergehende Seneszenz trägt eher zur Limitierung der Fibrose bei, während eine chronische und nicht-reversible Seneszenz eher mit anhaltender Entzündung und Wundheilungsstörungen einhergeht [2]. Dieser Theorie folgend könnte S-Lost eine chronische Seneszenz in MSC auslösen, die zur Wundheilungsstörung nach S-Lost beiträgt.
Unsere folgenden Untersuchungen zeigten, dass S-Lost konzentrations- und zeitabhängig eine Seneszenz in MSC auslöst. Höhere S-Lost Konzentrationen, die zu einer Letalität von etwa 25 % auf zellulärer Ebene führten, waren bereits in Einmaldosis ausreichend, um eine chronische Seneszenz zu induzieren (Abbildung 5). Dieses konnte durch die Hochregulation von Seneszenzmarkerproteinen (z. B. p16INK4a) auf Protein- und RNA-Ebene bestätigt werden. Darüber hinaus sekretierten durch S-Lost induzierte seneszente Zellen eine Vielzahl pro-inflammatorischer Zytokine. Dieser in der Literatur als „Seneszenz-assoziierter sekretorischer Phänotyp“ (SASP) beschriebene Zustand, könnte die Hauptursache für die anhaltende Entzündungssituation nach S-Lost Exposition darstellen [18].
Abb. 5: Zeitliche Entwicklung der Seneszenz nach S-Lost Vergiftung: Seneszente Zellen sind durch die Färbung der Seneszenz-assoziierten β-Galactosidase blau, alle Zellen wurden mit Kernechtrot gegengefärbt. (Bild: InstPharmToxBw)
Diskussion und Fazit
Schlecht heilende Wunden nach S-Lost Exposition sind nach wie vor ein großes therapeutisches Problem. Bislang steht keine zielgerichtete Therapie zur Verfügung, sodass die Wunden ähnlich wie schwere Verbrennungswunden versorgt werden. Aussichten dieser Therapie sind abhängig von der Expositionsdosis und -dauer und können von vollständiger Heilung bis zur Notwendigkeit eines Spalthauttransplantats variieren. Daher ist die Aufklärung neuer Zielstrukturen wichtig, um zukünftig ein spezifisches Antidot oder Therapie zu ermöglichen. Als neuer Mechanismus in der molekularen Toxikologie wurde die Schädigung von MSC durch S-Lost (v. a. Induktion von Seneszenz mit eingeschränkter Migration und seneszenz-assoziierter sekretorischer Phänotyp) identifiziert, die ein neues therapeutisches Target sein könnte. Eine Möglichkeit könnte in der Zugabe von pro-migratorischen Chemokinen bestehen, um die Migrationsfähigkeit der MSC zu erhöhen. Ein weiterer Ansatz besteht in der Auflösung der S-Lost induzierten zellulären Seneszenz durch sogenannte „senolytische Medikamente“, welche spezifisch seneszente Zellen eliminieren und bereits in Tiermodellen das Auftreten seneszenz-assoziierter Erkrankungen vermindern konnten [2]. Ein weiterer Ansatzpunkt könnte auch die Seneszenzprävention darstellen, indem durch beispielsweise antioxidative Substanzen die Zellen vor einer ROS-vermittelten Seneszenz-Induktion geschützt werden.
Kernsätze
- Eine dermale S-Lost-Exposition verursacht Hautwunden, die nicht heilen.
- Eine kausale Therapie existiert nicht, da der komplexe Schädigungsmechanismus bis heute nicht vollständig verstanden ist.
- Mesenchymale Stammzellen (MSC) spielen bei der Wundheilung eine tragende Rolle.
- S-Lost führt bereits in sehr niedrigen, nicht zell-toxischen Konzentrationen zur Seneszenzentwicklung in MSC.
- Der Einsatz senolytischer Medikamente und/oder die Verhinderung der Seneszenz nach S-Lost ist ein neuer Therapieansatz.
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Zitierweise
Rothmiller S, Worek F, Steinritz D: Hautaffektionen nach S-Lost Exposition. WMM 2023; 67(7-8): 297-303.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-167
Für die Verfasser
Major Dr. Simone Rothmiller, MSc
Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Bundeswehr
Neuherbergstraße 11, 80937 München
E-Mail: simone1rothmiller@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Rothmiller S, Worek F, Steinritz D: [Skin Lesions after Sulfur Mustard Exposure]. WMM 2023; 67(7-8): 297-303.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-167
For the Authors
Major Dr. Simone Rothmiller, MSc
Institute of Pharmakology and Toxikology of the Bundeswehr
Neuherbergstraße 11, 80937 München
E-Mail: simone1rothmiller@bundeswehr.org