Modifizierte Ertl-Technik zur Versorgung
einer beidseitigen Unterschenkel-Amputation: Falldarstellung
Case Report: Modified Ertl-Technique for Bilateral below-Knee Amputation
Miriam Voslooa, Gernot Kretschmerb*, Dennis Vogtc, Christian Willyc
aBundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik II – Allgemein- und Viszeralchirurgie, Fachbereich Gefäßchirurgie
b pro-samed Sanitätshaus e.K., Berlin
* Der orthodädie-technische Teil der Arbeit wurde bereits von G. Kretschmer unter [10] publiziert. Die Autoren Vosloo und Kretschmer sind zu gleichen Teilen an der Erstellung der Arbeit beteiligt.
c Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik XIV – Orthopädie und Unfallchirurgie, Septisch Rekonstruktive Chirurgie
Zusammenfassung
Wir berichten über einen jetzt 35jährigen Patienten, der als Offizier einer Spezialeinheit während eines Kampfeinsatzes im Oktober 2020 eine Sprengverletzung erlitt. Dabei verlor er beide Füße, sodass primär eine beidseitige Fußamputation unmittelbar oberhalb des Sprunggelenkniveaus vorgenommen werden musste. Aufgrund eines hohen Mobilitätsanspruchs des Patienten mit der uneingeschränkten Belastbarkeit beider Beine in einer prothetischen Versorgung erfolgte die Vorstellung in unserem Krankenhaus zur Planung einer zielgerichteten Nachamputation und einer entsprechenden prothetischen Versorgung.
Die Besonderheit der beidseitigen Amputation bei einem jungen und trainierten Soldaten ergab die Notwendigkeit, die herkömmliche Unterschenkel-Amputationstechnik zu überdenken, sodass die modifizierte Ertl-Technik mit Bildung einer tibiofibularen Osteomyoplastik zur Anwendung kam.
Schüsselwörter: Ertl-Technik, tibiofibulare Osteomyoplastik, tibiofibulare Knochenbrücke, Unterschenkelamputation, transtibiale Amputation, Brückensynostose
Summary
We report on a 35-year-old patient who, as an officer in a special unit, suffered a blast injury during a combat mission in October 2020. He lost both feet, so that a bilateral foot amputation had to be performed immediately above the level of the ankle joint. Due to the patient‘s high mobility requirements and the need for unrestricted weight-bearing capacity of both legs in a prosthetic fitting, he was admitted to our hospital to plan a targeted reamputation and a corresponding prosthetic fitting.
The peculiarity of bilateral amputation in a young and trained soldier showed the need to rethink the typical and usually used amputation technique so that the modified Ertl technique with a tibiofibular osteomyoplasty was applied.
Keywords: Ertl procedure; tibiofibular osteomyoplasty; tibiofibular bone bridge; lower leg amputation; transtibial amputation; bridge synostosis
Einleitung
Angesichts der weltweiten Zunahme bewaffneter Konflikte steigt die Zahl der Menschen, die durch Waffengewalt zu Tode kommen bzw. schwerste Schäden an Körper und Seele erleiden [5][13]. In den letzten beiden Jahren trieben die kriegerische Auseinandersetzung Russlands mit der Ukraine und die Konfliktsituation im Gazastreifen die Opferzahlen massiv in die Höhe. Im Fall des Überlebens haben Waffenwirkungen komplexe Verletzungen der Körperteile, die nicht durch Schutzwesten abgedeckt sind, zur Folge. Diese führen zu erheblichen medizinisch-chirurgischem Versorgungsbedarf. Die Bundeswehrkrankenhäuser haben in den letzten 20 Jahren eine Vielzahl von Patienten aus konfliktbehafteten Ländern behandelt, in jüngster Zeit vorwiegend Extremitätenverletzungen aus der Ukraine. Dabei sind verschiedene Patienten betroffen, welche derartig schwerwiegende Verletzungen erlitten, dass sie mehrfach amputiert werden mussten. Im Falle eines nicht möglichen rekonstruktiven Extremitätenerhalts musste schließlich eine definitve Amputation vorgenommen werden.
Mit der vorliegenden Kasuistik wollen die Autoren die chirurgische Versorgungsoption der tibio-fibularen Knochenbrücke bei transtibialer Unterschenkelamputation beschreiben, wenn eine Erhöhung der Endbelastbarkeit des Unterschenkelstumpfes erzielt werden soll.
Fallbericht
Anamnese und Befund
Es erfolgte die Erstvorstellung eines damals 32jährigen Offiziers im Januar 2021 – 3 Monate nach primärer Verletzung – mit Z. n. beidseitigem Fußverlust. Der Patient war im Rollstuhl mobilisiert. Weitere Begleiterkrankungen oder Verletzungen lagen nicht vor. Die überlangen Stümpfe waren erwartungsgemäß nicht kontaktfähig; die Absetzungslinie zeigte sich bei ca. 4 cm bzw. ca. 6 cm proximal der Malleolen (Abbildung 1). Die Hautoberfläche beider Unterschenkelstümpfe zeigte typische Einschlüsse von kleinsten Schrapnellpartikeln. Es bestanden keine offenen Läsionen oder sonstigen Auffälligkeiten am Muskel- und Skelettsystem. Der Körperbau war athletisch; das Körpergewicht betrug 90 kg. Bei einer Körpergröße von vormals 186 cm war ein Kniespalt-Boden-Maß von 51–52 cm anzunehmen. Röntgenologisch zeigte sich eine intakte Knochenstruktur ohne Hinweis auf Osteolysen.
Abb. 1: Klinischer Ausgangsbefund an beiden Beinen bei Erstvorstellung im Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Therapiemaßnahmen
Die operative Stumpfrevision zur modifizierten Ertl-Amputationstechnik (Tabelle 1) wurde in einem interdisziplinären Behandlungsteam aus den Bereichen Orthopädie-Unfallchirurgie, Gefäßchirurgie und Orthopädietechnik im Februar 2021 vorgenommen. Die Operationsplanung und die Indikation zur Operation wurden erheblich von der Orthopädie-Techniker Seite unterstützt, wobei der Anspruch des Patienten an eine Sport-orientierte Versorgung eine wichtige Rolle spielte. Aufgrund der aufwendigen operativen Vorgehensweise erfolgten die Unterschenkelnachamputationen zeitlich um eine Woche versetzt.
Die modifizierte Ertl-Amputationstechnik folgt den bekannten Operationsschritten wie bei einer typischen Unterschenkelamputation nach Burgess. Die präparatorische Besonderheit besteht darin, dass die Fibula ca. 5 cm distal der Absetzungslinie der Tibia unter Belassen der dorsalen und lateralen Weichgewebsaufhängung osteotomiert wird. Dies dient dem Erhalt der optimalen Blutversorgung dieser Fibulastrebe, welche in transversaler Betrachtung annähernd im rechten Winkel zur medialen Tibiafläche in die Tibia eingesetzt wird (Abbildung 2). Die exakte Länge der Fibulastrebe richtet sich nach den individuellen anatomischen Gegebenheiten, um einen leicht konischen Verlauf stumpfabwärts zu erzielen und um einen zu prominenten distalen Kontaktpunkt zu vermeiden.
Abb. 2: Angedachte Versorgung bei Therapieplanung, Projektion des Röntgenbildes links im Sinne der prothetischen Versorgung
Die Fixierung der Knochenbrücke wurde durch je zwei kreuzende passager eingebrachte Kirschnerdrähte erzielt (Abbildung 3). Alternativ hätte die Osteosynthese durch eine Kortikalisschraube, Plattenosteosynthese oder mittels Tight Ropes (reißfestes, nicht-resorbierbares Fadensystem) fixiert werden können. Nach Erstellung der Knochenbrücke wurde eine Myoplastik durchgeführt. Hierzu wurde ein langer hinterer, myokutaner Lappen zum Stumpfverschluss wie bei der modifizierten Burgess-Amputationstechnik verwendet.
Abb. 3: Fixierung der tibio-fibularen Knochenbrücke durch je zwei kreuzende passager eingebrachte Kirschnerdrähte, (A) rechts und (B) links
Klinischer Verlauf
Direkt postoperativ erfolgte eine elastokompressive Stumpfwickelung. Ab dem 5. postoperativen Tag wurden Kompressionsstumpfstrümpfe der Kompressionsklasse 2 angepasst. Diese wurden zur Vermeidung von Scherkräften an den Stumpfspitzen nur mit einem Anziehring angelegt. Ab dem 10. postoperativen Tag wurde die Kompressionstherapie mit intervallischer Silikon-Lineranwendung zur besseren Stumpfkonditionierung ergänzt. Die Entlassung aus der stationären Behandlung konnte bereits am 10. postoperativen Tag nach der zweiten Operation erfolgen. Der Patient erschien ambulant engmaschig zu Wund-, Befund- und notwendigen Röntgenkontrollen. Das Hautnahtmaterial wurde bei guter Abheilung beider Unterschenkelstümpfe am jeweils 21. postoperativen Tag entfernt.
Verlauf nach Entlassung aus der klinischen Versorgung
Die Kirschner-Drähte wurden nach drei Monaten in einer ambulanten Operation entfernt. Danach wurde die Größe des Silikon-Liners reduziert. Es wurden nicht stehfähige Therapieschäfte noch vor Entfernung der Kirschner-Drähte gefertigt, um eine Knochenbrückendislokation zu verhindern. Unter Verwendung dieser Therapieschäfte waren drei Wochen hochfrequenter Reha-Sport mit täglicher Physiotherapie zur Vermeidung bzw. Reduktion einer Kontraktur der Hüft- und Kniebeugemuskulatur gestattet.
Prothesenversorgung
Bei der Planung und Durchführung der prothetischen Versorgung waren folgende Aspekte essenziell:
- Die finalen Tibialängen von jeweils 18 cm ab Kniegelenkspalt garantierten im physiologischen Sinne und unter den Aspekten der prothesentechnischen Konfiguration eine sinnvolle Stumpflänge.
- Für eine spätere Reserveoption ist diese Länge eine gute Basis.
- Durch die Kürzung entstand eine ausreichende Bauhöhe für die angestrebte Prothesentechnik. Ein Zuviel (> 3 cm) an prothesentechnischer Verlängerung ist für den bilateralen Nutzer problematisch.
- Bei ca. 4 cm postoperativ, später 1–2 cm Weichteildeckung an der Stumpfspitze verblieb bei einer theoretischen Gesamtlänge von 51–52 cm unterhalb der Prothesenschäfte eine Bauhöhe von 28–30 cm, welche für die Erstversorgung ideal ist.
- Für die technischen Komponenten der High-End-Versorgung musste das Knie-Boden-Maß um 3 cm verlängert werden. (Der Patient wurde somit durch die Prothesenversorgung 3 cm größer.)
Interimsversorgung
Die ersten Test-Prothesenschäfte wurden im distalen Schaftareal mit einem deutlichen partiellen Druck von mediofrontal zu dorsolateral gestaltet, ähnlich wie das Design der Therapieschäfte. Nach vier Wochen und einer Vielzahl von Testschäften, ausgeführt in unterschiedlichen Schaftdesigns und Volumenabänderungen, war die Erstversorgung abgeschlossen. Die finalen Interimsschäfte konnten für drei Monate ohne Schaftänderung intensiv und vielseitig genutzt werden.
Definitivversorgung
Die Phase der Definitivversorgung galt zunächst der Volumenanpassung und Optimierung der tiefstmöglichen Alltagsprothesen sowie der Erprobung eines tiefst möglichen proximalen Schaftrandes. Dieser konnte seitlich auf Höhe des Kniegelenkspaltes und ventral auf ein Niveau unterhalb der Mid Patella Tendon (MPT)-Höhe verringert werden.
Die Röntgenkontrolle Anfang Dezember 2021 zeigte zwei stabile Brückensynostosen und bestätigte unsere geplante Vorgehensweise. Die sportlichen Aktivitäten des Patienten konnten weiter erhöht werden. Je mehr Bodenreaktionskraft auf die distalen Knochenverbindungen wirkte, desto schneller fand die Durchbauung der Synostosen statt (Abbildung 4).
Abb. 4: Röntgenkontrollbilder 10 Monate nach Stumpfkorrektur mit belastungsfähiger Durchbauung der tibio-fibularen Knochenbrücke
Daher wurde im Januar 2022 mit der Anfertigung von Prothesen für sportliche Aktivitäten begonnen (Abbildung 5). Die speziellen Ansprüche erforderten einen klassischen Schaftrandverlauf an den dafür genutzten Prothesenschäften. Nach alltagsintensiver und sportlicher Nutzung hat sich ein weiterer messbarer Teil der ehemals sprunggelenksichernden Unterschenkelmuskulatur aufgrund von extremer Aktivität „verbrannt“. Infolgedessen wurde eine Volumenreduzierung an allen Schäften erforderlich.
Abb. 5: Balance im Einbeinstand, 4 Wochen nach Beginn der ersten Steh- und Gehübungen
Nach den Erfahrungen der ersten Skiabfahrten im Februar 2022, wurden im Rahmen der zweiten Definitivversorgung Ski-Prothesen mit Oberschenkelhülsen gefertigt, die im März 2023 erfolgreich erprobt werden konnten (Abbildung 6).
Abb. 6: Definitivversorgung mit Anfertigung von Ski-Prothesen mit Oberschenkelhülsen
Diskussion
Ertl-Technik – Pro und Contra
Janos Ertl [7] benutzte zur knöchernen Vereinigung von Tibia und Fibula einen Knochenchip. Die von Guedess-Pinto weiterentwickelte Technik sieht eine Brückensynostose aus einem 4–5 cm langen Fibulastück vor, die die verbleibende Tibia mit der Fibula verbindet [14]. Letztere wird auch als „modifizierter Ertl“ bezeichnet. Diese Ausführung ist heute die am häufigsten angewandteTechnik. In den internationalen Publikationen der letzten 20 Jahre werden die alternativen Begriffe wie Brückensynostose, Knochenbrücke, tibiofibulare Synostose, Ertl Knochenbrücke, Ertl Prozedur oder auch osteomyoplastische transtibiale Amputation (OTTA) genutzt [9][18]. Die meisten Publikationen bewerten die erzielten Ergebnisse bei Anwendung der modifizierten Ertl-Technik positiv [2][10][12][16–18]. Andere Veröffentlichungen können aus der Brückensynostose keinen überzeugenden Gebrauchsvorteil für den Amputierten ableiten [20].
Im Jahre 2011 wurde im Walter Reed National Military Medical Center, Maryland, USA eine retrospektive Kohortenstudie mit 137 transtibialen Amputationen (100 Burgess- vs. 37 modifizierte Ertl-Amputationen) durchgeführt [19], um die frühen und mittelfristigen Komplikationen zu vergleichen, die zu einer Reoperation bei kampfbedingt erlittenen Unterschenkelamputationen führen. Die durchschnittliche Nachbeobachtungszeit betrug 2 Jahre. Die Autoren weisen auf eine höhere Gesamtkomplikations- und Reoperationsrate hinsichtlich der modifizierten Ertl-Technik aufgrund implantatbedingter Komplikationen oder verzögerter bzw. ausbleibender Knochenverbindung mit 32 % hin. Bei 3 Patienten musste die Knochenbrücke entfernt werden. Die Gründe sind nach Einschätzung der Autoren vielfältig, genannt werden Zeitpunkt der Primäramputation nach der Verletzung, Stumpflänge, fehlende Standards, variierende Fixationstechniken zur Brückensynostose der verschiedenen Chirurgen und Schaftgestaltung der Prothesen. Schlussfolgernd ergibt sich die Notwendigkeit einer detaillierten Patientenberatung und sorgfältigen Patientenauswahl vor der Durchführung knochenüberbrückender Unterschenkeloperationen.
Die Transtibial Amputation Outcomes Study (TAOS) beschäftigt sich im multizentrischen Studiendesign mit 23 teilnehmenden Zentren in den USA mit der transtibialen Amputation mit und ohne Bildung einer Knochenbrücke [4]. Diese Studie wird erstmals unter Bewertung der prothetischen Versorgung die Wirksamkeit der beiden Amputationsverfahren empirisch überprüfen, um die festgelegten Hypothesen zu belegen bzw. zu widerlegen. Eine weitere Studie zeigt, dass es bei der Ertl-Technik eine höhere Verbleibrate im aktiven Dienst sowie eine Verbesserung des funktionellen Ergebnisses gibt [2].
Kriterium Mobilitätsanspruch
Unser Patient konnte das Behandlungsteam glaubhaft von seinem Mobilitätsanspruch (Mobilitätsgrad 3–4) überzeugen (Tabelle 2). Dafür benötigte er hochbelastbare Stümpfe, möglichst für die nächsten 15–20 Jahre. Trotz zahlreicher Informationen aus den gängigen Internetplattformen unterlag er keiner realitätsfernen Einschätzung. Er erkannte vor Beginn der Versorgung, welche Aktivitäten er zukünftig nur einschränkt würde ausüben können. Wir starteten mit einer konservativen, realistischen Prognose. Gewünscht war das Wiedererlangen der Fähigkeit des mehrstündigen Gehens und Stehens sowie des eigenständigen Autofahrens. Als mittelfristiges Ziel nannte der Patient den Fitnesssport, auch auf dem Laufband, und als Traumziel das Absolvieren von Trekkingtouren durch die Berge. Aus Vorversorgungen anderer Patienten war bekannt, wie geschädigt sich das proximale Areal der Unterschenkelstümpfe nach einer intensiven Nutzung mit Kurzprothesen darstellen kann. Die berechtigte Frage war also: wie langlebig sind Burgess-Stümpfe, insbesondere bei jungen und hochaktiven bilateral amputierten Patienten? Man bedenke: Der einseitig Amputierte kann sich in einer Schmerz- oder Überlastungssituation des Stumpfes auf seinem erhaltenen Bein kompensieren oder durch eine asymmetrische Belastungszeit während eines Doppelschrittes. Dem Doppelamputierten ist diese Kompensation nicht möglich.
Als finaler Härtetest erreichte der Patient gemeinsam mit dem verantwortlichen Orthopädietechniker-Meister (Co-Autor) in einem fast sechs stündigem Aufstieg (Mai 2023) den 3751 m hohen Mount Heydar in Aserbaidschan.
Anforderungen an den Stumpf
Eine Stumpfrevision war bei unserem Patienten aus mehreren Gründen indiziert: Zuerst waren die transversalen Sägeschnitte am Ende von Tibia und Fibula nicht zur definitiven Prothesenversorgung nutzbar. Beide Stumpflängen mussten reduziert werden, insbesondere um eine funktionelle Prothesenversorgung sicherstellen zu können. Die vernarbten Weichteilareale mit mineralischen und metallischen Verunreinigungen, verursacht durch die Explosion, und die minimal weichteilgedeckten Partien, vorrangig die distalen Tibiaspitzen mit den medialen Tibiaflächen, würden bei hoher mechanischer Beanspruchung zu oberflächlichen Schädigungen führen. Die avisierte Länge für die neu zu gestaltenden Stümpfe wurde auch durch die Weichteilqualität mitbestimmt. Hierfür sollten die Tibialängen minimal 16 cm betragen.
Anforderungen an die prothetische Versorgung
Welche Möglichkeiten gibt es für eine so intensive Prothesennutzung bei diesen speziellen Anforderungen?
Bei jedem Liner-Haftschaftsystem gilt es, das dauerhafte zu tiefe Hineinrutschen des Stumpfes in den Schaft durch Änderung an der Schaftform zu verhindern, denn auch bei einem gut gestalteten Burgess-Stumpf ist das Stumpfende nur teilbelastbar. Ein transkutan osseointegriertes System war als Reserveoption evaluiert; dafür wurde auch die o.g. Minimallänge der Tibiae definiert. Zielstellung war, die Stümpfe so zu gestalten, dass sie zukünftig eine höhere und länger einwirkende Endbelastung aufnehmen können. Zusätzlich sollte dadurch im prothetischen Interface eine optimale Verbindung gefunden werden. Vor diesem Hintergrund wurde entschieden, die modifizierte Stumpfgestaltungstechnik nach Ertl als Versorgung zu wählen. Die Knochenbrücke bietet eine stabilere und flächigere Basis und macht dadurch eine höhere distale Lastaufnahme möglich. Dieses Mehr an Stumpfendbelastbarkeit garantiert eine längere Belastungszeit der Prothese und bietet jungen, gesunden und hochaktiven Patienten somit Vorteile gegenüber dem konventionellen Amputationsverfahren. [1–3][6][10][12][15–18]
Die endgültige Entscheidung wurde interprofessionell und gemeinsam mit dem Patienten getroffen. Um eine stabile Vereinigung der tibiofibularen Synostose zu schaffen, ist eine lange Wartezeit notwendig, bedingt durch eine ca. dreimonatige Fixierung mit Kirschner-Drähten. Der Patient muss das explizit verstehen und streng befolgen. Eine Stumpfrevision dieser speziellen Art sollte nur von einem Team mit hoher Amputationsexpertise ausgeführt werden. Durch Vermeidung von permanentem Fremdmaterial im Stumpf sowie die restriktive Anwendung eines individuellen postoperativen Programms wurden wichtige Risikofaktoren vermieden. Ab dem Zeitpunkt der radiologisch nachgewiesenen gesicherten Synostose kann eine hohe Belastung auf die Knochenbrücke wirken, damit erfolgt die vollständige Verknöcherung schneller. Die sichtbaren nicht störenden Ecken werden durch aktive Knochenumbauprozesse allmählich „abgerundet“. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Exostosen des Röhrenknochens dauerhaft verhindert werden. Der zweijährige Rückblick gibt Anlass zu verhaltenem Optimismus.
Aus der Stumpfgestaltung mit modifiziertem Ertl ergeben sich zusammengefasst folgende Nutzungsvorteile: Beeindruckend ist die Möglichkeit die Prothesen so intuitiv sicher zu kontrollieren – trotz des minimalistischem Schaftrandes und der Prothesenfüße mit ihrem großen Bewegungsumfang (Alltagsprothesen). Eine ganztägige dynamische Nutzung der Prothesen ist möglich. Bei sportlichen Aktivitäten (Sportprothesen) wird sichtlich viel Energie aus den Bodenreaktionskräften in den Fußkonstruktionen aufgenommen und für eine hohe Dynamik genutzt.
Die Knochenbrücke erzeugt eine kompakte Einheit, welche hohe Kraftmomente aus dem Hüft- und Kniegelenk auf die Prothese übertragen kann [8]. Ein weiterer Nutzen besteht darin, dass sich die Stümpfe mit ihrer Knochenbrücke beim allmählichen täglichen Hineinrutschen im Schaftboden vermutlich besser abstützen können. Dadurch verringern sich die mechanischen Stressursachen, die u. a. durch die zusätzlichen Stumpfstrümpfe an den bekannten proximalen Stumpfpartien entstehen.
Es ist nicht mit einer tibiofibularen Stumpfgestaltung getan, sondern der versierte Orthopädietechniker ist mit seinen Spezialkenntnissen gefordert. Letztendlich entscheidet die Qualität des prothetischen Sitzes und die Ausrichtung am Stumpf über eine nachhaltig hohe Nutzungsqualität. Die Bildergalerie (Abbildungen 7a-d) zeigen eindrücklich den Wert einer prothetischen Versorgung in einem ausgewiesenen Experten-Team, der eindrücklich anhand der gezeigten Aktivitäten des Patienten dargestellt werden kann.
Fazit
Der Artikel beschreibt anhand eines Versorgungsbeispiels eine bilaterale Osteomyoplastik an den Unterschenkeln zwischen Tibia und Fibula durch Nutzung einer Fibulastrebe. Die so entstandene Brücke kann für den Unterschenkelamputierten deutliche Nutzungsvorteile bieten, insbesondere bei einer bilateralen transtibialen Amputation. In einigen Lehrbüchern für Amputationsmedizin findet diese tibiofibulare Osteomyoplastik zur Stumpfumgestaltung Erwähnung. Möglicherweise wird sie aufgrund der bestehenden Kontraindikationen, des höheren operativen Aufwandes und weil die bewährte Unterschenkelamputation nach Burgess und die Anwendung der aktuellen Versorgungstechniken befriedigende bis sehr gute Nutzungsergebnisse zeigt, nur selten angewandt.
Der aktuelle (Ukraine-)Krieg vergrößert zukünftig in Europa das Klientel an hochaktiven Amputierten, für die die tibiofibulare Osteomyoplastik als eine Möglichkeit für eine optimale an die zukünftige Leistungsfähigkeit des Patienten adaptierte Therapie angesehen werden kann.
Besonderheiten der Versorgung
(Takeaway Message):
- Verwendung von Kirschner-Drähten zur temporären Fixierung.
- An die OP anschließende Wartezeit von drei Monaten.
- Zunächst Verwendung von nicht gehfähigen Therapieschäften mit speziellem distalem Schaftdesign.
- Erstmalige Belastung in den Prothesen erst nach vier Monaten.
Seit Beginn der ersten Gehübungen konnten folgende Ergebnisse erzielt werden:
- Innerhalb eines Monats konnte der Anwender uneingeschränkt laufen (trotz vorangegangener achtmonatiger Rollstuhlbindung).
- Nach gleicher Dauer waren ein freihändiger Treppenaufstieg sowie ein stabiler Einbeinstand möglich.
- Drei Monate später wurden erste Treckingtouren durch unebenes Gelände und Jogging auf dem Laufband absolviert.
- Ein Jahr später war alpine Skiabfahrt ausführbar.
- Ab dieser Zeit wurde die Intensität und die Komplexität der sportlichen Aktivität kontinuierlich erhöht (intensives Laufbandtraining,Bergtouren > 15 km, Gewichtheben, Fußball, Reiten, Skifahren).
Bildquellen:
Abbildungen 1, 3 und 5: Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Abbildungen 2, 4, 6, und 7: pro-samed Sanitätshaus e.K., Berlin
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Danksagung
Unser besonderer Dank gilt dem vorbildlichen und experimentierfreudigen Patienten, dessen Motto immer „Think positive“ war.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Vosloo M, Kretschmer G, Vogt D, Willy C: Modifizierte Ertl-Technik zur Versorgung einer beidseitigen Unterschenkel-Amputation: Falldarstellung. WMM 2024; 68(5): 218-225.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-290
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Miriam Vosloo
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Klinik II : Allgemein- und Viszeralchirurgie, Fachbereich Gefäßchirurgie
Scharnhorststr. 13, 10115 Berlin
E-Mail: miriamvosloo@bundeswehr.org
Orthopädietechnikermeister Gernot Kretschmer
pro-samed Sanitätshaus e.K.
Greifswalder Str. 154–156, 10409 Berlin
E-Mail: gernot.kretschmer@pro-samed.de
Manuscript Data
Citation
Vosloo M, Kretschmer G, Vogt D, Willy C: Modifizierte Ertl-Technik zur Versorgung einer beidseitigen Unterschenkel-Amputation: Falldarstellung. WMM 2024; 68(5): 218-225.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-290
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) t Miriam Vosloo
Bundeswehr Hospital Berlin
Department General and Visceral Surgery, Section Vascular Surgery
Scharnhorststr. 13, D-10115 Berlin
E-Mail: miriamvosloo@bundeswehr.org
Prosthetist Gernot Kretschmer
pro-samed Sanitätshaus e.K.
Greifswalder Str. 154–156, 10409 Berlin
E-Mail: gernot.kretschmer@pro-samed.de