Editorial
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser!
die Bundeswehr ist fest integriert in die deutsche Gesellschaft. Es gelten die Gesetze der Europäischen Union und die nationalen Gesetze. Diese bilden auch die Grundlage für die tägliche Arbeit der Überwachungsstellen für öffentlich-rechtliche Aufgaben des Sanitätsdienstes der Bundeswehr, die den Vollzug der Rechtsbestimmungen für den Verbraucher- und Gesundheitsschutz im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung überwachen. Im Grundbetrieb und Einsatz beraten die Sachverständigen und das Fachpersonal der Überwachungsstellen die Verantwortlichen und Beschäftigten vor Ort, um diese bei der Auftragserfüllung unter Beachtung der unzähligen Schutzbestimmungen auf den Rechtsgebieten des Infektionsschutzes , der Arbeits- und Umweltmedizin, des Veterinärwesens, des Verkehrs mit Lebensmitteln und der Pharmazie zu unterstützen. Da Soldatinnen und Soldaten beispielsweise mit Waffensystemen umgehen oder Fahrzeuge und Waffenträger in den unterschiedlichen Dimensionen bewegen, ist aus Gründen der Arbeitssicherheit beim Konsum psychotroper Substanzen ein besonders strenger Maßstab anzulegen. In diesem Kontext wird die seitens der Bundesregierung beschlossene Teillegalisierung des Verkehrs mit Cannabis in Deutschland für die Bundeswehr unverändert restriktiv zu handhaben sein.
Im Graubereich zwischen herkömmlichen Tabakerzeugnissen und nicht verkehrsfähigen Drogen hat sich in den letzten Jahren ein Markt für neue Oraltabakprodukte (Snus) und Nikotinbeutel entwickelt, der aus verschiedenen Gründen auch in der Bundeswehr Probleme mit sich bringen kann. Die sich ständig erweiternde Produktgruppe wird von der Tabakindustrie intensiv beworben und in ihrer Wirkung stark verharmlost. Gerade unter hoher Einsatz- und Übungsbelastung wird gerne zu diesen Produkten gegriffen, ohne deren Gefährlichkeit richtig einschätzen zu können. Der Konsum und der Besitz dieser Produkte sind in Deutschland statthaft, das Inverkehrbringen und auch der Bezug aus dem Ausland über den online-Handel sind hingegen rechtswidrig. Im Jahr 2023 wurde aufgrund dieser Rechtslage das Inverkehrbringen dieser Produkte in (Einsatz)-Liegenschaften der Bundeswehr untersagt. Anfang des Jahres 2024 wurde zudem eine breit angelegte Kampagne des Sanitätsdienstes zur Information der Truppe auf den Weg gebracht, um Konsumenten und Vorgesetzte vor diesen Produkten zu warnen. Um die Fachkreise im Sanitätsdienst und darüber hinaus ins Bild zu setzen, bilden drei aufeinander aufbauende Fachbeiträge aus Sicht des Verbraucherschutzes, des vorbeugenden Gesundheitsschutzes und der Zahnmedizin den prominenten Schwerpunkt dieser Ausgabe, deren Lektüre ich Ihnen dringend ans Herz legen möchte. Die dort dargelegten Fakten sprechen für sich. In Kombination mit Koffeinbeuteln, Alkohol und mehr ist der Konsum von Snus- und Nikotinbeuteln hoch brisant. Mit einem interprofessionellen, gut vernetzten und konsequent verfolgten Ansatz wird es in der Bundeswehr gelingen, diese nicht ungefährliche Modeerscheinung einzudämmen! Von den Ersthelfern bis hin zur Suchtberatung sind alle gefragt!
Ich wünsche Ihnen viele neue Erkenntnisse beim Studium dieser Ausgabe der WMM.
Ihr
Oberstapotheker Dr. Boris Mey
Ltr ÜbwStÖffRechtlAufgSanDstBw Süd
Rauchlose orale Nikotinprodukte (Teil 1) – Herausforderungen für den Verbraucherschutz
Challenges in Consumer Protection for Novel Oral Tobacco Products
Susanne Strebea, Sven Rommela, Boris Meya
a Überwachungsstelle für öffentlich-rechtliche Aufgaben des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Süd, München
Zusammenfassung
Die rauchlosen Nikotinprodukte Oraltabak und Nikotinbeutel sind keineswegs „gesünder“ als herkömmliche Tabakprodukte. Ihr unkontrollierter Konsum, insbesondere in Kombination mit psychotropen Substanzen oder bestimmten Lebens- bzw. Arzneimitteln, kann zu schwerwiegenden Intoxikationen und Folgeerkrankungen führen, die lebensbedrohlich verlaufen können. Trotz des erheblichen Gefährdungspotenzials, das von diesen Produkten ausgeht, werden sie in den Verkehr gebracht und genossen. Im Teil 1 des Übersichtsartikels werden rauchlose orale Nikotinprodukte definiert, rechtlich eingeordnet und Empfehlungen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes abgeleitet. Teil 2 beleuchtet Möglichkeiten des präventiven Gesundheitsschutzes innerhalb der Bundeswehr zur Eindämmung des bedenkenlosen Konsums rauchloser oraler Nikotinprodukte.
Schlüsselwörter: Neue orale Nikotinprodukte, Oraltabak, Snus, Nikotinbeutel, Verbraucherschutz, Bundeswehr
Summary
The smokeless nicotine products, oral tobacco, and nicotine pouches are by no means “healthier” than conventional tobacco products. Their uncontrolled consumption, especially in combination with psychotropic substances or certain foods and pharmaceuticals, can lead to serious intoxication and secondary diseases that can be life-threatening. Despite the considerable risk potential of these products, they are marketed and consumed. Part 1 of this review article defines smokeless oral nicotine products, classifies them legally, and recommends improving consumer protection. Part 2 of the review article examines the possible approaches to preventive health protection within the Bundeswehr to curb the thoughtless consumption of smokeless oral nicotine products.
Keywords: novel oral nicotine products; oral tobacco; snus; nicotine pouches; consumer protection; Bundeswehr
Einleitung
Rauchlose orale Nikotinprodukte unterliegen im Gegensatz zu Tabakzigaretten keiner Produktregulierung (z. B. Verpackung mit Warnhinweisen, Nikotinhöchstgehalt), keiner Besteuerung, keinen Jugendschutzauflagen und keinem Verbot von Werbung bzw. Sponsoring. Verbraucher sind deshalb zu wenig informiert und können das Risiko kaum einschätzen, dem sie sich beim Konsum aussetzen. Ihnen wird seitens der Tabakkonzerne suggeriert, dass diese unbemerkt, jederzeit und quasi überall konsumierbaren Produkte eine „harmlose, risikoreduzierte, potenziell weniger gesundheitsschädliche Alternative zum Rauchen“ sind, die „helfen (können), vom gefährlichen Rauchen wegzukommen“ [14].
Evidenzbasierte Studien belegen, dass Nikotin, Teer und Tabakreststoffe für Herz und Lunge schädlich sind und u. a. zu Lungenkrebs führen können. Rauchen gefährdet somit nachweislich die Gesundheit [16]. Dennoch werden weiterhin Tabak und Tabakerzeugnisse in hohem Maße konsumiert.
Gesundheitspolitische Maßnahmen wie Aufklärungskampagnen sowie rechtliche Auflagen zur Bewerbung und zum Inverkehrbringen von Tabakerzeugnissen zielen deshalb darauf ab, dem Konsum von Tabakerzeugnissen entschieden entgegenzuwirken. Auf die Gefahren des Rauchens ist gemäß § 14 Tabakerzeugnisverordnung (TabakerzV) mit drastischen Abbildungen und Warnhinweisen auf den Zigaretten, Zigarren- und Tabakverpackungen hinzuweisen, um den Verbraucher vom Konsum abzuhalten [18]. Die Tabakkonzerne haben deshalb neue Strategien entwickelt, um den Konsum von Tabakerzeugnissen zu propagieren [10][14].
Im Sinne einer Strategie der „Verwirrung“ wird die Gesundheitsgefährdung an sich nicht bestritten, stattdessen werden anerkannte Wissenschaftler mit zweckgebundenen Studien beauftragt, um Zweifel an den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und am „wahren Verantwortlichen für die Gesundheitsschädigung“ zu schüren, wie Abbildung 1 zeigt [10][14].
Abb. 1: Anzeige der Philip Morris GmbH, die auf eine eigene „Informationskampagne“ im Internet hinweist. Sie zeigt, wieso das Inhalieren von Rauch so gesundheitsschädlich ist und welche „Alternativen“ der Raucher kennen sollte. (Bildquelle: modifiziert nach [10]; Verweis auf Website der Philip Morris International [14])
Zudem werden als Alternativen zur Zigarette immer neue Produkte entwickelt, getestet und unter Nutzung gesetzlicher Grauzonen auf den Markt gebracht [3]. Der amtlichen Überwachung fehlen somit häufig belastungsfähige Rechtsgrundlagen, um wirkungsvoll einzuschreiten.
Alle großen Tabakfirmen betreiben unter dem Deckmantel der sog. „harm reduction“ eine Ausweitung ihrer Produktpalette [13]. Aber das wahre Ziel dieser „harm reduction“, bei der beispielsweise der Oraltabak denselben Namen wie die Zigaretten der beides produzierenden Firma trägt und dessen Werbung suggeriert, dass Oraltabak jederzeit und überall (auch an Orten mit Rauchverbot) konsumierbar ist, ist nicht die Nikotinentwöhnung, sondern das Gegenteil. Im Sinne einer „smoking preservation“ wird der Konsument zum Gebrauch beider Formen verleitet [1].
Auch in der Bundeswehr werden diese Produkte konsumiert und nicht rechtmäßig in den Verkehr gebracht. Daher hat dieser Übersichtsartikel zum Ziel, über die rauchlosen oralen Nikotinprodukte, im Speziellen über Oraltabak und Nikotinbeutel, zu informieren.
Was sind rauchlose Nikotinprodukte?
Oraltabak oder sogenannter „Snus“ (ein Traditionsprodukt aus Schweden) wird als feuchte Paste aus fein gemahlenem Tabak zu Bällchen geformt oder in unterschiedlich großen Beuteln unter Zusatz von Hilfsstoffen, wie z. B. Wasser, Salzen, Feuchthaltemitteln und Aromastoffen, in den Verkehr gebracht. Das Produkt wird vom Anwendenden im Mund zwischen Oberlippe und Zahnfleisch, wie in Abbildung 2 dargestellt, platziert und ca. 20–60 min lang „gelutscht“. Einige Konsumenten „snusen“ wie Kettenraucher den ganzen Tag über.
Abb. 2: Snus-konsumierende Soldatin (Bildquelle: Bundeswehr/Patrick Grüterich)
Abbildung 3 zeigt Beispiele für Snus-Produkte, die wie hier in kleinen Dosen, lose oder in Beuteln („Pouches“), neuerdings auch in sog. „Softpacks“angeboten werden.
Die verschiedenen Snus-Sorten enthalten unterschiedliche Mengen an Nikotin. Mit „Stärke“ bezeichnet man bei Snus generell den „Nikotinkick“, welcher entgegen dem weit verbreiteten Irrtum aber nicht nur vom Nikotingehalt abhängt [3]. Neben dem reinen Nikotingehalt spielen auch weitere Faktoren eine Rolle, wie der pH-Wert (je höher, desto stärker), die Feuchtigkeit (je feuchter, desto stärker) und die Art und Beschaffenheit des Vlies-Beutels (je größer, desto stärker).
Abb. 3: Beispiele für Snus-Produkte (Bildquelle: Bundeswehr/Susanne Strebe)
Wie schnell das Nikotin aus einer Zigarette und unterschiedlich Nikotin-dosierten Snusprodukten („pouched“ = im Beutel, „loose“ = lose) freigesetzt wird, veranschaulicht Abbildung 4.
Abb. 4: Zeitverlauf der Nikotinkonzentration im Plasma in Abhängigkeit verschiedener Freisetzungssysteme: Snus, im Beutel (Pouch) und lose, im Vergleich zur Zigarette. (Bildquelle aus [5])
Vom deklarierten Nikotingehalt einer Zigarette (ca. 10 bis 25 mg) wird nur ca. 1 mg Nikotin systemisch aufgenommen. Das Nikotin aus dem Zigarettenrauch wird sehr rasch, sogar schneller als bei der Injektion über die Vene, über die Lunge ins Blut freigesetzt und erreicht innerhalb von 10 bis 20 Sekunden das Gehirn. Binnen fünf Minuten wird eine Spitze mit einer Nikotin-Plasma-Konzentration in diesem Fall von mehr als 12 ng/ml Plasma erzielt. Danach fällt die Nikotinkonzentration ab.
Das Nikotin aus dem Snus gelangt über die Mundschleimhaut ins Blut und wird langsam (je nach Nikotingehalt des Snus) bis zum Erreichen eines Plateaus angeflutet [4]. Es werden also keine Spitzen erzielt. Es ist bekannt außerdem, dass der Snus-Konsumierende nach ca. 35 min eine höhere Nikotinkonzentration im Blut hat als der Raucher. Die durch den Snus vermittelte Nikotinkonzentration im Blut sinkt langsamer ab als beim Rauchen. Eine Portion Snus wirkt hinsichtlich der Expositionsdauer so, wie wenn man ungefähr drei Zigaretten auf einmal konsumiert [9]. Damit sind die Snus-Konsumierenden länger einer höheren Nikotindosis ausgesetzt als der Raucher, womit sich die im Vergleich zu Zigarettenkonsumierenden stärkere Abhängigkeitssymptomatik bei Snusern erklären lässt [13].
Es gibt noch eine weitere, neue Produktkategorie auf dem Markt: Nikotinbeutel (Abbildung 5, auch „Nicopods“, „Nicotin Pouches“, „Super White Snus“ oder „All-White-Produkte“) enthalten keinen Tabak, sondern Nikotin, das auf mikrokristalliner Zellulose aufgebracht ist. Weitere Inhaltsstoffe sind Süßungsmittel, Feuchthaltemittel, Säureregulatoren und Aromen.
Abb. 5: Nikotinbeutel (Bildquelle: Bundeswehr/Patrick Grüterich).
Zur Testung der Eigenschaften führte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Kooperation mit der Tabakambulanz München eine fünfarmige Cross-over-Studie durch. 15 Raucher konsumierten Nikotinbeutel (Nikotingehalte 20 mg/Btl und 30 mg/Btl) verschiedener Hersteller bzw. rauchten eine Zigarette (Nikotingehalt ca. 12 mg). Für diese ausgewählten Nikotinprodukte wurde die in Abbildung 6 vereinfacht dargestellte Freisetzungskinetik von Nikotin bestimmt. Über ein Zeitfenster von vier Stunden wurden zu definierten Zeitpunkten Blutproben entnommen und der Nikotingehalt bestimmt [4].
Das Nikotin wird bei beiden Applikationsformen schnell angeflutet. In Abhängigkeit vom Nikotingehalt des Produktes werden sehr unterschiedliche Spitzenkonzentrationen erreicht. Mehr als 80 % des Nikotingehalts werden innerhalb der ersten 20 min freigesetzt. Die Aufnahme von Nikotin aus den Beuteln ist teilweise sehr hoch. Ein linearer Zusammenhang zwischen dem deklarierten Gehalt an Nikotin und der Nikotin-Konzentration im Blut kann nicht festgestellt werden. Vielmehr bestehen Unterschiede zwischen den Produkten sowohl hinsichtlich des aufgenommenen Anteils an Nikotin als auch hinsichtlich der Freisetzungsgeschwindigkeit. Es bestätigt sich, dass jedes Produkt auch trotz gleicher Nikotingehalte seine spezifischen Eigenschaften hat. Aus den Nikotinbeuteln wird insgesamt mehr Nikotin extrahiert als aus einem Snus-Produkt mit demselben Nikotingehalt (höhere Verbraucherexposition durch Nikotinbeutel)[4]. Die hochdosierten Produkte erzeugen dabei deutlich höhere Blutspiegel, auch im Vergleich zu den Blutspiegeln nach dem Zigarettenkonsum. Die schnelle Anflutung des Nikotins wird als wesentlicher Faktor für die suchtauslösende Wirkung angesehen.
Abb. 6: Zeitverlauf der Nikotinkonzentration im Plasma in Abhängigkeit verschiedener Freisetzungssysteme: verschiedene Nikotinbeutel im Vergleich zur Zigarette (Abbildung nach einem am 16. März 2023 gehaltenen Vortrag von Dr. Nadja Mallock-Ohnesorg, Bundesinstitut für Risikobewertung, mit Vorstellung erster Ergebnisse einer noch nicht publizierten Studie zur Nikotinkinetik)
Abbildungen 4 und 6 machen sichtbar, dass es den Herstellern der oralen, rauchlosen Nikotinprodukte mit entsprechender Dosierung und verschiedenen galenischen Kniffen gelingt, die Nikotinanflutung im Blut durch die Tabakzigarette nicht nur nachzuahmen, sondern auch in der Konzentrationsspitze und Wirkdauer zu übertreffen.
Rechtlicher Rahmen
Zur Bewertung der rechtlichen Aspekte stellen sich zwei Fragen:
- Wie sind rauchlose orale Nikotinprodukte reguliert?
- Dürfen diese rauchlosen oralen Nikotinprodukte in den Verkehr gebracht werden?
Oraltabak, Snus und Snus-Analoga dürfen gemäß Artikel 17 der Richtlinie 2014/40/EU und gemäß § 11 Tabakerzeugnisgesetz europaweit nicht in den Verkehr gebracht werden [17][19].
Der gewerbliche Verkauf ist in Deutschland (in der gesamten EU außer in Schweden) bislang illegal, der Konsum hingegen nicht. Um dieses Verkaufsverbot zu umgehen, vermarkten manche Hersteller ihre Produkte als „Kautabak“ und deklarieren diese entsprechend. In Reaktion darauf wurden Kriterien zur Abgrenzung des Oraltabaks von Kautabak erarbeitet, wie beispielsweise neben der Zusammensetzung, Konsistenz, Darreichungsform und der tatsächlichen Verwendung durch den Verbraucher auch der Gesamtnikotingehalt, der pH-Wert und die Feinheit des Tabakschnitts [13].
Die Kontrollbehörden der Länder stuften Nikotinbeutel als „Novel Food“ ein. Diesen fehlt die für neuartige Lebensmittel erforderliche Zulassung, weshalb ihr Verkauf in Deutschland verboten wurde. Zusätzlich sind sie nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts (VG) München als gesundheitsschädliche Lebensmittel einzustufen. Demnach kann der Verbraucher eine Nikotinmenge von 0,0008 mg/kg Körpergewicht über die Nahrung ohne nennenswertes Risiko binnen 24 h oder kürzer aufnehmen [20].
Das Inverkehrbringen von Nikotinbeuteln verstößt somit gegen gängige Rechtsvorschriften und wird untersagt [19]. Toxikologische Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die Nikotin-Dosis, die bereits bei mäßigem Gebrauch von Nikotinbeuteln aufgenommen wird, mit einer gesundheitsschädlichen Wirkung verbunden ist.
Das Inverkehrbringen beider Produkte ist in der EU verboten. Dennoch sind die Beutel „in aller Munde“, weil sie über das Internet, Tankstellen, Tabakläden und Großhandlungen verkauft werden. Dieses Vollzugsdefizit führt dazu, dass diese neuen Nikotinprodukte, insbesondere die Nikotinbeutel, nicht der Regulierung und der Kontrolle unterliegen, die ihrem Gefährdungspotenzial entsprechen. Für Tabak und Tabakerzeugnisse gibt es ein Werbeverbot, den Jugendschutz sowie Vorgaben zur Produktregulierung und Kennzeichnung.
Verbraucherschutz
Mit den derzeit fehlenden Vorgaben zur Aufmachung, Herstellung und zum Verkauf der rauchlosen Nikotinprodukte kann der gesundheitliche Verbraucherschutz in Deutschland für diese Produkte derzeit nicht garantiert werden.
Aufmachung der Verpackung
Der Verbraucher weiß bei zahlreichen Produkten gar nicht, wieviel Nikotin er mit einem Beutel zu sich nimmt. Der Nikotingehalt wird derzeitig nur bei wenigen auf dem Markt befindlichen Produkten deklariert. Hinzu kommt, dass die Deklaration in den wenigen Fällen, in denen sie zu finden ist, nicht einheitlich, sondern mit der Angabe „mg/g“ oder mit „mg/Beutel“ erfolgt.
Erschwert wird der Produktüberblick für den Verbraucher durch die Tatsache, dass die auf dem Markt befindlichen Beutel-Arten sich nicht nur in ihrer Größe bzw. Masse, die zwischen 0,33 g und 1,13 g betragen kann, unterscheiden, sondern allgemein in ihren Eigenschaften. Die Beutel werden mit bestimmten Zusatzbezeichnungen in den Verkehr gebracht, denen nicht allgemein definierte Eigenschaften von den Inverkehrbringern zugeschrieben werden. Beispielsweise verbirgt sich hinter einer „White Portion“ ein trockener Beutel mit langsamer Freisetzung und langanhaltender Wirkung. Außerdem wird erwartet, dass der Verbraucher weiß, mit einer „Original Portion“ einen feuchten Beutel mit schnellerer Freisetzung und intensiverem Geschmack zu konsumieren. Ein tabakfreier Beutel mit höherer Nikotinmenge ist eine geruchs- und geschmacksneutrale „All-White-Portion“. Weiterhin gibt es die „Mini-Portion“ (kleiner Beutel mit weniger Nikotin) und die „Slim-Portion (schmale, lange Beutel, die besser unter die Lippe passen, ohne Änderung der Nikotindosis).
Außerdem wird die Nikotinstärke teilweise mit einer undefinierten Stärkenskala, z. B. mit Stärke 3 oder 5 oder mit Attributen, wie „easy, medium, strong, extreme, ultra, brutal“ beschrieben. Hierfür sind keine eindeutigen Definitionen hinterlegt.
Bei einem Produktwechsel zwischen verschiedenen Herstellern kann es daher vorkommen, dass sich der Nikotingehalt pro Beutel beispielsweise bei derselben begrifflichen Eingruppierung der Nikotinstärke verdoppelt.
Kontrolle der Herstellung
Nikotinhöchstgehalt
Es fehlen sowohl die Festlegung eines Nikotinhöchstgehalts als auch die damit einhergehenden Warnhinweise. So ist es nicht verwunderlich, dass Produkte mit Nikotingehalten bis zu 150 mg/g in den Verkehr gebracht werden. Während man in klassischen Lehrbüchern Angaben von 1 mg/kg Körpergewicht oder 60 mg Nikotin beim Erwachsenen als letale Dosis findet, spricht die klinische Erfahrung stark gegen diese niedrige letale Dosis [21]. Aus wenigen Fällen mit absichtlicher oder versehentlicher Nikotinaufnahme kann abgeleitet werden, dass die für den Menschen tödliche Nikotinmenge bei etwa 6,5 bis 13 mg/kg Körpergewicht liegt. Für einen Erwachsenen mit einem Körpergewicht von 70 kg wäre demnach die tödliche Dosis 455 mg bis zu 910 mg Nikotin.
Zur Findung eines Höchstgehalts an Nikotin pro Beutel hat das BfR bislang eine toxikologische Bewertung und eine chemikalienrechtliche Grenzwert-Bestimmung vorgenommen. Bei der akuten toxikologischen Bewertung des Nikotingehalts eines Produkts geht man vom Konsum eines Beutels pro Tag und von einer Nikotinfreisetzung von 50 % aus. Der ermittelte Nikotingehalt pro Beutel wird auf das Körpergewicht von 70 kg bezogen, sodass sich entsprechend eine Nikotin-Dosis in mg/kg Körpergewicht ergibt.
Zur akuten Risikobewertung von oral aufgenommenem Nikotin wird
- die niedrigste Dosis mit beobachteter schädlicher Wirkung (LOAEL-Wert=Lowest Observed Adverse Effect Level) mit 0,0035 mg/kg Körpergewicht und
- die akute Referenzdosis (ARfD) mit 0,0008 mg/kg Körpergewicht
angegeben [6].
Diese beiden Kenngrößen werden bereits bei den auf dem Markt derzeit befindlichen, mit ca. 7–8 mg/g Nikotin als „normal stark“ deklarierten Nikotinbeutel um ein Vielfaches überschritten [8].
Nur als grober Anhaltspunkt können Berechnungen auf chemikalienrechtlicher Basis des BfR dienen, aus denen gefolgert wird, dass ein eigentlich nicht zum Verzehr gedachtes Produkt mit einem Nikotingehalt von ≥ 16,7 mg/g chemikalienrechtlich mit dem Piktogramm Totenkopf gekennzeichnet werden muss. Dieser chemikalienrechtliche Grenzwert für die akute Toxizität kann gemäß der Stellungnahme des Ärztlichen Arbeitskreises Rauchen und Gesundheit e. V. von Juni 2021 jedoch nicht als Obergrenze für ein regelmäßig verwendetes Konsumprodukt abgeleitet werden.
Zahlreiche Produkte weisen gemäß den Untersuchungen des BfR zwar einen Warnhinweisauf, der vom Konsum durch Minderjährige abrät, aber es fehlen einschlägige Gefahren- und Sicherheitshinweise, wie z. B. der gesundheitsbezogene Warnhinweis zur Nutzung während der Schwangerschaft [3]. Gegen weitere Anforderungen bezüglich der Größe und Anbringung von Warnhinweisen auf der Vorder- und Rückseite der Snus-Verpackung wird gemäß der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention in der Schweiz, wo Nikotinbeutel verkehrsfähig und seit 2024 reguliert sind, systematisch verstoßen [1].
Einschränkungen für Zusatzstoffe
Es gibt keine standardisierten Vorgaben für den Herstellungsprozess, es werden folglich keine Produkte mit standardisierten Eigenschaften, mit einheitlicher Freisetzungskinetik erzeugt. Es fehlen Vorgaben hinsichtlich der Zusammensetzung (z. B. Zusatzstoffe), der Feuchte oder der Beutelmerkmale (Material, Gewicht, Form). Genau dies sind die „Stellschrauben“, mit denen die Tabakkonzerne die Nikotinfreisetzung „optimieren“. Beispielsweise modifizieren die Hersteller die Nikotinfreisetzung durch Zugabe verschiedenster Zusatzstoffe, z. B. Säureregulatoren. Im basischen Milieu ist nämlich der Anteil an bioverfügbarem „freiem“ Nikotin größer. Als freie Base wird das Nikotin besser resorbiert, in den Blutkreislauf aufgenommen und zeigt dann beim Verbraucher größere Wirkung.
Des Weiteren hat das BfR Aromastoffe in 50 Nikotinbeuteln untersucht [12]. Gefunden wurden insgesamt 186 verschiedene Substanzen. Davon waren 13 Substanzen nicht für Lebensmittel erlaubte Zusätze und 6 weitere Substanzen wurden als sogenannte Skin Sensitizer, also als Substanzen mit hautsensibilisierenden Eigenschaften, eingestuft. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ) hat hierzu eine Liste von Zusatzstoffen erstellt, die verboten sein sollten. Dort erfasst sind sämtliche attraktivitätssteigernden Zusatzstoffe, die z. B. Geschmack, Farbe oder die Nikotinverfügbarkeit betreffen.
In einer Studie des BfR wurden bisher sieben tabakspezifische Nitrosamine (TSNA) in 26 von 46 Nikotinbeuteln nachgewiesen [3]. Wenn das zugesetzte Nikotin durch Extraktion von Tabakblättern gewonnen wurde, können Nikotinbeutel Spuren von TSNA enthalten. Die gefundenen Konzentrationen sind zwar geringer als bei Snus oder Zigaretten, aber zwei der Substanzen sind von der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) als Gruppe 1 Kanzerogene (krebserzeugend für den Menschen) klassifiziert. Die Bildung von Nitrosaminen erfolgt unter Einwirkung nitrosierender Agenzien, wie z. B. Nitritsalzen, bevorzugt im sauren Milieu. So kommt durch die Anwendung im Mund und die damit einhergehende Resorption der Inhaltsstoffe beispielsweise eine endogene Bildung karzinogener TSNA im menschlichen Verdauungstrakt in Betracht. Dass jedoch in mehreren Produkten keine TSNA nachgewiesen wurden, verdeutlicht, dass es technologisch durchaus möglich ist, diese Stoffe zu vermeiden.
Empfehlungen zur Verbesserung des Verbraucherschutzes in der Bundeswehr
In einer Studie, die im Jahr 2017 den Zusammenhang von Auslandseinsätzen und Tabakabhängigkeit bei Soldaten untersuchte, wurde eine Quote rauchender Soldatinnen und Soldaten von rund 56 % ermittelt[22]. Auch für Oraltabak und Nikotinbeutel kann ein hoher Konsum bei deutschen Soldatinnen und Soldaten beobachtet werden. Aufgrund der vermeintlich „leistungssteigernden“ Eigenschaften und der „unsichtbaren“ Konsumierbarkeit sind Soldaten für diese neuen Trendprodukte empfänglich. Angeboten werden sie nicht nur im Internet. Das unerlaubte Inverkehrbringen innerhalb der Bundeswehr wurde auch in Betreuungseinrichtungen im Inland sowie in den Verkaufsstellen für Marketenderware in den Auslandseinsätzen in Einzelfällen aufgedeckt und untersagt.
Mit dem derzeitigen rechtlichen Rahmen (Rüdiger Krech, WHO-Direktor für Gesundheitsförderung: „Laxe Umsetzung von Maßnahmen in der Tabakkontrolle in Deutschland“) kann der gesundheitliche Verbraucherschutz im zivilen Bereich nicht sichergestellt werden. Umso mehr sollte innerhalb der Bundeswehr in den einschlägig geltenden Regelungen für Liegenschaften der Bundeswehr in der Basis Inland und im Einsatz klar herausgestellt werden, dass der Verkehr mit rauchfreien oralen Nikotinerzeugnissen in DEU rechtswidrig und der Konsum dieser Erzeugnisse vor und beim Führen von Waffen sowie Dienstfahrzeugen innerhalb der Bundeswehr untersagt ist. Truppenärzte und Vorgesetzte sollten breit angelegt zur Thematik informiert werden und dabei unterstützen, Soldatinnen und Soldaten angemessen aufzuklären. In der Grundausbildung, bei Lehrgängen für Vorgesetzte, bei der Ausbildung im Sanitätsdienst sowie in der einsatzvorbereitenden Ausbildung sollte die Thematik verpflichtend unterrichtet werden.
Fazit und Kernaussagen
Der Verbraucher sollte zu rauchlosem Oraltabak und Nikotinbeuteln folgendes wissen:
- Das Inverkehrbringen dieser Produkte ist in Deutschland rechtswidrig. Dies schließt den Bezug über den Online-Handel ein.
- Diese Produkte sind keineswegs weniger gesundheitsschädlich als Rauchtabakerzeugnisse.
- Oraltabak und Nikotinbeutel sind sehr oft nicht rechtskonform gekennzeichnet, die Gehaltsangaben sind nicht zuverlässig und lassen keine Rückschlüsse zu.
- Diese Produkte werden nicht standardisiert hergestellt, es gibt keine Vergleichbarkeit.
- Im Bereich der Bundeswehr sind konzertierte Anstrengungen zu unternehmen, das Verbot des Inverkehrbringens durchzusetzen.
Literatur
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- Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Vorläufige gesundheitliche Bewertung von Nikotinbeuteln (Nikotinpouches), Stellungnahme Nr. 027/2021 des BfR vom 20. September 2021. , letzter Aufruf 19. März 2024. mehr lesen
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- Tabakerzeugnisverordnung, § 12 Nummer 3 nach Richtlinie 2014/40/EU, Anhang II. mehr lesen
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Strebe S, Rommel S, Mey B: Rauchlose orale Nikotinprodukte (Teil 1) – Herausforderungen für den Verbraucherschutz . WMM 2024; 68(5): 194-200.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-287
Für die Verfasser
Oberstabsapotheker Susanne Strebe
Überwachungsstelle Öffentlich-Rechtliche Aufgaben des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Süd
Abteilung IV – Lebensmittelchemie und Pharmazie
Dachauer Straße 128, 80637 München
E-Mail: susannestrebe@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Strebe S, Rommel S, Mey B: [Challenges in Consumer Protection for Novel Oral Tobacco Products]. WMM 2024; 68(5): 194-200.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-287
For the Authors
Major (MC) Susanne Strebe
Supervisory Agency South for Public Law Tasks of the Bundeswehr Medical Service Department IV – Food Chemistry and Pharmacy
Dachauer Straße 128, D-80637 München
E-Mail: susannestrebe@bundeswehr.org