Editorial
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
die „Wehrmedizinische Monatsschrift“ ist das wissenschaftliche Fachjournal des Sanitätsdienstes der Bundeswehr und das Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie. Hier werden Beiträge aus der Humanmedizin, Zahnmedizin, Veterinärmedizin und aus der Pharmazie veröffentlicht. Für jede Ausgabe werden 8 000 Exemplare gedruckt und versandt, so dass jeder Sanitätsoffizier sein persönliches Exemplar erhalten kann. Mit weit über 10 000 Aufrufen pro Monat für das ePaper über die Webseite „wmm-online.de“ und „wehrmed.de“ erreichen wir vermutlich noch einen weit größeren Leserkreis, eine genauere Analyse ist allerdings aus Datenschutzgründen nicht möglich.
Auf diesen Zahlen wollen wir uns nicht ausruhen. Unsere Absicht ist es vielmehr, die Zahl unserer Leser stetig zu vergrößern, indem wir in Zukunft auch vermehrt die zivilen Partner des Sanitätsdienstes ansprechen. Daher werden wir immer über aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen im Sanitätsdienst berichten, aber auch über akademisch-fachliche Aktivitäten wie besondere Kongresse und Tagungen informieren.
Ein wichtiger Aspekt in der Zukunft ist die Steigerung der Attraktivität der Wehrmedizinischen Monatsschrift für unseren Nachwuchs. Junge Angehörige in den akademischen Laufbahnen des Sanitätsdienstes müssen spannende Inhalte vorfinden, die möglicherweise Karrierewege eröffnen. Sie sollten aber auch ihrerseits interessante Beiträge beisteuern und sich selber lesen können. Diesen Spirit muss unser Journal zusammen mit unseren Autorinnen und Autoren entwickeln.
Die Ihnen vorliegende Ausgabe präsentiert sich hochaktuell. Gleich zu Anfang berichten GUTSCHE und BOROS über die Volkskrankheit Parodontitis mit neuen Therapieformen. Danach findet sich der Artikel von STARK und GRUNWALD über einen sinnvollen Behandlungsansatz der Hypersomnie. Schon im Vorgriff auf die Invictus Games 2023, die unter Beteiligung des Sanitätsdienstes in Düsseldorf veranstaltet werden, berichten SCHNADHORST et al. über erste praktische Erfahrungen mit diesem wichtigen Thema. Ein großer Block beschäftigt sich mit Infektiologie und Tropenmedizin, eine sich dynamisch entwickelnde Disziplin, die der Sanitätsdienst angesichts des Klimawandels und der zu erwartenden Auslandseinsätze dringend benötigt. Hierzu sehr lesenswert das Grundsatzpapier der Autorengruppe um Wiemer mit daran anschließendem Bericht über das Tropenmedizin-Symposium in Hamburg mit über 80 Teilnehmenden aus 19 Ländern. Nun, viel Spaß beim Lesen und Stöbern in Ihrer „Wehrmedizinischen Monatsschrift“.
Ihr
Prof. Dr. Horst Peter Becker
Generalarzt a. D.
VOLKSKRANKHEIT PARODONTITIS
Schmelzmatrixproteine zur nichtchirurgischen Regeneration einer Parodontitis – non-invasiv und patientenfreundlich
Enamel matrix proteins for non-surgical regeneration of periodontitis – non-invasive and patient-friendly
Gregor Gutschea, Gabor Borosb
a Sanitätsversorgungszentrum Idar-Oberstein, Zahnarztgruppe
b Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Abteilung XXIII – Zahnheilkunde
Zusammenfassung
Parodontitis ist eine Volkskrankheit, die schon lange als Ursache für Zahnverlust deutlich vor der Karies rangiert. In den letzten Jahren eröffneten sich Therapieansätze, die das parodontal-regenerative Behandlungsspektrum auch eher weniger chirurgisch tätigen Zahnärzten zugänglich macht. Schmelzmatrixproteine (Amelogenin, Ameloblastin) unterstützen zellproliferative Effekte, die bei nahezu allen parodontalchirurgischen, implantologischen oder augmentativen Therapiemethoden gewinnbringend genutzt werden können. Die Wachstumsfaktoren werden aus embryonalen porcinen Zahnkeimen isoliert und dienen in der Parodontalchirurgie seit Jahrzehnten dazu, Schäden bei weit fortgeschrittenen parodontalen Erkrankungsformen auf regenerative Weise zu behandeln. Schmelzmatrixderivate/Schmelzmatrixproteine fördern die Angiogenese und modulieren die mit der Wundheilung assoziierten Entzündungsfaktoren.
Letztendlich resultiert aus der Anwendung ein funktionelles Attachment aus neu gebildetem Wurzelzement, darin verankerten Fasern des Parodontalligaments und Alveolarknochen. In vielen Fällen kann auf den Einsatz einer klassischen parodontalchirurgischen Methode verzichtet und diese durch die nicht-chirurgische Applikation ersetzt werden, was die Akzeptanz bei Patienten erhöht.
Schlüsselwörter: Schmelzmatrixproteine, Emdogain Flapless, Angiogenese, Parodontalregeneration, Parodontaltherapie
Summary
Periodontitis is a common disease that has outranked well ahead caries in terms of tooth loss. In recent years, regenerative therapeutic approaches have emerged, making the periodontal regenerative treatment spectrum accessible to dentists to dentists who are less likely to perform surger. Enamel matrix proteins (amelogenin, ameloblastin) support cell proliferative effects that can be profitably used in almost all periodontal surgical, implantological or augmentation therapy methods. The applied growth factors are isolated from embryonic porcine tooth germs and have been used for decades in periodontal surgery to treat damage of advanced periodontal disease in a regenerative manner. Enamel matrix derivatives stimulate angiogenesis and modulate inflammatory factors associated with wound healing.
Ultimately, the application results in a new functional attachment of newly formed root cementum, periodontal ligament fibers anchored therein, and alveolar bone. In many cases, a classical periodontal surgical method can be omitted and replaced by the non-surgical application, which increases patient compliance.
Keywords: enamel matrix derivative, Emdogain Flapless, angiogenesis, periodontal regeneration, periodontal therapy
Parodontitis – Epidemiologie und therapeutischer Ansatz
Epidemiologie und Pathologie
Die Parodontitis ist eine Volkskrankheit, deren Auswirkungen und Ausmaß erheblich unterschätzt werden [2]. Unbehandelt führt die Erkrankung zum Zahnverlust. Die Folgen der parodontalen chronischen Entzündungen reichen weit über die Schäden im Mund hinaus. Zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen häufigen Erkrankungen – u. a. Diabetes mellitus, Rheuma, chronische Atemwegserkrankungen, Herzinfarkt und Schlaganfall – stehen dabei im Zentrum wissenschaftlicher Forschung.
Die Parodontitis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung, die von zahlreichen Risikofaktoren im zeitlichen Voranschreiten oder ihrem Ausprägungsgrad beeinflusst wird. Ursächlich ist ein dysbiotischer, parodontal-pathogener Biofilm, der sich in Zahnfleischtaschen etabliert. Besteht die Parodontitis über längere Zeit, werden sowohl die bindegewebigen Haltefasern als auch die Knochenbasis, das Fundament für die Zahnwurzeln, zerstört. Im quantitativ reduzierten Knochen verliert der Zahn an Stabilität. Die mit der Zerstörung vergesellschafteten vertieften Zahnfleischtaschen sind ein Reservoir für wiederum größere Mengen an Bakterien. Werden sie nicht nachhaltig und sicher entfernt, resultieren durch deren Verbleiben vor Ort eine permanente Dysbiose, nachfolgend eine chronifizierte Entzündung und damit vertiefte parodontale Taschen sowie ein weiterer Verlust von Knochen und Bindegewebe.
Abb. 1: Typisches klinisches Bild einer fortgeschrittenen Parodontitis mit deutlich sichtbaren Folgen: Sichtbarer Wurzelzement, fehlende interdentale Gingiva (Gingivadreiecke). Das Erscheinungsbild wird durch verhältnismäßig zu lange Zähne und zu wenig Zahnfleisch geprägt.
Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko für das Auftreten einer Parodontitis, weil sich potenziell schädliche Krankheitsfaktoren über die Lebensjahre hinweg akkumulieren. Bei den 34- bis 44-jährigen Erwachsenen hat gut die Hälfte eine moderate und oder schwere Parodontitis. Bei älteren Menschen (65–74 Jahre) sind es zwei Drittel. Bei jüngeren Menschen ist die Risikowahrscheinlichkeit der Erkrankung geringer, wobei hier eine progressiv verlaufende Zerstörung anzutreffen ist. Die Wahrscheinlichkeit, eine Parodontitis zu entwickeln und an den Schäden zu leiden, ist bei Rauchern bis zu siebenfach erhöht [11].
Da in den meisten Fällen eine sehr langsam schleichend verlaufende Erkrankungsform vorliegt, wird eine Parodontits von den betroffenen Menschen kaum wahrgenommen. Die Erkrankung verläuft zum größten Teil schmerzfrei und wird durch daran Erkrankte erst im letzten Stadium registriert, wenn die erhöhte Zahnmobilität zu fühlbaren Funktionseinschränkungen führt.
Ohne eine suffiziente Therapie kommt es unweigerlich zu einer Zerstörung der zahnstabilisierenden Gewebe (Knochen, Faserapparat) und nachfolgend zum Zahnverlust. Die Parodontitis ist weltweit die primäre Ursache für Zahnverlust bei Erwachsenen [24].
Abb. 2: Röntgen-Panoramaschichtaufnahme eines Parodontitispatienten mit bereits fehlenden Zähnen: Generalisierte, horizontale Defizite am Alveolarknochen, vereinzelte vertikale Komponenten und Osteolysen zwischen den Wurzeln mehrwurzeliger Molaren führen zu einer verminderten Kontaktzone der Wurzeln zur verbliebenen Knochenbasis.
Sozialmedizinische Aspekte
Fehlende Zähne, Zahnlücken und Schmerzzustände haben einen verhängnisvollen Einfluss auf die Kaufunktion. Ästhetik, Selbstwertgefühl und Lebensqualität der Betroffenen leiden. Nicht zuletzt entstehen für die Patienten beträchtliche Kosten für die nachfolgende prothetische Behandlung dieser Zahnerkrankung [13][22].
Der Wissensstand zur Parodontitis ist in der Bevölkerung eher gering ausgeprägt. Nur 56 % von Befragten einer forsa-Umfrage (Februar 2022) bringen Mundgeruch mit Parodontitis in Verbindung. Etwa 18 % aller Befragten kennen den Begriff „Parodontitis“ beziehungsweise „Parodontose“ (veraltet) gar nicht. Bei jungen Menschen (bis 29 Jahre) kennen sogar 60 % diese Volkskrankheit überhaupt nicht. Etwa 30 % begeben sich bei Zahnfleischbluten nicht in zahnärztliche Behandlung [3].
Therapie
Die konsequente Behandlung entsprechend der europäischen S3-Leitline der European Federation of Periodontology (EFP) ist eine gute Richtschnur für behandelnde Zahnärzte [9]; vermutlich werden zukünftige Langzeitergebnisse diesen evidenzbasierten Ansatz stützen. Für weit fortgeschrittene Formen mit sehr tiefen Taschen von mehr als 5 mm Sondiertiefe ist mit der antiinfektiösen Behandlung das Therapieziel noch nicht erreicht. Im Rahmen der Leitlinie werden klare Empfehlungen bezüglich einer parodontalchirurgischen Therapie ausgesprochen. Die positiven Ergebnisse klassischer parodontalchirurgischer resektiver Eingriffe sind oft von negativen Begleiterscheinungen gefolgt, die von erhöhten Risiken für Wurzelkaries und hypersensiblen Zahnhälsen über eine verminderte Stabilität bis hin zur persönlich empfundenen Beeinträchtigung der äußeren Wahrnehmung reichen.
Abb. 3: Klassische umfangreiche parodontalchirurgische Therapie mit resektiven Segmenten bei weit fortgeschrittenem Attachmentverlust mit lokalen, vertikalen Knochendefekten (Oberkiefer, links): Die Zähne an sich werden gerettet, jedoch bleiben erhebliche Anteile der Zahnwurzeln nach der Ausheilung exponiert und dem Milieu der Mundhöhle ausgesetzt.
Demgegenüber bringen regenerative Methoden mit wachstumsstimulierenden Proteinen deutliche Verbesserungen hinsichtlich der funktionellen und ästhetischen Wiederherstellung mit originärem, regeneriertem Gewebe. Die erfolgreiche regenerative Parodontalchirurgie ist Teil eines systematischen Gesamtkonzepts. Wesentlicher Bestandteil ist der Eingriff selbst, der dann gut gelingt, wenn der Patient auf einen Zahnarzt trifft, der über eine langjährige Berufserfahrung mit hoher Operationsfrequenz verfügt. Ebenfalls sollte eine spezielle instrumentelle Ausstattung vorhanden sein. Da dies nur in spezialisierten Praxen wirklich zutrifft, suchte man nach vereinfachten nicht-chirurgischen Methoden, um für eine größere Zahl an Patienten Therapieoptionen zu eröffnen.
Abb. 4: Umfangreiche regenerative Parodontalchirurgie mit Papillenerhaltungsflap (Oberkiefer, rechts): Der mit einem bovinen Knochenersatzmaterial-Blut-Gemisch (BioOss®, Fa. Geistlich) rekonstruierte physiologische Knochenverlauf ist mit einer resorbierbaren Kollagenmembran (BioGide®, Fa. Geistlich) abgedeckt. Initial wurden auf die ehemals freiliegenden Wurzeloberflächen nach Konditionierung (EDTA-Gel) Schmelzmatrixproteine (Emdogain®, Fa. Straumann) aufgebracht.
Abb. 5: Primärer, interdentaler Wundverschluss in Regio 11–15 (gleiche Situation wie in Abb. 4): Der Verschluss erfolgte in Nahttechnik nach Laurell (Polypropylene 5–0).
Im Folgenden wird die regenerative Wirkweise der Schmelzmatrixproteine dargelegt. Im Folgebeitrag wird die Behandlung mit Emdogain® FL einer Patientin mit Tabakrauchabusus vorgestellt, bei der an einem Zahn zweiwandige vertikale Parodontaldefekte mit einer Sondierungstiefe bis 9 mm und anteriorer gekippter Stellung vorlagen.
Wirkweise von Schmelzmatrixproteinen
Die zellproliferativen Effekte von Schmelzmatrixproteinen können bei nahezu allen parodontalchirurgischen, implantologischen oder augmentativen Therapiemethoden gewinnbringend genutzt werden. Seit Jahrzehnten lässt sich in der Parodontaltherapie ein Trend in Richtung Minimalinvasivität beobachten. Parodontal therapiebedürftige Patienten können von einer Behandlung mit Schmelzmatrixproteinen ohne Lappenpräparation (Emdogain® FL, Fa. Straumann, Freiburg) profitieren. Seit mehr als 25 Jahren wird Emdogain® in deutschen Praxen im Rahmen der regenerativen und plastischen Parodontalchirurgie erfolgreich angewendet.
Das Präparat auf Propylenglycolalginat (PGA)-Basis enthält verschiedene Schmelzmatrixproteine, darunter 90 % Amelogenin, und gilt in seiner positiven Wirkung auf die Entwicklung von zahnstützendem Gewebe auch in Langzeitstudien wissenschaftlich als sehr gut belegt [14][23]. Die enthaltenen natürlichen Proteine stimulieren gezielt die Wundheilung und Regeneration des Weich- und Hartgewebes. Damit wird der therapeutische Prozess nicht nur beschleunigt, sondern es kommt nachweislich auch zu einer zuverlässigen Regeneration des Parodontiums mit Neubildung von Zement, neuen Fasern des parodontalen Ligaments und Knochengewebes [15][19]. Der Ablauf der parodontalen Regeneration ist in den Abbildungen 6 bis 13 dargestellt.
Abb. 6: Die Schmelzmatrixproteine bilden auf der Wurzeloberfläche eine extrazelluläre Matrix.
Abb. 7: Die Matrix zieht die mesenchymalen Zellen aus dem gesunden Parodont an und stimuliert die Zellproliferation.
Abb. 8: Die Zellen sezernieren Zytokine und autokrine Substanzen, die die Zellproliferation fördern.
Abb. 9: Aus den Stützzellen, die zur abheilenden Region wandern, differenzieren sich Zementoblasten – diese bilden Wurzelzement, in dem sich die Fasern des parodontalen Ligaments verankern
Abb. 10: Das neu gebildete Wurzelzement wird voluminöser und bietet eine wachsende Verankerungsfläche für die Fasern des Parodontalligaments.
Abb. 11: Innerhalb von Monaten füllt sich der Defekt mit neu gebildeten Fasern des parodontalen Ligaments.
Abb. 12: Parallel zum Wachstum des Ligaments bildet sich neuer Knochen.
Abb. 13: Nach Monaten ist ein funktionelles Parodont aus Zahnwurzelzement, Parodontalligament und Alveolarknochen vollständig regeneriert
Trend zur Minimalinvasion
Viele Parodontalpatienten, insbesondere wenn sie in Spezialistenzentren behandelt werden, weisen weit fortgeschrittene Erkrankungsstadien auf. Deshalb kommen bei ihnen vorrangig mikrochirurgische parodontaltherapeutische Techniken zum Einsatz, bei denen sich im Rahmen einer augmentativen Therapie mit Emdogain® in Kombination mit Spacern/Knochenersatzmaterialien oder Kollagenmatrizes gute Resultate erzielen lassen. Neben den überzeugenden Ergebnissen aus der klinischen Praxis sprechen auch Studiendaten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten für den Einsatz von Emdogain® [19][23]. In diesem Zeitraum hat ein Prozess stattgefunden, in dem ein Trend hin zu minimalinvasiveren Behandlungsansätzen zu beobachten ist.
Emdogain® FL für Anwendungen ohne Lappenpräparation
In den 1990er Jahren basierten die klassischen regenerativen Therapien noch allein auf dem Prinzip der mechanischen Barriere (Abbildung 14) und waren vorrangig techniksensitiv, wovon in vielen Fällen der Erfolg abhing. Zudem musste die operativ geschaffene Situation vom Patienten innerhalb der Regenerationsphase „stabil“ gehalten werden. Eine suffiziente Ruhigstellung im Mundraum war jedoch, allein schon wegen Nahrungsaufnahme, Sprechen und Mimik schlichtweg unmöglich.
Abb. 14: Klassischer Zugang der 1990er Jahre mit Applikation einer resorbierbaren Membran als mechanische Barriere über einem vertikalen Knochendefekt zwischen einem Front- und Eckzahn
Neue Behandlungsansätze zielten auf ein minimalinvasiveres Vorgehen ab, die neben dem klinischen Behandlungserfolg auch weiche Faktoren, wie z. B. die Patientenakzeptanz, berücksichtigten, was die Bereitschaft zur Inanspruchnahme einer Therapieform erfahrungsgemäß deutlich steigert. Gleichzeitig wird Anwendenden eine zum klassischen parodontalchirurgischen Vorgehen alternative Lösung angeboten, mit denen das anvisierte Ziel „einfacher“, schneller, unblutiger und somit nicht-chirurgisch erreicht werden kann. Seit Anfang 2019 steht mit Emdogain® FL (flapless) eine Applikationsform für Anwendungen ohne vorherige Lappenpräparation zur Verfügung.
Mehrere Untersuchungen belegen bei Zahnfleischtaschen mit Sondiertiefen ab 5 mm nicht nur eine vergleichbare Effektivität im Vergleich zur regenerativen Chirurgie, sondern auch eine besonders große Patientenfreundlichkeit [1][7][26].
Beim Einsatz des Schmelzmatrixderivats bleiben dem Patienten postoperative Komplikationen erspart und Schmerzen und Schwellungen können etwa um die Hälfte reduziert werden. Patienten berichten immer wieder von fast vollständiger Schmerzfreiheit am Folgetag des Eingriffs, sehr selten werden Schmerzmittel benötigt. Darüber hinaus konnten GRAZIANI et al. zeigen, dass der Einsatz von Emdogain® zu einer geringeren Fibrinolyse und einer besseren parodontalen Heilung tiefer Taschen führt [8].
Nach der Applikation wirkt das Präparat zunächst antibakteriell und fördert eine deutlich schnellere Anhaftung der Fibroblasten an die Wurzeloberfläche. Dadurch werden Anlagerung von Zellen, Umbau und Konsolidierung von Gewebe und Proliferation gefördert und ein neues parodontales Attachment erreicht [4][6][10][12][25]. Bemerkenswert ist darüber hinaus die schnellere primäre Wundheilung nach der Anwendung des Schmelzmatrixderivats. Auf die gereinigte Wurzeloberfläche aufgetragen, begünstigt Emdogain® die Regeneration des Knochendefekts im Zeitraum von bis zu drei Jahren [21]. In der Studie von GRAZIANI et al. fand sich auch eine Verringerung der Notwendigkeit weiterer Behandlungen einschließlich chirurgischer Verfahren um bis zu 32 % [8].
Das ist zum einen eine gute Botschaft für Patienten: Erfahrene Behandler wissen, dass kein Patient eine parodontalchirurgische Therapie vorzieht, wenn es minimalinvasivere Möglichkeiten der Behandlung gibt. Zum anderen erleichtert es auch Zahnärzten die Praxisroutine, denn im täglichen Betrieb kommt es darauf an, dass der Patient einen Behandlungsansatz auch bereitwillig akzeptiert und langfristig kooperiert – Stichwort „Patientenadhärenz“. Nur so kann das Therapieziel erreicht und langfristig gehalten werden.
Indikation und Vorgehen
Die Anwendungsbereiche von Emdogain® und Emdogain® FL gehen fließend ineinander über, wobei der Indikationsbereich der Flapless-Variante vor allem bei von Alveolarknochen begrenzten, schmalen, vertikalen parodontalen Defekten mit Sondiertiefen von ≥ 5 mm einzuordnen ist (Abbildung 15). Auch bei Angstpatienten oder jenen mit erhöhter Blutungsneigung, bei der Einnahme von Antikoagulantien oder unter Bisphosphonattherapie bietet sich die Anwendung an. Entscheidend für die erfolgreiche Regeneration unter dem Einsatz von Emdogain® FL ist die korrekte Applikation in die Tiefe der Tasche auf einer trockenen, blutfreien und zuvor mit EDTA-Gel konditionierten Wurzeloberfläche – bei tiefen, steilen, vertikalen und schmalen Parodontaldefekten durchaus eine Herausforderung für den Therapeuten.
Zudem ist die vorherige subgingivale Instrumentierung obligat, denn eine bindegewebige Regeneration, ein Reattachment, ist nur an einer „sauberen“ biokompatiblen Wurzel möglich [5][16].
Ist die „Güte“ der Wurzeloberflächenbearbeitung exzellent, darf der Behandler zusätzliche Effekte erwarten. Um das Einbringen möglichst tief am Boden der Tasche zu erleichtern, wurde für die geschlossene Therapie mit Emdogain® FL ein spezieller graziler Applikator entwickelt.
Problem Rauchen
Rauchen ist zwar keine absolute Kontraindikation für die Anwendung von Emdogain® FL, doch verschlechtert es das therapeutische Gesamtresultat. Daher ist bei Rauchern eine Kurzintervention zum Thema Rauchstopp obligat [17][18]. Lässt sich die Suchtproblematik nicht überwinden, werden Raucher mit einer Rauch-Schutz-Tiefziehfolie ausgestattet, um dennoch bestmögliche Ergebnisse zu erreichen. Diese überdeckt die komplette Zahnreihe und die Gingiva der betroffenen Region, um zumindest den Hauptstrom des Zigarettenrauchs nicht direkt auf die behandelten Bereiche treffen zu lassen. Welchen Effekt dieses Hilfsmittel auf die langfristige Stabilität der Parodontalgesundheit hat, ist bisher nicht systematisch untersucht. Die klinische Erfahrung zeigt, dass diese Maßnahme einen Teil zum Behandlungserfolg betragen kann.
Ein oder zweizeitiges Behandlungsprotokoll?
Ein möglicher Weg ist das einzeitige Verfahren in Kombination mit einem antiinfektiösen ultrasonic Debridement (subgingivale Ultraschallinstrumentierung). Die zweizeitige Herangehensweise mit zeitlich nachfolgender Regeneration und Emdogain® FL-Applikation bietet eine höhere Sicherheit, das angestrebte Behandlungsergebnis zu erreichen. Hierbei treten seltener Blutungen auf, was nachfolgend das sensitive Handling wesentlich vereinfacht. Das Prozedere benötigt Zeit, denn zunächst sollte das infektiöse Geschehen kontrolliert werden, bevor andere Therapieschritte die Situation verbessern oder stabilisieren können. Nachfolgend tritt der Patient in die lebenslange Behandlungsphase der unterstützenden parodontalen Nachsorge ein. Hier wird der parodontale Status Quo (Sondiertiefen und prozentuale Entzündung) regelmäßig evaluiert und weitere Therapieschritte bedarfsweise geplant.
Fazit
Die Volkskrankheit Parodontitis stellt die Zahnmedizin langfristig vor erhebliche Herausforderungen, Sekundärfolgen dieser chronisch-entzündlichen Erkrankung für andere Organsysteme sind zu erwarten. Die Aufklärung der Bevölkerung über den Ernst dieser Krankheit und deren Prävention muss intensiviert werden. Im Erkrankungsfall sind Schmelzmatrixproteine als Alternative zur bzw. als Ergänzung der parodontalchirurgischen Therapie geeignet, auch außerhalb spezialisierter Zentren den Patienten ein qualifiziertes Behandlungsangebot zu unterbreiten.
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Bildquellen: Abbildungen 1–5, 14, 15: Dr. Gutsche, Koblenz; 6–13: Fa. Straumann, Freiburg.
Hinweis: Ein Casereport zum gleichen Thema erscheint im nächsten Heft.
Interessenkonflikte:
Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts Submitted to Biomedical Journals der ICMJE (International Committee of Medical Journal Editors) bestehen.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Gutsche G, Boros G: Schmelzmatrixproteine zur nichtchirurgischen Regeneration einer Parodontitis – non-invasiv und patientenfreundlich. WMM 2022; 66(11); 366-372.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-44
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Gregor Gutsche
Sanitätsversorgungszentrum Idar-Oberstein
Am Rilchenberg 30, 55743 Idar-Oberstein
E-Mail: gregorgutsche@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Gutsche G, Boros G: [Enamel matrix proteins for non-surgical regeneration of periodontitis – non-invasive and patient-friendly]. WMM 2022; 66(11); 366-372.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-44
For the authors
Lieutenant Colonel (DC) Dr. Gregor Gutsche
Medical Clinic Idar-Oberstein
Am Rilchenberg 30, D- 55743 Idar-Oberstein
E-Mail: gregorgutsche@bundeswehr.org