Bericht von der AMSUS Tagung
Die „Association of Military Surgeons of the United States“ (AMSUS) ist eine gemeinnützige Vereinigung, die Bildungs- und zertifizierte Weiterbildungsangebote anbietet, um Gesundheitsfachkräfte der USA bei ihren Aufgaben in den Ministerien für Verteidigung- und Veteranenangelegenheiten, Gesundheitsdienste und Heimatschutz zu unterstützen. AMSUS versteht sich auch als Sprachrohr der aktiven US-amerikanischen Sanitätsoffiziere sowie der Reservisten. Die Vereinigung wurde 1891 gegründet und im Jahr 1903 offiziell durch den US-Kongress anerkannt. Derzeit wird die etwa 5 000 Mitglieder starke Vereinigung durch Brigadier General MC John M. Cho geleitet (https://www.amsus.org). Neben verschiedenen regionalen Veranstaltungen sind eine jährlich stattfindende Konferenz sowie die wissenschaftliche Fachzeitschrift „Military Medicine“ ihre zwei wesentlichen Publikationsorgane.
Die „Military Medicine“ wurde im Jahr 1891 erstmals aufgelegt und ist mit einem Journal Impact Faktor (JIF) von 1,563 Punkten für das Jahr 2021 gelistet (zum Vergleich: Bis auf das Deutsche Ärzteblatt gibt es wenige deutschsprachige humanmedizinische Fachzeitschriften mit einem JIF > 1,5 Punkten). Bei den in der Zeitschrift veröffentlichten Artikeln handelt es sich um begutachtete wissenschaftliche Arbeiten, Fallberichte und Leitartikel. Das Ziel von „Military Medicine“ ist es, das Bewusstsein für die föderale und internationale Militär-/ Einsatzmedizin zu fördern, indem ein Forum für die Diskussion gemeinsamer Ideen und Probleme bereitgestellt wird, welches sowohl für die US-föderale, die militärische als auch für die internationale Gesundheitsversorgung relevant ist.
Die AMSUS-Jahrestagung bringt Angehörige und Führungskräfte aller Gesundheitsfachberufe zusammen, die sich mit der öffentlichen Gesundheit beschäftigen. Demnach werden nicht nur wehrmedizinisch relevante Themen, sondern – und das ist besonders hervorzuheben – Themen, die sich mit der staatlichen Daseinsvorsorge, der Vorsorge für Katastrophen oder dem Gesundheitssystem befassen, behandelt. Ziel der Jahrestagung ist die gegenseitige Information über aktuelle Trends, Innovationen und Veränderungen in den USA. Aus Sicht des internationalen Besuchers erscheint hier das sprichwörtliche „über den Tellerrand blicken“ wesentlich.
AMSUS Jahrestagung 2023
In den vergangenen zwei Jahren musste der Kongress pandemiebedingt ausfallen bzw. fand lediglich als virtuelle Veranstaltung statt. Dieses Jahr wurde er erstmals wieder in Präsenz vom 13. bis 16. Februar 2023 in National Harbour (MA), ca. 10 km südlich von Washington DC, abgehalten. An vier Tagen konnten sich über 1 700 Teilnehmer aus 18 Nationen in vier parallelen Sitzungstracks informieren und mit Industriepartnern sowie diversen Regierungs- und nicht-Regierungs-Organisationen austauschen. Zusätzlich fand eine wissenschaftliche Posterpräsentation mit etwa 160 Forschungsarbeiten US-amerikanischer und internationaler Teilnehmer statt.
Der Stellenwert der Tagung im US-amerikanischen Militär-/Gesundheitssystem zeigte sich unter anderen an den geladenen Referenten: Neben den drei Inspekteuren der Sanitätsdienste der drei Teilstreitkräfte (TSK) (siehe Abbildung 1) referierte der Präsident der American Medical Association, die das Pendant der Deutschen Ärztekammer darstellt, sowie weitere Vertreterinnen und Vertreter staatlicher US-Behörden in geladenen Plenumsdiskussionen.
Abb. 1: Tri-Service Plenary am 16.2.23 auf der Jahrestagung der AMSUS. Von links nach rechts in der Diskussion: LTG MC R. Scott Dingle, Army Surgeon General and Commanding General, US Army Medical Command, RADM MC Bruce L. Gillingham, Navy Surgeon General, Lt Gen MC Robert I. Miller, Air Force Surgeon General and Space Force Surgeon General
Die angereiste 12-köpfige deutsche Delegation setzte sich aus Vertreterinnen und Vertretern klinischer Fächer wie Neurochirurgie, Chirurgie und Anästhesie, dem NATO-Centre of Excellence in Budapest sowie dem Chef des Stabes Kdo SanDstBw, Generalstabsarzt Dr. Norbert Weller, zusammen. Geleitet wurde sie durch den Inspekteur des Sanitätsdienstes, Generaloberstabsarzt Dr. Ulrich Baumgärtner. Auf dem Kongress bot sich die Chance für einen umfassenden Blick auf die geopolitische Lage aus US-amerikanischer Sicht sowie auf die Unterschiede des US-amerikanischen (militärmedizinischen) Gesundheitssystem zum eigenen deutschen System.
Die bereits getätigte und geplante Neuausrichtung der US-Streitkräfte auf den Kriegsschauplatz der Zukunft war ein mehrfach aufgegriffenes Thema. Nationale/europäische Bedürfnisse wie die Stärkung der NATO-Einsatzbereitschaft in Europa wurden zwar adressiert, im Fokus des Kongresses stand jedoch ein potenzielles Aufmarschgebiet im Indopazifik (z. B. „The Changing Character of War“, Maj Gen Paul Friedrichs, Joint Staff Surgeon und „Essentials for Transforming Healthcare in the 21st Century“, Dr. Jonathan Woodson, President of the Uniformed Services University for the Health Services). Hierzu wurde festgehalten, dass die Probleme der Gegenwart nicht mit dem Vorgehen, respektive mit Konzepten der Vergangenheit lösbar sind – auch wenn diese sich seinerzeit bewährt haben. Einzig an der multinationalen Aufstellung von Kampfverbänden müsse zwingend festgehalten werden. Folglich muss aus US-amerikanischer Sicht zwingend in internationale Interoperabilität von Material, Ausbildung und medizinischen Versorgungskonzepten sowie die Verfügbarkeit von Patientendaten und deren auf KI (künstliche Intelligenz) gestützten Auswertung investiert werden. Daten und Datenverarbeitung als Basis der zukünftigen (Versorgungs-)Strategie setzen eine suffiziente Cybersicherheit voraus, welche durchgängig vom Ort der Verwundung/Erkrankung über Role I, II, III bis zur definitiven Versorgung und Rehabilitation im Heimatland gewährleistet sein müsse. Die klinische Versorgung der Patientinnen und Patienten setzte gemäß US-Strategie eine relevante Beteiligung des zivilen Gesundheitssystems voraus. Diesbezüglich wurde davor gewarnt, dass die medizinischen Kompetenzen zur Versorgung von thermomechanischen Kombinationsverletzungen sowie durch Hochgeschwindigkeitsprojektile im zivilen Gesundheitssektor aktuell wieder verloren gehen. Seitens der General Surgeons der drei TSK wird daher eine bessere Vernetzung mit Reservisten im zivilen Gesundheitssystem gefordert. Zusätzlich erscheint es aus US-amerikanischer Sicht erstrebenswert, die von den Streitkräften betriebenen Krankenhäuser (n=55 Hospitals, davon n=13 Major Medical Centers) nicht nur zur Versorgung der eigenen Soldaten, deren Angehörigen und Veteranen zu nutzen, sondern sie z. B. auch in die zivile (Trauma-)Versorgung (Anmerkung: wie in Deutschland etabliert) zu integrieren. In diesem Themenbereich wurde immer wieder angesprochen und kontrovers diskutiert, welche Vorteile, Risiken, Chancen und Möglichkeiten ein zentraler Sanitätsdienst haben könnte.
Als Vertreter der deutschen Delegation nahm Generalstabsarzt Dr. Weller am Panel “Medical Enablers – Enhancing the militaries ability to protect and sustain forces domestically and internationally through force health protection” teil und trug zum Thema „Rolle und Aufgaben der Gesundheitsversorgung bzw. des Gesundheitsschutzes in modernen Streitkräften“ vor. Er stellte zunächst die erfolgreiche Integration des militärischen Gesundheitssystems in das zivile Gesundheitswesen vor und hob vor allem die durch Einsatzerfahrungen gewonnenen Spezialfähigkeiten des Sanitätsdienstes hervor, der in Krisen- und Katastrophenlagen ein großer Gewinn für die zivile Patientenversorgung ist. Anschließend betonte er jedoch auch die Notwendigkeit, über die Fähigkeiten der notfallmedizinischen Versorgung und der ersten schnellen Einsatzchirurgie hinaus weitere Aspekte der Gesundheitsversorgung zu berücksichtigen. Dazu gehört unter anderem Force Health Protection, also die Auswertung medizinischer, biologischer, epidemiologischer, umweltmedizinischer und weiterer relevanter Erkenntnisse im Sinne eines vorbeugenden Gesundheitsschutzes. Durch die strukturelle Kopplung der drei in München ansässigen Institute des des Medizinischen ABC-Schutzes mit dem Baustein Gesundheitsschutz- bzw. Fähigkeiten der Force Health Protection soll die Schnittstellenfähigkeit mit dem zivilen Sektor, national wie international und damit hinsichtlich potentieller LV/BV-Szenarien verbessert werden. Die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Beratung bei der Vorbereitung von Entscheidungen innerhalb der Bundeswehr, der Bundesregierung, aber auch der NATO (Differenzierung von natürlichen Ausbrüchen versus forcierte Ausbrüche, Nachweis von C-Kampfstoffen, Unterstützung bei Strahlenunfällen) kann auf diese Weise ausgebaut und die Rolle Deutschlands als Framework Nation gefestigt werden.
Low Titer Null negative Vollblut und Prolonged Casualty Care
Diese eher globale und strategische Grundausrichtung der AMSUS Tagung 2023 wurde durch z.T. sehr konkrete, fachlich medizinische Themen unterbrochen:
In einigen diesen Beiträgen wurden Themen der Role I Versorgung erörtert. So spielen in den aus US-amerikanischer Sicht wahrscheinlichsten Szenarien, neben dem bereits erfolgreich in alle Teilstreitkräfte der US-Armee eingeführten
- Tactical Combat Casualty Care (TCCC), die Etablierung von
- Low Titer 0-negative Vollblut-Transfusion am Ort der Erstversorgung durch medizinisches, nicht-ärztliches Personal (z. B. „Valkyrie Training Programm“ der 1st Marine Division), sowie
- die Ausbildung des Role I Personals in „Prolonged Casualty Care“ (PCC)/„Prolonged Field Care“
eine zentrale Rolle. Medizinische und einsatztaktische Limitationen lassen diese für die ersten 72 Stunden entwickelten Versorgungsmodelle der Role I, trotz erkannter Risiken für den individuellen Kameraden, als vorteilhaft erscheinen. Hierzu muss angemerkt werden, dass ein Großteil der Leistungen durch nicht-ärztliches Sanitätspersonal erbracht werden soll (z. B. „Modernizing Role 1 Care for Distributed and EAB Operations (CE) “, LT Tobias Keeney-Bonthrone, NAVRESFORCOM (USN), oder „Bolstering Blood Availability Across the Spectrum of Care for Future Combat Operations in USINDOPACOM (CE)“ LCDR Frederic C Jewett III, USN NavHosp Okinawa JA (USN); CDR Jason B Brill, USN USARMY MEDCOM TAMC (USN); LCDR Russell P Wier, USN NAVMEDCEN SAN CA (USN)). Exemplarisch wurde dargestellt, wie es Erkenntnisse aus dem Trainingsprogramm „Valkyrie“ ermöglichten, dass Soldatinnen und Soldaten des US Marine Corps nach dem Bombenanschlag beim Abzug der Truppen vom Kabul International Airport im August 2021 innerhalb von 37 Minuten etwa 25 Einheiten Low Titer Null negativ Vollblut bereitstellen konnten.
Autonome Patientenversorgung und Transport
Die Themen des taktischen und strategischen Patiententransports wurden zunächst bezüglich Patiententracking und -steuerung aufgegriffen. Im späteren Verlauf des Kongresses wurde auch zu den in Entwicklung befindlichen Methoden des autonomen Patiententransports und/oder KI (künstliche Intelligenz) bzw. telemedizinisch gestützter Patientenversorgung vorgetragen. Referenten postulierten, dass autonome Fahrzeuge nicht nur zu Land, sondern auch in der Luft, speziell in Kombination mit autonomen medizinischen Versorgungssystemen, die Patientenversorgung auf dem Schlachtfeld der Zukunft ähnlich revolutionieren werden, wie es seinerzeit die Einführung des Lufttransportes in Korea und Vietnam ermöglichte. Da autonome Fluggeräte bereits existieren, müsse der Forschungsschwerpunkt nun verstärkt auf die Entwicklung neuer medizinischer Sensoren und angepasster Therapieprinzipien gelegt werden. Die Patientenversorgung ohne direkte humane Beteiligung nicht zeitnah in militärische Versorgungskonzepte zu integrieren wird in der nachfolgenden Diskussion als unethisch adressiert, weil ärztliche und nicht-ärztliche Versorgungskapazitäten absehbar nicht ausreichen werden („Aeromedical Evacuation and En Route Care Including Technologies for Automated Casualty Care and Autonomous Patient Transport“, Mr. John Ramiccio, M.S. National Security and Strategic Studies; Mr. Nathan Fisher, M.S. in Mechanical Engineering; COL James Jones und „Surgical Telementoring for Combat Casualty Care: Optimizing the Virtual Medical Center Network (CE) Intuitive“, LTG Telita Crosland, Director, Defense Health Agency; et al.). Aspekte des Datenschutzes, der in Deutschland oft diskutierten Weitergabe medizinischer Informationen, Patientenaufklärung und Einwilligung waren weder in diesen noch in anderen besuchten Sitzungen Themen.
„Large Scale Combat Operations“
Den Kongressabschluss bildete eine offene Vortrags- und Plenardiskussion der Surgeon Generals der drei TSKs zu Mission und Vision sowie zu den Bedarfen für die kommenden kriegerischen Konflikte (vgl. Abbildung 1):
- „Army Medicine in Large Scale Combat Operations (LSCO)“, LTG R. Scott Dingle, Army Surgeon General and Commanding General, US Army Medical Command
- „Navy Medicine’s Transformation to the Maritime Headquarters/Maritime Operations Center (MHQ/MOC) Model RADM“, Bruce L. Gillingham, Navy Surgeon General
- „Preparing Ready Medics for Agile Combat Employment/Multi-Modal Conflict“, Lt Gen Robert I. Miller, Air Force Surgeon General and Space Force Surgeon General
Zusammenfassend bot die Jahrestagung der AMSUS 2023 eine gute Möglichkeit, sich international zu vernetzen und ein besseres Verständnis für die medizinische Versorgung im Heimatland und im Auslandseinsatz des NATO Partners USA zu gewinnen. Die etwa 15 % internationalen Gäste wurden sehr wohlwollend aufgenommen und in alle Diskussionen integriert. Stand Februar 2023 ist das Programm der geladenen Vorträge über die Website der AMSUS (www.amsus.org) abrufbar und ermöglicht so einen tiefergehenden Einblick in alle vier Sitzungstracks des Kongresses.
Verfasser
Oberstarzt Prof. Dr. Martin Kulla
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie
E-Mail: martin.kulla@uni-ulm.de