Lähmung durch Infektion: Akute Neuroborreliose
Paralysis caused by infection: Acute neuroborreliosis
Tamara Beyricha, Ulrich Vortkampa
a Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Abteilung IX – Neurologie
Zusammenfassung
Militärangehörige akquirieren aufgrund ihres Expositionsrisikos wahrscheinlich vermehrt Borreliose-Infektionen. Kenntnisse zum Krankheitsbild sind wichtig, um früh einen abwendbar gefährlichen Verlauf zu erkennen. In dieser Fallbesprechung werden die typische und gefährliche Manifestation einer Neuroborreliose, die dazugehörigen diagnostischen Schritte sowie Therapieoptionen dargestellt.
Schlüsselwörter: Neurologie, Infektiologie, Borreliose
Summary
Due to their exposure soldiers are facing an increased risk to develop Lyme disease. Therefore, knowledge of the clinical picture is important to recognize a preventably dangerous course of this infection. This case report will discuss the typical clinical presentation, diagnostic approach, and therapeutic options of neuroborreliosis.
Keywords: neurology, infectiology, Lyme disease
Fallvorstellung
Anamnese
Ein 60-jähriger Mann stellte sich in unserer Zentralen Notfallaufnahme wegen seit Wochen progredienter Dys- und Hypästhesien der Beine bis zum Bauchnabelniveau sowie einer neuaufgetretenen Schwäche der Beine mit Stolperstürzen vor. Zudem konnte er sich aus der Hocke nicht mehr allein aufrichten. Die Gefühlsstörung hatte nach einem einwöchigen Urlaub auf Sardinien an den Oberschenkeln begonnen. Krankheitsgefühl gab er nicht an. Allerdings bestanden Schmerzen entlang der Wirbelsäule, insbesondere im Liegen. Ein Trauma war nicht erinnerlich. Eine Störung der Stuhl- und Harnkontrolle lag nicht vor. Bei zwei früheren Notaufnahmekontakten hatte der Patient eine Aufnahme abgelehnt, zeigte sich aber bei der aktuellen Vorstellung wegen der Paresen besorgt. An Vorerkrankungen war bei dem selbstständigen Gartenlandschaftsbauer seit der Kindheit eine Epilepsie bekannt, weswegen er Primidon und Pregabalin einnahm. Zu Anfällen war es seit Jahren nicht mehr gekommen. Angegeben wurde das Rauchen von Zigaretten (45 Pack Years) und der gelegentliche Konsum von Alkohol. Die übrige Anamnese war unauffällig. Infektionserkrankungen hatten im Vorfeld nicht bestanden, ein Zeckenbiss war nicht erinnerlich.
Aufnahmebefund
In der klinischen Aufnahmeuntersuchung fiel eine für alle Qualitäten relevante Hypästhesie der Beine bis etwa zum Niveau TH 10 und eine proximal betonte schlaffe mittelgradige Paraparese mit besonderer Betonung der Hüftstrecker auf. An den unteren Extremitäten bestand eine Areflexie (Patellarsehnenreflex, Adduktorenreflex, Achillessehnenreflex) ohne pathologische Reflexmuster. Als Verdachtsdiagnose wurde zunächst eine Myelitis mit inkomplettem thorakalem Querschnitt oder eine akute Polyneuropathie, z. B. im Sinne eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS), vermutet. Es erfolgte die stationäre Aufnahme zur elektrophysiologischen Einordnung, Bildgebungen des Neurocraniums und der spinalen Achse sowie zur zeitnahen Liquordiagnostik.
Tab. 1: Liquorbefund des Patienten an Tag 1 und Tag 6 des stationären Aufenthaltes mit einer lymphozytären Pleozytose sowie einer Erhöhung von Eiweiß, Glukose und Lactat: Die Erhöhung der Zellzahl im Rahmen der zweiten Punktion wurde als postpunktionelle Reizpleozytose gewertet.
Klinischer Verlauf
Die Beschwerden nahmen noch am Aufnahmetag zu. Wegen exazerbierter Schmerzen am Abend mussten Opiate gegeben werden. Nach einer unauffälligen Computertomografie des Kopfes wurde eine Lumbalpunktion mit Liquordiagnostik vorgenommen. In der klinischen Labordiagnostik fand sich neben einer deutlichen Proteinerhöhung auch eine deutliche Zellzahlerhöhung. Daher lag keine für ein GBS typische Befundkonstellation im Sinne einer isolierten Proteinerhöhung (dissociation cytalbuminique), sondern ein entzündliches Syndrom vor. Sofort wurde eine Antibiose mit Ceftriaxon und eine antivirale Therapie mit Aciclovir begonnen. Letztere wurde nach einer negativen panbakteriellen und panviralen Polymerasekettenreaktion (PCR) (auch für Herpesviridae) beendet, zumal sich mit einer neuen bilateralen Fazialisparese das klinische Bild eines Bannwarth-Syndroms ergeben hatte. Deswegen musste vorrangig an eine akute Neuroborreliose gedacht werden.
Elektrophysiologisch zeigten sich im Blinkreflex, den magnetisch evozierten Potenzialen und der Neurografie des Nervus fazialis typische Befunde einer zu dem Zeitpunkt noch linksseitigen Fazialisparese und in den Elektroneurografien unspezifische Veränderungen (Abbildung 1). Insbesondere fanden sich keine Verlangsamungen, keine F-Wellen-Verluste oder pathologischen Dispersionen und keine Leitungsblöcke sowie Verlängerungen der distal-motorischen Latenz. Nur in den Nervi suralis und Peroneus superficialis hatten sich grenzwertig kleine Amplituden gezeigt. Die motorisch evozierten Potentiale waren normal. Die Herzratenvarianz war unauffällig.
Die kranielle Magnetresonenztomografie (cMRT) und Magnetresonanztomografie (MRT) der spinalen Achse zeigten keine Pathologien, auch keine Zeichen einer Polyradikulitis, wie sie bei einer Neuroborreliose vorkommen können. Aus dem Serum und Liquor bestimmte antineuronale Antikörper und Gangliosid-Antikörper waren negativ.
Abb. 1: Magnetisch evozierte Potenziale, Blinkreflex und Neurografie bei dem Patienten mit bilateraler Fazialisparese: (a) Magnetisch evozierte Potenziale des N. Facialis links mit Amplitudenminderung bei der magnetischen Reizung über dem Felsenbein links; (b) Blinkreflex mit fehlenden Komponenten R1 und R2 auf der linken Seite bei Reizung von links und von rechts; (c) Neurografie des N. facialis beidseits mit einer 50 %-igen Amplitudenminderung auf der linken Seite
Unter Fortführung der intravenösen Antibiose kam es initial zu keiner klinischen Besserung, insbesondere der Schmerzen, so dass die Lumbalpunktion wiederholt wurde. Hier war es zu einem weiteren Anstieg der Zellzahl auf 201 Zellen, aber einer normalisierten Liquorchemie gekommen. Unter zusätzlicher gewichtsadaptierter Gabe von Prednisolon nahmen die polyradikulitischen Schmerzen schnell ab. Ein schließlich positiver AK-Index für Borrelien aus der zweiten Liquorprobe bewies die klinische Diagnose einer Neuroborreliose als Ursache für die schmerzhafte Polyradikulitis mit Hirnnervenbeteiligung.
Im Verlauf kam es zu einer zügigen Besserung unter intensiver Physiotherapie. Nach dreiwöchiger Antibiose erfolgte die Entlassung am Gehwagen und fast vollständig regredierter Facialisparese. Die Aufnahme einer stationären Rehabilitation kurze Zeit später gelang bereits ohne Gehhilfen, so dass von einer Restitution ad integrum ausgegangen werden konnte.
Epidemiologie der Neuroborreliose
Die Lyme-Borreliose ist die häufigste vektorassoziierte Erkrankung in den gemäßigten Klimazonen der Nordhalbkugel. Sie wird durch eine Infektion der Spirochäte Borrelia burgdorferi sensu lato verursacht und durch die Zecke Ixodes rizinus übertragen (Abbildung 2). Bisher vorliegende epidemiologische Zahlen sind nicht sicher verlässlich, aber lassen eine Schätzung auf eine Inzidenz von 60 000 bis >200 000 Erkrankungen/Jahr zu [4][9]. Die Borreliose spielt in der Bundeswehr ebenfalls eine epidemiologische Rolle. Im Jahr 2016 gab es aus der Truppe knapp 4 000 Unfallmeldungen wegen eines oder mehrerer Zeckenstiche. Damit sind ca. 20 % aller erfassten Dienst- bzw. Arbeitsunfälle im Jahr 2016 auf Zeckenstiche zurückzuführen. 70 % der Zeckenstiche fanden im Inland auf Truppen- oder Standortübungsplätzen statt [1]. Eine Auswertung durch das Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr ergab für die letzten 5 Jahre durchschnittlich 34,6 Borreliose-Infektionen in der Bundeswehr im Jahr [2].
Abb. 2: (a) Nachträglich kolorierte, rasterelektronenmikroskopische Aufnahme mehrerer Borrelien:
Besonders gut ist die längliche und gewundene Struktur der Borrelien (rot markiert) zu erkennen. Sie gehören zur Gruppe der Spirochäten („Schraubenbakterien“). Zur Fortbewegung drehen sie sich um die eigene Achse (Korkenzieherprinzip). (Quelle: CDC/Claudia Molins, Janice Haney Carr). (b) Weibliche Hirschzecke nach einer Blutmahlzeit (Quelle: CDC/Dr. Gary Alper)
Die vorliegenden Daten der Bundeswehr entsprechen etwa den allgemeinen, wenn auch nicht sicher verlässlichen Prävalenzen in Deutschland. Man würde jedoch erwarten, dass die Prävalenz in der Bundeswehr aufgrund des erhöhten Expositionsrisikos eher höher ist. Dabei stellt sich die Frage, ob die bestehende Meldepflicht einer Borreliose innerhalb der Bundeswehr regelhaft eingehalten wird oder ob die Dunkelziffer höher ist.
Abb. E1 (nur E-Paper): Gemeldete Borreliosefälle in der Bundeswehr 2015-2021
Klinisches Erscheinungsbild
Klinisch wird die Neuroborreliose in frühes disseminiertes Stadium nach Wochen bis Monaten und in ein spätes Stadium nach Monaten bis Jahren eingeteilt [14]. Die typische neurologische Manifestation ist die Meningoradikuloneuritis (Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syndrom). Die Radikulitis äußert sich durch segmentale Schmerzen wechselnder Lokalisation, welche sich nachts verstärken und von brennendem, bohrendem, reißendem Charakter sind. Nach 1–4 Wochen treten bei diesen Patienten neurologische Ausfälle, vor allem in Form von Paresen, aber auch Sensibilitätsstörungen auf. Bei etwa 60 % kommt es zu Hirnnervenausfällen, wobei die Fazialisparese mit 80 % die häufigste Manifestationsform ist; dabei tritt diese häufig bilateral auf. Abgesehen vom N. olfactorius können alle Hirnnerven beteiligt sein [3].
Weitere neurologische Manifestationen können sein [4][14]:
- Polyneuropathie/Polyneuritis (meist in Assoziation mit einer Acrodermatitis chronica atrophicans),
- Beteiligung des zentralen Nervensystems mit spastisch-ataktischen Gangstörungen bis hin zur Para- oder Tetraparese aufgrund einer Myelitis,
- Hirnorganisches Psychosyndrom mit akuter Psychose sowie
- sehr selten: Vaskulitis/Myositis.
Diagnostisches Vorgehen
Der Verdacht auf das Vorliegen einer Neuroborreliose ergibt sich in der Regel klinisch und zieht dann entsprechende Laboruntersuchungen im Rahmen der Serum- und Liquordiagnostik mit sich [4][6]. Bei einer bestehenden Neuroborreliose zeigen sich entzündliche Liquorveränderungen im Sinne einer lymphozytären Pleozytose mit einer deutlichen Eiweißerhöhung und einem, wenn vorhanden, nur gering erhöhtem Laktat. Weiterhin findet sich bei der frühen Manifestation nach etwa zwei Wochen in 80–100 der Fälle eine intrathekale IgM- und bei 60 % eine intrathekale IgG-Synthese [4][5].
Eine Antikörperproduktion in Form von IgM-Antikörpern ist nach 3 Wochen, IgG-AK nach 6 Wochen zu erwarten. Zu beachten ist hierbei, dass bei einer frühen Bestimmung die Antikörper noch negativ sein können. Weiterhin können erhöhte IgM- und IgG-Antikörpertiter auch noch Jahre persistieren, obwohl die Borreliose ausreichend therapiert wurde. Somit ist die Antikörperdiagnostik allein nicht als Beweis für das Vorliegen einer (Neuro-) Borreliose geeignet [5][7] .
Borrelienspezifischer Antikörper-Index (AI)
Dieses Verfahren dient dem Nachweis intrathekaler borrelienspefizischer Antikörper unter Berücksichtigung der Blutliquorschrankenfunktion, die aufgrund der Infektion gestört ist. Dabei ist ein AI von >1,5 als positiv zu interpretieren. In Verbindung mit einem entzündlich veränderten Liquor kann ein positiver AI den Verdacht einer Neuroborreliose bestätigen. Dabei ist zu beachten, dass eine intrathekale Antikörperproduktion erst nach 2 Wochen beginnt, es somit davor zu falsch negativen Befunden kommen kann. Ein AI kann ebenfalls nach einer ausgeheilten Neuroborreliose persistieren [6][11].
Chemokin CXCL13:
Das Chemokin CXCL13 steigt an, noch bevor es zu einer borrelienspezifischen Antikörpersynthese kommt und eignet sich daher zur Diagnostik bei noch sehr frühen und unklaren Krankheitsverläufen. Es kann also erhöht sein, noch bevor es zu einer Pleozytose oder einem positiven Antikörper-Index kommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht um einen borrelienspezifischen Parameter handelt. Er kann auch bei anderen Erkrankungen des ZNS (Neuro-Lues, tuberkulöse Meningitis, Lymphome des zentralen Nervensystems) erhöht sein. Zum Ausschluss einer Neuroborreliose ist CXCL13 besser geeignet als der Antikörperindex, da es einen höheren negativen prädiktiven Wert hat. Weiterhin eignet es sich als Therapieverlaufsmarker, da es nach Beginn der Antibiose zu einem raschen Abfall kommt [4][12][13]. Der direkte Erregernachweis spielt nur inAusnahmefällen eine untergeordnete diagnostische Rolle und sollte nicht als Standarddiagnostik bei dem Verdacht auf eine Neuroborreliose erfolgen [4].
Abb. 3: Sagittal T1w-gewichtete Sequenzen in gleicher Höhe vor und nach i.v.-Kontrastmittel einer Patientin mit einer Polyradikulitis, ebenfalls verursacht durch Borrelien (Bild: BwKrhs Hamburg/Radiologie)
Bildgebung
Eine MRT spielt vor allem zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung eine Rolle. Es gibt zurzeit noch keine ausreichende Studienlage zur Stellung des MRT im Rahmen des diagnostischen Vorgehens bei dem Verdacht auf eine Neuroborreliose. Bei Vorliegen einer Enzephalo-/Myelitis können kontrastmittelaufnehmende Läsionen bestehen [4].
Abb. 4: Diagnostischer Algorithmus bei der frühen Neuroborreliose – S3-Leitlinie Neuroborreliose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [4]
Therapie
Die nachgewiesene Neuroborreliose sollte antibiotisch je nach Alter, Komorbidität und Nebenwirkungsspektrum mit einer der folgenden Substanzen behandelt werden:
- Doxycyclin,
- Ceftriaxon,
- Cefotaxim oder
- Penicillin G.
Die Therapie sollte über einen Zeitraum von 14 bis 21 Tagen erfolgen [4]. Bei der oralen antibiotischen Therapie mit Doxycyclin ist drauf zu achten, dass keine gleichzeitige Einnahme von Milchprodukten erfolgen darf. Weiterhin ist auf die Photosensibilität hinzuweisen [10].
Umstrittene Aspekte der Therapie
Unter der antibiotischen Therapie kommt es zu einer zügigen Beendigung der Erregervermehrung und im besten Fall zu einem zügigen Rückgang der Symptome. Jedoch können die Symptome auch noch 6–12 Monate nach Abschluss der antibiotischen Behandlung persistieren, was kein Zeichen einer insuffizienten Behandlung ist. Sollten nach Beendigung der Therapie neue neurologische Symptome auftreten, ist eine erneute diagnostische Liquorpunktion notwendig. Da der Antikörper-Index wie oben beschrieben lange persistieren kann, kann hier die Bestimmung von CXCL13 hilfreich sein. Eine unkritische erneute antibiotische Therapie ohne Erregernachweis oder ohne erneut ansteigendes CXCL13 sollte keinesfalls durchgeführt werden [4][13].
Post Treatment Lyme Disease Syndrome
Ein kleiner Teil der Patienten berichtet über die Persistenz oder das Hinzutreten neurologischer Symptome trotz leitliniengerechter antibiotischer Therapie. Dabei handelt es sich meist um eine diffuse Beschwerdesymptomatik wie Fatigue, Parästhesien, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Diese werden bei einer Persistenz von über 6 Monaten als Post Treatment Lyme Disease Syndrome (PTLDS) bezeichnet. Aufgrund des Fehlens einer ausreichenden Datenlage definiert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie das PTLDS nicht als eigene Krankheitsentität. Bisher gibt es keinen Hinweis auf eine chronische Neuroborreliose ohne Erregerpersistenz und in den bisher vorliegenden Studien konnte kein vermehrungsfähiger Erreger mehr nachgewiesen werden. Somit besteht in dieser Konstellation die Empfehlung zu einer nochmaligen differentialdiagnostischen Abklärung und zur symptomatischen Therapie. Eine erneute antibiotische Therapie sollte ohne begründende Labordiagnostik nicht erfolgen.
Die Deutsche Borreliose Gesellschaft und die Patientenorganisationen Borreliose und FSME Bund Deutschland, Bundesverband Zeckenkrankheiten und OnLyme-Aktion.org haben unter anderem hierzu ihre Dissenserklärung bzgl. der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) abgegeben [4]. Unserer Recherche zufolge ist dies bisher das erste Mal, dass sich Patientenorganisationen so deutlich gegen eine Leitlinie positioniert haben. Dies erregte auch mediale Aufmerksamkeit, vor allem, nachdem die Endfassung der Leitlinie auch gerichtlich durchgesetzt werden musste. Dennoch investieren viele Betroffene viel Geld in die Behandlung von „Expertenzentren“, die Behandlungen außerhalb der evidenzbasierten Empfehlungen anbieten.
Diskussion und Fazit
In dem geschilderten Fall handelt es sich um einen Landschaftsgärtner, der aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit ein deutlich erhöhtes Expositionsrisiko hatte. Es gibt einen zeitlichen Zusammenhang zu einem Urlaub auf Sardinien, doch kann der nicht erinnerliche Zeckenstich auch bereits in der Vergangenheit stattgefunden haben. Es könnte sich somit um einen zufälligen zeitlichen Zusammenhang handeln [7].
Der Patient wies die typische Manifestationsform einer Neuroborreliose auf: Brennende Scherzen in den Beinen vor allem in Rückenlage passend zu polyradikulitischen Schmerzen. Im Verlauf trat ein zunehmendes schweres sensomotorisches Defizit hinzu sowie eine bilaterale Fazialisparese. Die Liquordiagnostik ergab bei dem Patienten die typische lymphozytäre Pleozytose. Deutlich erhöhte Eiweiß- und Lactatwerte waren nicht typisch, sind aber generelle Konstellationen einer bakteriellen Infektion im Liquor. Im Serum zeigten sich positive IgG-Antikörper für Borrelien und negative IgM-Antikörper, was auch auf eine bereits im Vorfeld durchgemachte klinisch stumme Borrelien-Infektion hindeuten könnte; somit war die Serologie allein nicht wegweisend.
Der negativen PCR für Borrelien, die im Rahmen einer Multiplex-PCR angefertigt worden war, kam bei negativem Befund keine Bedeutung zu. Eine Borrelieninfektion kann mit einer PCR nicht sicher genug ausgeschlossen werden, da diese wegen geringer Sensitivität dazu nicht hinreichend geeignet ist. Der borrelienspezifische Antikörper-Index war mit 18,2 deutlich positiv, traf jedoch erst wenige Tage später ein. Das Chemokin CXCL13 wurde in diesem Fall nicht bestimmt. Auch wenn dieser Marker noch nicht standardisiert ist, gilt er vor allem bei negativem borrelienspezifischen Antikörper-Index als ein wichtiges diagnostisches Kriterium für das Vorliegen einer Neuroborreliose, vor allem im frühen Verlauf. In diesem Fall war die Klinik jedoch eindeutig genug, um an der Therapie trotz noch ausstehendem laborchemischem Beweis festzuhalten. Unser Patient wurde zunächst bei lymphozytärer Pleozytose empirisch mit Ceftriaxon und Aciclovir behandelt, das Aciclovir wurde nach negativer PCR für Herpesviridae und nach Bestätigung der Neuroborreliose abgesetzt und die Therapie mit Ceftriaxon leitlinienkonform fortgeführt.
Kernaussagen
- Der geschilderte Fall zeigt klinisch die vollständige Manifestation einer Neuroborreliose. Hier führte das typische Bild zur korrekten Verdachtsdiagnose, die im Verlauf auch laborchemisch bestätigt werden konnte.
- Neben der normalen Prävalenz besteht wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer für Borrelieninfektionen in der Bundeswehr.
- Die Kenntnis zum Erkrankungsbild ist wichtig, um einen abwendbar gefährlichen Verlauf zu erkennen.
- Der laborchemische Weg zur Diagnostik ist mit Fallstricken versehen. Spätestens beim Verdacht auf eine Neuroborreliose soll frühzeitig neurologische Fachexpertise und Liquordiagnostik hinzugezogen werden.
- Bei korrekter Diagnose und Therapie können auch Verläufe mit schweren Defiziten geheilt werden.
Literatur
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Beyrich T, Vortkamp U: Lähmung durch Infektion: Akute Neuroborreliose. WMM 2023; 67(4): 143-148.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-114
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Ulrich Vortkamp, M.A.
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Klinik IX – Neurologie
Lesser Str.180, 22049 Hamburg
E-Mail: ulrichvortkamp@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Beyrich T, Vortkamp U: [Paralysis caused by infection: Acute neuroborreliosis]. WMM 2023; 67(4): 143-148.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-114
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Dr. Ulrich Vortkamp, M.A.
Bundeswehr Hospital Hamburg
Department IX – Neurology
Lesser Str.180, D-22049 Hamburg
E-Mail: ulrichvortkamp@bundeswehr.org