Schlaganfall-Prävention unter Anwendung künstlicher Intelligenz
Stroke Prevention Using Artificial Intelligence
Frank Stachulskia, Jörg Schönfeldb
a Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik IX – Neurolgie
b Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Ingenieur Medizintechnik
Zusammenfassung
Etwa 250 000 Menschen in Deutschland erleiden im Jahr einen Schlaganfall. Ein solcher ist zum einen eine häufige Todesursache, zum anderen bleiben bei etwa einem Drittel der Patienten dauerhaft zum Teil schwere Behinderungen bestehen.
Ein Schlaganfall ist immer ein Notfall und bedarf der neurologischen Akutversorgung des Patienten. Es ist politisches Ziel, zur Verbesserung der Schlaganfallversorgung zukünftig vermehrt Maßnahmen der Primär- und Sekundärprävention in die Regelversorgung der Krankenkassen aufzunehmen. Hierzu gehören auch Projekte mit Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI).
Die Identifikation gefährdeter Patienten durch die Detektion relevanter Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern (VHF) oder das Erkennen einer transitorisch ischämischen Attacke (TIA) können dazu beitragen, die Häufigkeit von Schlaganfällen zu reduzieren und so schwerwiegende Folgen für den Patienten zu vermeiden. Eine frühzeitige Diagnose der Risiken und die Einleitung einer geeigneten Therapie können in der Summe das Schlaganfallrisiko um bis zu 70 % reduzieren. Im Bundeswehrkrankenhaus Berlin wurde zur Detektion von Vorhofflimmern die AI unterstützte Schlaganfall-Risiko-Analyse (SRA) eingeführt.
Schlüsselwörter: Schlaganfall-Risiko-Analyse, Transitorisch-ischämische Attacke, Vorhofflimmern, Krankenhauszukunftsgesetz, Klinische Entscheidungsunterstützung
Summary
Around 250,000 people in Germany suffer a stroke every year. On one hand, stroke is a frequent cause of death (14th place in ranking), on the other hand, one third of surviving patients experience severe or permanent disability.
A stroke is always an emergency and requires acute neurological care. It is a political intention in Germany to include more primary and secondary prevention measures in the standard care of the health system to improve stroke care in the future. This will also include projects that use artificial intelligence (AI). The identification of patients at risk by detecting relevant cardiac arrhythmias such as atrial fibrillation (AF) or detecting a transient ischemic attack (TIA) can help to reduce the frequency of strokes and thus avoid serious consequences for patients. Early diagnosis of risk factors and initiation of appropriate therapy can, in total, reduce the risk of stroke by up to 70 %. AI-assisted stroke risk analysis (SRA) has been introduced at the Bundeswehr Hospital Berlin for the detection of atrial fibrillation.
Keywords: stroke risk analysis; transient ischemic attack; atrial fibrillation; future hospital law; clinical decision support
Hintergrund
In Deutschland erleiden nach aktuellen Zahlen jährlich ca. 250 000 Menschen einen Schlaganfall [8]. Der Schlaganfall ist zum einen eine häufige Todesursache (Platz 14 im Ranking), zum anderen weist ein Drittel der überlebenden Patienten eine schwere oder andauernde Behinderung auf [10]. Für viele dieser betroffenen Patienten geht der Schlaganfall mit gravierenden Folgen wie körperlichen Lähmungserscheinungen oder dauerhaften Sprachstörungen einher.
Die Bundesregierung hat beschlossen, die Schlaganfallversorgung zukünftig noch deutlich zu verbessern, indem vermehrt Maßnahmen der Primär- und Sekundärprävention in die Regelversorgung der Krankenkassen mit aufgenommen werden [3]. Hierzu gehören auch Projekte, bei denen künstliche Intelligenz zum Einsatz kommt.
Ein Schlaganfall tritt auf, wenn die Blutversorgung des Gehirns vorübergehend oder vollständig gestört ist oder eine Blutung die Funktion des Hirngewebes beeinträchtigt. Infolge der Unterversorgung mit sauerstoffreichem Blut sterben zeitabhängig Nervenzellen in dem betroffenen Gebiet ab, weshalb eine rasche Diagnostik und Therapie zur Verbesserung der Prognose essenziell sind. In Bezug auf die Ursache werden ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle unterschieden.
Ischämischer Schlaganfall
Diese häufigste Art des Schlaganfalls wird durch ein Blutgerinnsel in einer hirnversorgenden Arterie verursacht, welches zu einem Gefäßverschluss und einer Unterbrechung der Durchblutung der von diesem versorgten Hirnbereiche führt. Verursacht wird der ischämische Schlaganfall häufig durch eine Atherosklerose der hirnversorgenden Gefäße, aber auch durch embolische Ereignisse im Rahmen struktureller Herzerkrankungen oder Herzrhythmusstörungen, insbesondere durch paroxysmales Vorhofflimmern (pVHF). Unter einem pVHF, ICD-10 Code 148.9, versteht man eine (anfallsweise) Episode aus plötzlich auftretendem unregelmäßigen Herzschlag. Die Dauer einer Episode, in denen der Vorhof flimmert, kann von einigen Minuten bis zu mehreren Tagen anhalten und verschwindet in der Regel wieder von allein. Eine frühzeitige Diagnose der Risiken und die Einleitung einer geeigneten Therapie können in der Summe das Schlaganfallrisiko um bis zu 70 % reduzieren [6].
Hämorrhagischer Schlaganfall
In etwa 2 von 10 Fällen ist ein Schlaganfall durch die Ruptur eines hirnversorgenden Gefäßes mit Blutung in das Hirngewebe bedingt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff und sekundär zu einem Druckanstieg im Gehirn. Abbildung 1 stellt die beiden Schlaganfalltypen in Korrespondenz mit einer MRT-Bildgebung (A,B,C-ischämischer Schlaganfall) dar.
Manche ischämischen Schlaganfälle werden gar nicht wahrgenommen, da keine eloquenten Hirnbereiche betroffen sind. Diese werden als „stumme Infarkte“ bezeichnet. Eine TIA (transitorisch ischämische Attacke), die auch häufig als „Vorbote“ des Schlaganfalls gilt, zeichnet sich durch eine nur vorübergehende Störung der Blutversorgung aus, sodass Symptome sich wieder komplett zurückbilden.
Abb. 1: Schematische Darstellung von ischämischem und hämorrhagischem Schlaganfall und korrespondierender diagnostisch-radiologischer Bildgebung
Diagnostikverfahren
Krankenhäuser wie das BwKrhs Berlin, die Patientinnen und Patienten mit akutem Schlaganfall versorgen, halten eine interdisziplinäre Diagnostik 24/7 bereit. Zu den häufigsten angewandten Diagnostikverfahren gehören:
- EKG,
- Laboruntersuchungen (u. a. Gerinnung: INR+Quick, Kleines Blutbild: Erythrozyten+Thrombozyten, Elektrolyte: Ca+Na+Ka, Creatininkenase: Troponin+CK),
- Computertomografie (CT inklusive CT-Angiographie und CT-Perfusion),
- Kernspintomografie (MRT),
- Ultraschalluntersuchung der hirnversorgenden Gefäße (Duplex-Sonografie),
- Echokardiografie (transthorakal/transösophageal) sowie
- kardiophysiologische Untersuchungen.
Der Klinik für Neurologie stehen dabei im stationären Setting Monitorbetten mit Patientenmonitoren und einer adäquaten Überwachungszentrale zur leitliniengerechten Akutversorgung zur Verfügung. Abbildung 2 stellt den digitalen Diagnostikverbund der medizinischen Diagnostikverfahren dar.
Stroke Risk Analysis
Neben den aufgeführten diagnostischen Standardmethoden hat sich ein innovatives Verfahren, die Schlaganfall-Risiko-Analyse SRA (Stroke Risk Analysis) durchgesetzt. Das Verfahren wird verwendet, um mehr Patienten mit Vorhofflimmern, einem bedeutsamen Risikofaktor für einen Schlaganfall, möglichst sicher zu erkennen [9]. Die SRA bietet folgende Vorteile:
- Das digitale System identifiziert Patienten mit Risiko für pVHF anhand einer mindestens einstündigen EKG-Aufzeichnung.
- Eine integrierte Künstliche Intelligenz (KI) findet automatisch und zuverlässig vorhandene Episoden von Vorhofflimmern, wobei der einfach zu tragende kleine EKG-Rekorder bis zu 7 Tage Aufzeichnungsmöglichkeit bietet.
- Der automatisierte Algorithmus (AI) unterstützt den Neurologen auf einfachste Weise und in kürzester Zeit bei der gezielten Suche und der erfolgreichen Detektion bei pVHF. Patientinnen und Patienten können von einer aktiven Schlaganfallprävention durch frühzeitiges Erkennen von bisher unbekanntem Vorhofflimmern profitieren.
Methode der SRA
Ziel der SRA ist es, ein pVHF rechtzeitig zu erkennen, um präventiv einen Schlaganfall zu verhindern. Bei einer SRA wird für mindestens eine Stunde ein EKG abgeleitet. Die EKG-Ableitung erfolgt entweder mit einem stationären Patientenmonitor (im Fallbeispiel Philips IntelliVue Patientenmonitor Serie-MX800 und Philips IntelliVue Zentrale PIIC iX) mit in der Zentrale integriertem EKG-Übergabe Modul per File-Sharing Export in die Digitale Medizinische IT-Plattform (MedSAN) der Klinik oder einem speziellen mobilen EKG-Aufzeichnungsrekorder (Langzeit-Holter-EKG) (Abbildung 2).
Das EKG wird im MedSAN im BwKrhs Berlin standardisiert und konfektioniert verarbeitet – bei gleichzeitiger Pseudonymisierung und Verschlüsselung der Patientendaten (Datenschutzkonformität). Über ein digital gesichertes VPN-Gateway mit Cloud-Konnektor nach BSI-Standard über eine durch die BWI1 überwachte Cloudanbindung wird die EKG-Episode zum Dienstleister Apoplex Medical Technologies GmbH mit auf SRA spezialisierter EKG-Auswertung transferiert. Moderne KI-Algorithmen werten das EKG in der Cloud des Herstellers Apoplex Medical aus und senden eine verschlüsselte Befunddatei innerhalb weniger Minuten in ein dediziertes BWI-Mailpostfach der Neurologischen Klinik im BwKrhs Berlin zurück. Das Ergebnis der Analyse dient der klinischen Entscheidungsunterstützung im Kontext weiterer Diagnostikverfahren. Abbildung 3 zeigt die EKG-Ableitung für eine SRA am Fallbeispiel einer Patientenmonitoring Anlage mit einem MX850 Monitor, einer Patientenzentrale des Herstellers Philips versus einem Holter EKG, einem Gatewayserver im MedSAN und dem Transfer (Cloud as a Service Dienst mit Nutzung KI aus der Telekom Cloud des Herstellers Apoplex Medical Technologies GmbH) über einen VPN-Connect der BWI.
Digitale Umsetzung
Die digitale Umsetzung des Projektes erfolgt im Server-Client-Verfahren, in einem sogenannten medizinischen IT-Netzwerk. Dabei kommen folgende Komponenten zum Einsatz:
Server-Umgebung
- Krankenhausinformationsysstem (KIS)-Server (NEXUS-KVI)
- Interoperabilitätsserver (Philips-IOP)
- Datenserver (Philips IBE/Apoplex medical)
Client-Umgebung
- Zentralen-Umgebung (Patientenmonitoring)
- KIS-Arzt-Arbeitsplatzcomputer (APC) versus PACS2-APC (Medizinische APC)
Datensicherheit
Medizinische IT-Netzwerke mit vernetzten Medizinprodukten (EKG-Rekorder, Patientenmonitoring, Computer mit medizinischer Software usw.) müssen nach einer aktualisierten Norm: DIN ISO/IEC 80001–1:2022 vom Februar 2022 risikobetrachtet werden, um die Patientensicherheit und die Sicherheit der Patientendaten zu erhöhen.
Eine Herausforderung besteht darin, alle im Workflow eingesetzten Komponenten an die neuen Anforderungen für eine medizinische Interoperabiltität anzupassen. Dazu traten im Oktober 2021 neue Interoperabilitätsvorgaben mit der Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung – GIGV, in Kraft [2]. Im Sinne dieser Verordnung versteht man die Einhaltung der Vorgaben zur interoperablen Datenverarbeitung medizinischer Daten mit dem Ziel, der Fähigkeit zur Zusammenarbeit verschiedener digitaler Systeme auf den Ebenen:
- Strukturelle Interoperabilität
- Syntaktische Interoperabilität
- Semantische Interoperabilität
- Organisatorische Interoperabilität
Die neuen Anforderungen an die GIGV machen es erforderlich, die medizinischen Daten in einen neuen Standard: FHIR (Fast Healthcare Interoperability Resources) zu überführen, damit diese auch weiteren Gesundheitsanwendungen bereitgestellt werden können. Die Konfektionierung der Medizindaten erfolgt auf einer im MedSAN integrierten Interoperabilitätsplattform (IOP). Die gewonnenen Ergebnisdaten stehen weiteren medizinischen Plattformen (z. B. EKG-Befundplattform, Patientendatenmanagementsystem (PDMS) bei Verlegung auf die Intensivstation oder radiologische 3D-CT-Befundung) interoperabel zur Verfügung und werden in Zukunft zur Auswertung an ein digitales System zur klinischen Entscheidungsunterstützung CDSS (Clinical Decision Support System) weitergeleitet.
Blick in die nahe Zukunft
Weitere digitale Anwendungen verfolgen in Zukunft das Ziel, die Daten dem behandelnden Arzt auf Grundlage aller medizinischen Daten und dem Hintergrundwissen einer angeschlossenen wissenschaftlichen medizinischen Datenbank in der Art aufzubereiten, dass potenziell eine evidenzbasierte Behandlung mit individualisierter Patientenmedizin möglich wird [1]. Der „Kliniker“ würde eine digital generierte Behandlungsempfehlung auf Plausibilität prüfen und die weitere Behandlung individualisiert freigeben. Alle digitalen Daten könnten dann in einer elektronischen Patientenakte/Gesundheitsakte (ePA) zusammengeführt werden [7]. Die Daten für die ePA stehen für eine interdisziplinäre weitere Behandlung sowohl den klinikeigenen Mitarbeitern als auch nach der Entlassung des Patienten, dem Truppen- oder Hausarzt sowie den mitbehandelnden (auch externen) Fachärzten zur Verfügung. Die Daten können digital interoperabel über einen BWI-gematik3-Konnektor im BwKrhs Berlin der Telematikinfrastruktur (TI) der gematik verschlüsselt bereitgestellt werden. Absicht des Bundesgesundheitsministeriums ist es, dass die digitale Gesundheitsakte (EMR – Electronic Medical Record oder EHR – Electronic Health Record) des Krankenhauses in Kürze über eine Interoperabilitätsplattform (IOP) den nachbehandelnden Ärzten zur Verfügung gestellt wird. Abbildung 4 stellt den kausalen Zusammenhang zwischen der weiteren Verwendung eines SRA-Befunds innerhalb eines CDSS und der Ablage in einem EMR/EHR dar.
Abb. 4: Bearbeitung eines SRA-Befundes mit einem CDSS und Bereitstellung über IOP
Fazit
Die Schlaganfall-Risiko-Analyse, die im BwKrhs Berlin und BwKrhs Ulm genutzt wird, ist ein modernes Verfahren mit KI-Unterstützung, das die Diagnostik von Patientinnen und Patienten in der Schlaganfallsekundärprävention unterstützt. Die SRA-Analyse kann entscheidend dazu beitragen, das individuelle Schlaganfallrisiko signifikant zu senken. Neben der Einführung cloudbasierter Auswerteverfahren müssen regulatorische Anforderungen (MPDG, MPBetreibV, DSGVO, BSI, B3S usw.) an alle im Prozess beteiligten Medizinprodukte erfüllt werden. Für die Nutzung von KI als Medizinprodukt hat die EU im April 2021 die Webseite: „Neue Vorschriften für künstliche Intelligenz – Fragen und Antworten“ veröffentlicht [4]. Darin kündigt sie an, KI in allen Branchen risikobasiert regulieren und die Einhaltung der Vorschriften überwachen (lassen) zu wollen [5]. Es bleibt abzuwarten, wie diese komplexe Überwachung praktisch anwendbar umgesetzt werden kann, insbesondere unter dem Blickwinkel, dass bereits unzählige Apps mit KI-Algorithmus zur Anwendung kommen.
Zusätzlich zu den ohnehin technisch aufwändigen Betriebsbedingungen für die dargestellte Anwendung der Schlaganfallprävention mittels SRA müssen bei Cloudanwendungen umfangreiche Vorgaben zur Einhaltung des Patientendatenschutzes nach der DSGVO und der Cybersecurity nach Vorgaben des BSI und in Zusammenarbeit mit der BWI umgesetzt werden. Die Verantwortung für den sicheren Betrieb moderner medizinischer Anwendungen liegt nach der MPBetreibV beim Betreiber des Bundeswehrkrankenhauses. Das Ergebnis der SRA-Analyse dient der klinischen Entscheidungsunterstützung, kann aber die ärztliche Diagnose und Therapieentscheidung (noch) nicht ersetzen. Das Ergebnis kann aber zu einer Therapieentscheidung herangezogen werden. Dort, wo jede Sekunde zählt, um dem Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen, werden in Zukunft cloudbasierte Anwendungen den Kliniker in den Bundeswehrkrankenhäusern unterstützen. Das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) im Fokus der Umsetzung moderner digitaler Projekte dient als Innovationstreiber, damit Krankenhäuser sich modernen digitalen Analyseverfahren öffnen können. Die Teilhabe der BwKrhs und der gesamten Gesundheitsversorgung in der Bundeswehr an der Digitalen Transformation des Gesundheitswesens ist essenziell für den Sanitätsdienst.
Literatur
- Bundesministerium für Gesundheit: Evidenzbasierte Medizin. , letzter Aufruf 12.Februar2023 mehr lesen
- Bundesministerium für Gesundheit: Interoperabilität 2.0 auf Basis der Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung. , letzter Aufruf 23.Februar 2023 mehr lesen
- Deutsche Ärzteschaft: Ärzte sehen Verbesserungsbedarf bei Schlaganfallnachsorge. , letzter Aufruf 12.Februar 2023 mehr lesen
- Europäische Kommission: Neue Vorschriften für künstliche Intelligenz – Fragen und Antworten. , letzter Aufruf 23. Februar 2023 mehr lesen
- Europäische Kommission: Proposal for a Regulation laying down harmonised rules on artificial intelligence. EC 2021; , letzter Aufruf 23.Februar 2023 mehr lesen
- Neurologienetz: Schlaganfall Risikoanalyse., letzter Aufruf 23.Februar 2023 mehr lesen
- praktisch Arzt Magazin: ePA, So funktioniert die elektronische Patientenakte.< https://www.praktischarzt.de/magazin/epa-so-funktioniert-die-elektronische-patientenakte/>, letzter Aufruf 12. Februar 2023 mehr lesen
- Strahmeyer JT, Stubenrauch S, Geyer S, Weissenborn K, Eberhard S:Häufigkeit und Zeitpunkt von Rezidiven nach inzidenten Schlaganfall. Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 711-717. mehr lesen
- Theis G: Schlaganfallprävention: Vorhofflimmern als Risikofaktor erkennen. Dtsch Arztebl 2009; 106(18): [26]. mehr lesen
- von Büdingen H, Teil M: Schlaganfall - Zahlen, Daten, Fakten. , letzter Aufruf 23.Februar 2023. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Stachulski F, Schönfeld J: Schlaganfall-Präventionunter Anwendung künstlicher Intelligenz. WWM 2023; 67(4): 137-142.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-116
Für die Verfasser
Medizinal Direktor Dr. med. Frank Stachulski
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Klinik IX – Neurologie
Scharnhorststraße 13, 10115 Berlin
E-Mail: frankstachulski@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Stachulski F, Schönfeld J: [Stroke prevention using artificial intelligence]. WWM 2023: 67(4): 137-142.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-116
For the Authors
Medicine Director Dr. med. Frank Stachulski
Bundeswehr Hospital Berlin
Department IX – Neurology
Scharnhorststraße 13, 10115 Berlin
E-Mail: frankstachulski@bundeswehr.org
1 Der Betrieb der IT-Infrastruktur der Bundeswehr und auch der BwKrhs erfolgt durch das Bundeswehr-IT-Dienstleistungszentrum (BWI)
2 PACS = Picture Archiving and Communication System: Datenspeichersystem für Bilddaten, z. B. Röntgenbilder
3 Gematik = Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte GmbH
Lähmung durch Infektion: Akute Neuroborreliose
Paralysis caused by infection: Acute neuroborreliosis
Tamara Beyricha, Ulrich Vortkampa
a Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Abteilung IX – Neurologie
Zusammenfassung
Militärangehörige akquirieren aufgrund ihres Expositionsrisikos wahrscheinlich vermehrt Borreliose-Infektionen. Kenntnisse zum Krankheitsbild sind wichtig, um früh einen abwendbar gefährlichen Verlauf zu erkennen. In dieser Fallbesprechung werden die typische und gefährliche Manifestation einer Neuroborreliose, die dazugehörigen diagnostischen Schritte sowie Therapieoptionen dargestellt.
Schlüsselwörter: Neurologie, Infektiologie, Borreliose
Summary
Due to their exposure soldiers are facing an increased risk to develop Lyme disease. Therefore, knowledge of the clinical picture is important to recognize a preventably dangerous course of this infection. This case report will discuss the typical clinical presentation, diagnostic approach, and therapeutic options of neuroborreliosis.
Keywords: neurology, infectiology, Lyme disease
Fallvorstellung
Anamnese
Ein 60-jähriger Mann stellte sich in unserer Zentralen Notfallaufnahme wegen seit Wochen progredienter Dys- und Hypästhesien der Beine bis zum Bauchnabelniveau sowie einer neuaufgetretenen Schwäche der Beine mit Stolperstürzen vor. Zudem konnte er sich aus der Hocke nicht mehr allein aufrichten. Die Gefühlsstörung hatte nach einem einwöchigen Urlaub auf Sardinien an den Oberschenkeln begonnen. Krankheitsgefühl gab er nicht an. Allerdings bestanden Schmerzen entlang der Wirbelsäule, insbesondere im Liegen. Ein Trauma war nicht erinnerlich. Eine Störung der Stuhl- und Harnkontrolle lag nicht vor. Bei zwei früheren Notaufnahmekontakten hatte der Patient eine Aufnahme abgelehnt, zeigte sich aber bei der aktuellen Vorstellung wegen der Paresen besorgt. An Vorerkrankungen war bei dem selbstständigen Gartenlandschaftsbauer seit der Kindheit eine Epilepsie bekannt, weswegen er Primidon und Pregabalin einnahm. Zu Anfällen war es seit Jahren nicht mehr gekommen. Angegeben wurde das Rauchen von Zigaretten (45 Pack Years) und der gelegentliche Konsum von Alkohol. Die übrige Anamnese war unauffällig. Infektionserkrankungen hatten im Vorfeld nicht bestanden, ein Zeckenbiss war nicht erinnerlich.
Aufnahmebefund
In der klinischen Aufnahmeuntersuchung fiel eine für alle Qualitäten relevante Hypästhesie der Beine bis etwa zum Niveau TH 10 und eine proximal betonte schlaffe mittelgradige Paraparese mit besonderer Betonung der Hüftstrecker auf. An den unteren Extremitäten bestand eine Areflexie (Patellarsehnenreflex, Adduktorenreflex, Achillessehnenreflex) ohne pathologische Reflexmuster. Als Verdachtsdiagnose wurde zunächst eine Myelitis mit inkomplettem thorakalem Querschnitt oder eine akute Polyneuropathie, z. B. im Sinne eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS), vermutet. Es erfolgte die stationäre Aufnahme zur elektrophysiologischen Einordnung, Bildgebungen des Neurocraniums und der spinalen Achse sowie zur zeitnahen Liquordiagnostik.
Tab. 1: Liquorbefund des Patienten an Tag 1 und Tag 6 des stationären Aufenthaltes mit einer lymphozytären Pleozytose sowie einer Erhöhung von Eiweiß, Glukose und Lactat: Die Erhöhung der Zellzahl im Rahmen der zweiten Punktion wurde als postpunktionelle Reizpleozytose gewertet.
Klinischer Verlauf
Die Beschwerden nahmen noch am Aufnahmetag zu. Wegen exazerbierter Schmerzen am Abend mussten Opiate gegeben werden. Nach einer unauffälligen Computertomografie des Kopfes wurde eine Lumbalpunktion mit Liquordiagnostik vorgenommen. In der klinischen Labordiagnostik fand sich neben einer deutlichen Proteinerhöhung auch eine deutliche Zellzahlerhöhung. Daher lag keine für ein GBS typische Befundkonstellation im Sinne einer isolierten Proteinerhöhung (dissociation cytalbuminique), sondern ein entzündliches Syndrom vor. Sofort wurde eine Antibiose mit Ceftriaxon und eine antivirale Therapie mit Aciclovir begonnen. Letztere wurde nach einer negativen panbakteriellen und panviralen Polymerasekettenreaktion (PCR) (auch für Herpesviridae) beendet, zumal sich mit einer neuen bilateralen Fazialisparese das klinische Bild eines Bannwarth-Syndroms ergeben hatte. Deswegen musste vorrangig an eine akute Neuroborreliose gedacht werden.
Elektrophysiologisch zeigten sich im Blinkreflex, den magnetisch evozierten Potenzialen und der Neurografie des Nervus fazialis typische Befunde einer zu dem Zeitpunkt noch linksseitigen Fazialisparese und in den Elektroneurografien unspezifische Veränderungen (Abbildung 1). Insbesondere fanden sich keine Verlangsamungen, keine F-Wellen-Verluste oder pathologischen Dispersionen und keine Leitungsblöcke sowie Verlängerungen der distal-motorischen Latenz. Nur in den Nervi suralis und Peroneus superficialis hatten sich grenzwertig kleine Amplituden gezeigt. Die motorisch evozierten Potentiale waren normal. Die Herzratenvarianz war unauffällig.
Die kranielle Magnetresonenztomografie (cMRT) und Magnetresonanztomografie (MRT) der spinalen Achse zeigten keine Pathologien, auch keine Zeichen einer Polyradikulitis, wie sie bei einer Neuroborreliose vorkommen können. Aus dem Serum und Liquor bestimmte antineuronale Antikörper und Gangliosid-Antikörper waren negativ.
Abb. 1: Magnetisch evozierte Potenziale, Blinkreflex und Neurografie bei dem Patienten mit bilateraler Fazialisparese: (a) Magnetisch evozierte Potenziale des N. Facialis links mit Amplitudenminderung bei der magnetischen Reizung über dem Felsenbein links; (b) Blinkreflex mit fehlenden Komponenten R1 und R2 auf der linken Seite bei Reizung von links und von rechts; (c) Neurografie des N. facialis beidseits mit einer 50 %-igen Amplitudenminderung auf der linken Seite
Unter Fortführung der intravenösen Antibiose kam es initial zu keiner klinischen Besserung, insbesondere der Schmerzen, so dass die Lumbalpunktion wiederholt wurde. Hier war es zu einem weiteren Anstieg der Zellzahl auf 201 Zellen, aber einer normalisierten Liquorchemie gekommen. Unter zusätzlicher gewichtsadaptierter Gabe von Prednisolon nahmen die polyradikulitischen Schmerzen schnell ab. Ein schließlich positiver AK-Index für Borrelien aus der zweiten Liquorprobe bewies die klinische Diagnose einer Neuroborreliose als Ursache für die schmerzhafte Polyradikulitis mit Hirnnervenbeteiligung.
Im Verlauf kam es zu einer zügigen Besserung unter intensiver Physiotherapie. Nach dreiwöchiger Antibiose erfolgte die Entlassung am Gehwagen und fast vollständig regredierter Facialisparese. Die Aufnahme einer stationären Rehabilitation kurze Zeit später gelang bereits ohne Gehhilfen, so dass von einer Restitution ad integrum ausgegangen werden konnte.
Epidemiologie der Neuroborreliose
Die Lyme-Borreliose ist die häufigste vektorassoziierte Erkrankung in den gemäßigten Klimazonen der Nordhalbkugel. Sie wird durch eine Infektion der Spirochäte Borrelia burgdorferi sensu lato verursacht und durch die Zecke Ixodes rizinus übertragen (Abbildung 2). Bisher vorliegende epidemiologische Zahlen sind nicht sicher verlässlich, aber lassen eine Schätzung auf eine Inzidenz von 60 000 bis >200 000 Erkrankungen/Jahr zu [4][9]. Die Borreliose spielt in der Bundeswehr ebenfalls eine epidemiologische Rolle. Im Jahr 2016 gab es aus der Truppe knapp 4 000 Unfallmeldungen wegen eines oder mehrerer Zeckenstiche. Damit sind ca. 20 % aller erfassten Dienst- bzw. Arbeitsunfälle im Jahr 2016 auf Zeckenstiche zurückzuführen. 70 % der Zeckenstiche fanden im Inland auf Truppen- oder Standortübungsplätzen statt [1]. Eine Auswertung durch das Institut für Präventivmedizin der Bundeswehr ergab für die letzten 5 Jahre durchschnittlich 34,6 Borreliose-Infektionen in der Bundeswehr im Jahr [2].
Abb. 2: (a) Nachträglich kolorierte, rasterelektronenmikroskopische Aufnahme mehrerer Borrelien:
Besonders gut ist die längliche und gewundene Struktur der Borrelien (rot markiert) zu erkennen. Sie gehören zur Gruppe der Spirochäten („Schraubenbakterien“). Zur Fortbewegung drehen sie sich um die eigene Achse (Korkenzieherprinzip). (Quelle: CDC/Claudia Molins, Janice Haney Carr). (b) Weibliche Hirschzecke nach einer Blutmahlzeit (Quelle: CDC/Dr. Gary Alper)
Die vorliegenden Daten der Bundeswehr entsprechen etwa den allgemeinen, wenn auch nicht sicher verlässlichen Prävalenzen in Deutschland. Man würde jedoch erwarten, dass die Prävalenz in der Bundeswehr aufgrund des erhöhten Expositionsrisikos eher höher ist. Dabei stellt sich die Frage, ob die bestehende Meldepflicht einer Borreliose innerhalb der Bundeswehr regelhaft eingehalten wird oder ob die Dunkelziffer höher ist.
Abb. E1 (nur E-Paper): Gemeldete Borreliosefälle in der Bundeswehr 2015-2021
Klinisches Erscheinungsbild
Klinisch wird die Neuroborreliose in frühes disseminiertes Stadium nach Wochen bis Monaten und in ein spätes Stadium nach Monaten bis Jahren eingeteilt [14]. Die typische neurologische Manifestation ist die Meningoradikuloneuritis (Garin-Bujadoux-Bannwarth-Syndrom). Die Radikulitis äußert sich durch segmentale Schmerzen wechselnder Lokalisation, welche sich nachts verstärken und von brennendem, bohrendem, reißendem Charakter sind. Nach 1–4 Wochen treten bei diesen Patienten neurologische Ausfälle, vor allem in Form von Paresen, aber auch Sensibilitätsstörungen auf. Bei etwa 60 % kommt es zu Hirnnervenausfällen, wobei die Fazialisparese mit 80 % die häufigste Manifestationsform ist; dabei tritt diese häufig bilateral auf. Abgesehen vom N. olfactorius können alle Hirnnerven beteiligt sein [3].
Weitere neurologische Manifestationen können sein [4][14]:
- Polyneuropathie/Polyneuritis (meist in Assoziation mit einer Acrodermatitis chronica atrophicans),
- Beteiligung des zentralen Nervensystems mit spastisch-ataktischen Gangstörungen bis hin zur Para- oder Tetraparese aufgrund einer Myelitis,
- Hirnorganisches Psychosyndrom mit akuter Psychose sowie
- sehr selten: Vaskulitis/Myositis.
Diagnostisches Vorgehen
Der Verdacht auf das Vorliegen einer Neuroborreliose ergibt sich in der Regel klinisch und zieht dann entsprechende Laboruntersuchungen im Rahmen der Serum- und Liquordiagnostik mit sich [4][6]. Bei einer bestehenden Neuroborreliose zeigen sich entzündliche Liquorveränderungen im Sinne einer lymphozytären Pleozytose mit einer deutlichen Eiweißerhöhung und einem, wenn vorhanden, nur gering erhöhtem Laktat. Weiterhin findet sich bei der frühen Manifestation nach etwa zwei Wochen in 80–100 der Fälle eine intrathekale IgM- und bei 60 % eine intrathekale IgG-Synthese [4][5].
Eine Antikörperproduktion in Form von IgM-Antikörpern ist nach 3 Wochen, IgG-AK nach 6 Wochen zu erwarten. Zu beachten ist hierbei, dass bei einer frühen Bestimmung die Antikörper noch negativ sein können. Weiterhin können erhöhte IgM- und IgG-Antikörpertiter auch noch Jahre persistieren, obwohl die Borreliose ausreichend therapiert wurde. Somit ist die Antikörperdiagnostik allein nicht als Beweis für das Vorliegen einer (Neuro-) Borreliose geeignet [5][7] .
Borrelienspezifischer Antikörper-Index (AI)
Dieses Verfahren dient dem Nachweis intrathekaler borrelienspefizischer Antikörper unter Berücksichtigung der Blutliquorschrankenfunktion, die aufgrund der Infektion gestört ist. Dabei ist ein AI von >1,5 als positiv zu interpretieren. In Verbindung mit einem entzündlich veränderten Liquor kann ein positiver AI den Verdacht einer Neuroborreliose bestätigen. Dabei ist zu beachten, dass eine intrathekale Antikörperproduktion erst nach 2 Wochen beginnt, es somit davor zu falsch negativen Befunden kommen kann. Ein AI kann ebenfalls nach einer ausgeheilten Neuroborreliose persistieren [6][11].
Chemokin CXCL13:
Das Chemokin CXCL13 steigt an, noch bevor es zu einer borrelienspezifischen Antikörpersynthese kommt und eignet sich daher zur Diagnostik bei noch sehr frühen und unklaren Krankheitsverläufen. Es kann also erhöht sein, noch bevor es zu einer Pleozytose oder einem positiven Antikörper-Index kommt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich hierbei nicht um einen borrelienspezifischen Parameter handelt. Er kann auch bei anderen Erkrankungen des ZNS (Neuro-Lues, tuberkulöse Meningitis, Lymphome des zentralen Nervensystems) erhöht sein. Zum Ausschluss einer Neuroborreliose ist CXCL13 besser geeignet als der Antikörperindex, da es einen höheren negativen prädiktiven Wert hat. Weiterhin eignet es sich als Therapieverlaufsmarker, da es nach Beginn der Antibiose zu einem raschen Abfall kommt [4][12][13]. Der direkte Erregernachweis spielt nur inAusnahmefällen eine untergeordnete diagnostische Rolle und sollte nicht als Standarddiagnostik bei dem Verdacht auf eine Neuroborreliose erfolgen [4].
Abb. 3: Sagittal T1w-gewichtete Sequenzen in gleicher Höhe vor und nach i.v.-Kontrastmittel einer Patientin mit einer Polyradikulitis, ebenfalls verursacht durch Borrelien (Bild: BwKrhs Hamburg/Radiologie)
Bildgebung
Eine MRT spielt vor allem zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung eine Rolle. Es gibt zurzeit noch keine ausreichende Studienlage zur Stellung des MRT im Rahmen des diagnostischen Vorgehens bei dem Verdacht auf eine Neuroborreliose. Bei Vorliegen einer Enzephalo-/Myelitis können kontrastmittelaufnehmende Läsionen bestehen [4].
Abb. 4: Diagnostischer Algorithmus bei der frühen Neuroborreliose – S3-Leitlinie Neuroborreliose der Deutschen Gesellschaft für Neurologie [4]
Therapie
Die nachgewiesene Neuroborreliose sollte antibiotisch je nach Alter, Komorbidität und Nebenwirkungsspektrum mit einer der folgenden Substanzen behandelt werden:
- Doxycyclin,
- Ceftriaxon,
- Cefotaxim oder
- Penicillin G.
Die Therapie sollte über einen Zeitraum von 14 bis 21 Tagen erfolgen [4]. Bei der oralen antibiotischen Therapie mit Doxycyclin ist drauf zu achten, dass keine gleichzeitige Einnahme von Milchprodukten erfolgen darf. Weiterhin ist auf die Photosensibilität hinzuweisen [10].
Umstrittene Aspekte der Therapie
Unter der antibiotischen Therapie kommt es zu einer zügigen Beendigung der Erregervermehrung und im besten Fall zu einem zügigen Rückgang der Symptome. Jedoch können die Symptome auch noch 6–12 Monate nach Abschluss der antibiotischen Behandlung persistieren, was kein Zeichen einer insuffizienten Behandlung ist. Sollten nach Beendigung der Therapie neue neurologische Symptome auftreten, ist eine erneute diagnostische Liquorpunktion notwendig. Da der Antikörper-Index wie oben beschrieben lange persistieren kann, kann hier die Bestimmung von CXCL13 hilfreich sein. Eine unkritische erneute antibiotische Therapie ohne Erregernachweis oder ohne erneut ansteigendes CXCL13 sollte keinesfalls durchgeführt werden [4][13].
Post Treatment Lyme Disease Syndrome
Ein kleiner Teil der Patienten berichtet über die Persistenz oder das Hinzutreten neurologischer Symptome trotz leitliniengerechter antibiotischer Therapie. Dabei handelt es sich meist um eine diffuse Beschwerdesymptomatik wie Fatigue, Parästhesien, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Konzentrations- und Gedächtnisstörungen. Diese werden bei einer Persistenz von über 6 Monaten als Post Treatment Lyme Disease Syndrome (PTLDS) bezeichnet. Aufgrund des Fehlens einer ausreichenden Datenlage definiert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie das PTLDS nicht als eigene Krankheitsentität. Bisher gibt es keinen Hinweis auf eine chronische Neuroborreliose ohne Erregerpersistenz und in den bisher vorliegenden Studien konnte kein vermehrungsfähiger Erreger mehr nachgewiesen werden. Somit besteht in dieser Konstellation die Empfehlung zu einer nochmaligen differentialdiagnostischen Abklärung und zur symptomatischen Therapie. Eine erneute antibiotische Therapie sollte ohne begründende Labordiagnostik nicht erfolgen.
Die Deutsche Borreliose Gesellschaft und die Patientenorganisationen Borreliose und FSME Bund Deutschland, Bundesverband Zeckenkrankheiten und OnLyme-Aktion.org haben unter anderem hierzu ihre Dissenserklärung bzgl. der aktuellen Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) abgegeben [4]. Unserer Recherche zufolge ist dies bisher das erste Mal, dass sich Patientenorganisationen so deutlich gegen eine Leitlinie positioniert haben. Dies erregte auch mediale Aufmerksamkeit, vor allem, nachdem die Endfassung der Leitlinie auch gerichtlich durchgesetzt werden musste. Dennoch investieren viele Betroffene viel Geld in die Behandlung von „Expertenzentren“, die Behandlungen außerhalb der evidenzbasierten Empfehlungen anbieten.
Diskussion und Fazit
In dem geschilderten Fall handelt es sich um einen Landschaftsgärtner, der aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit ein deutlich erhöhtes Expositionsrisiko hatte. Es gibt einen zeitlichen Zusammenhang zu einem Urlaub auf Sardinien, doch kann der nicht erinnerliche Zeckenstich auch bereits in der Vergangenheit stattgefunden haben. Es könnte sich somit um einen zufälligen zeitlichen Zusammenhang handeln [7].
Der Patient wies die typische Manifestationsform einer Neuroborreliose auf: Brennende Scherzen in den Beinen vor allem in Rückenlage passend zu polyradikulitischen Schmerzen. Im Verlauf trat ein zunehmendes schweres sensomotorisches Defizit hinzu sowie eine bilaterale Fazialisparese. Die Liquordiagnostik ergab bei dem Patienten die typische lymphozytäre Pleozytose. Deutlich erhöhte Eiweiß- und Lactatwerte waren nicht typisch, sind aber generelle Konstellationen einer bakteriellen Infektion im Liquor. Im Serum zeigten sich positive IgG-Antikörper für Borrelien und negative IgM-Antikörper, was auch auf eine bereits im Vorfeld durchgemachte klinisch stumme Borrelien-Infektion hindeuten könnte; somit war die Serologie allein nicht wegweisend.
Der negativen PCR für Borrelien, die im Rahmen einer Multiplex-PCR angefertigt worden war, kam bei negativem Befund keine Bedeutung zu. Eine Borrelieninfektion kann mit einer PCR nicht sicher genug ausgeschlossen werden, da diese wegen geringer Sensitivität dazu nicht hinreichend geeignet ist. Der borrelienspezifische Antikörper-Index war mit 18,2 deutlich positiv, traf jedoch erst wenige Tage später ein. Das Chemokin CXCL13 wurde in diesem Fall nicht bestimmt. Auch wenn dieser Marker noch nicht standardisiert ist, gilt er vor allem bei negativem borrelienspezifischen Antikörper-Index als ein wichtiges diagnostisches Kriterium für das Vorliegen einer Neuroborreliose, vor allem im frühen Verlauf. In diesem Fall war die Klinik jedoch eindeutig genug, um an der Therapie trotz noch ausstehendem laborchemischem Beweis festzuhalten. Unser Patient wurde zunächst bei lymphozytärer Pleozytose empirisch mit Ceftriaxon und Aciclovir behandelt, das Aciclovir wurde nach negativer PCR für Herpesviridae und nach Bestätigung der Neuroborreliose abgesetzt und die Therapie mit Ceftriaxon leitlinienkonform fortgeführt.
Kernaussagen
- Der geschilderte Fall zeigt klinisch die vollständige Manifestation einer Neuroborreliose. Hier führte das typische Bild zur korrekten Verdachtsdiagnose, die im Verlauf auch laborchemisch bestätigt werden konnte.
- Neben der normalen Prävalenz besteht wahrscheinlich eine hohe Dunkelziffer für Borrelieninfektionen in der Bundeswehr.
- Die Kenntnis zum Erkrankungsbild ist wichtig, um einen abwendbar gefährlichen Verlauf zu erkennen.
- Der laborchemische Weg zur Diagnostik ist mit Fallstricken versehen. Spätestens beim Verdacht auf eine Neuroborreliose soll frühzeitig neurologische Fachexpertise und Liquordiagnostik hinzugezogen werden.
- Bei korrekter Diagnose und Therapie können auch Verläufe mit schweren Defiziten geheilt werden.
Literatur
- Bundesamt für Infrastruktur , Umweltschutz und Dienstleistungen der Bundeswehr: Info – Brief 2/2018: Präventionsmaßnahmen gegen Zeckenstiche und deren gesundheitliche Auswirkungen im Inland.
- Bundeswehr InstPrävMedBw: Registerdaten Borreliose in der Bundeswehr 2022.
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.): Therapie der idiopathischen Fazialisparese (Bell’s palsy), S2k-Leitlinie [Internet] 2022. , letzter Aufruf 20. Februar 2023. mehr lesen
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie: Neuroborreliose, S3-Leitlinie, (2018).< https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-071>, letzter Aufruf 23. Februar 2023 mehr lesen
- Djukic M, Schmidt-Samoa C, Nau R, von Steinbüchel N, Eiffert H, Schmidt H: The diagnostic spectrum in patients with suspected chronic Lyme neuroborreliosis--the experience from one year of a university hospital's Lyme neuroborreliosis outpatients clinic. Eur J Neurol. 2011; 18(4): 547-555. mehr lesen
- Fingerle V, al. e. MiQ – Qualitätsstandards in der mikrobiologisch-infektiologischen Untersuchung. München Jena: URBAN & FISCHER; 2017.
- Henningsson AJ, Malmvall BE, Ernerudh J, Matussek A, Forsberg P: Neuroborreliosis--an epidemiological, clinical and healthcare cost study from an endemic area in the south-east of Sweden. Clin Microbiol Infect. 2010; 16(8): 1245-1251. mehr lesen
- Kaiser R: Neuroborreliosis. J Neurol. 1998; 245(5): 247-255. mehr lesen
- Müller I, Freitag MH, Poggensee G, Scharnetzky E, Straube E, Schoerner C, et al.: Evaluating frequency, diagnostic quality, and cost of Lyme borreliosis testing in Germany: a retrospective model analysis. Clin Dev Immunol. 2012; 2012: 595427. mehr lesen
- PharmaWiki: Doxycyclin. Pharmawiki 2022; , letzter Aufruf 23. Februar 2023 mehr lesen
- Reiber H, Lange P: Quantification of virus-specific antibodies in cerebrospinal fluid and serum: sensitive and specific detection of antibody synthesis in brain. Clin Chem. 1991; 37(7): 1153-1160. mehr lesen
- Rupprecht TA, Lechner C, Tumani H, Fingerle V: [CXCL13: a biomarker for acute Lyme neuroborreliosis: investigation of the predictive value in the clinical routine]. Nervenarzt. 2014; 85(4): 459-464. mehr lesen
- Schmidt H: Neuroborreliose. DGN Neurowoche 2022. , letzter Aufruf 23. Februar 2023. mehr lesen
- Stanek G, Fingerle V, Hunfeld KP, Jaulhac B, Kaiser R, Krause A, et al.: Lyme borreliosis: clinical case definitions for diagnosis and management in Europe. Clin Microbiol Infect. 2011; 17(1): 69-79. mehr lesen
- Wittwer B, Pelletier S, Ducrocq X, Maillard L, Mione G, Richard S: Cerebrovascular Events in Lyme Neuroborreliosis. J Stroke Cerebrovasc Dis. 2015; 24(7): 1671-1678. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Beyrich T, Vortkamp U: Lähmung durch Infektion: Akute Neuroborreliose. WMM 2023; 67(4): 143-148.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-114
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Ulrich Vortkamp, M.A.
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Klinik IX – Neurologie
Lesser Str.180, 22049 Hamburg
E-Mail: ulrichvortkamp@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Beyrich T, Vortkamp U: [Paralysis caused by infection: Acute neuroborreliosis]. WMM 2023; 67(4): 143-148.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-114
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Dr. Ulrich Vortkamp, M.A.
Bundeswehr Hospital Hamburg
Department IX – Neurology
Lesser Str.180, D-22049 Hamburg
E-Mail: ulrichvortkamp@bundeswehr.org