Lebensqualität als ein Resilienzfaktor bei Sanitätskräften im Katastropheneinsatz
Quality of Life as a Resilience Factor of Medical Forces in Disaster Operations
Thomas Emsera, Vanessa Schifferb, Norbert Hanharta, Ulrich Wesemannc, Patric Muschnerc, Andreas Dierichd, Gerd Willmundc
a Sanitätsunterstützungszentrum Cochem
b Sanitätsunterstützungszentrum Augustdorf
c Psychotraumazentrum der Bundeswehr Berlin
dSanitätsunterstützungszentrum Neubrandenburg
Zusammenfassung
Der Klimawandel führt zu einer Zunahme von Naturkatastrophen. Ein herausragendes Großereignis dieser Art in Deutschland war die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021, bei der u. a. viele Bundeswehrkräfte im Rahmen eines Amtshilfeeinsatzes tätig waren.
Die körperlichen und psychischen Belastungen für die Rettungskräfte sind bei solchen Einsätzen groß. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Informationen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von Bundeswehrangehörigen, die im Rahmen dieser Flutkatastrophe eingesetzt waren, zu erheben und zu analysieren. Für die Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität wurden im Ahrtal eingesetzte Sanitätskräfte sechs Monate nach dem Einsatz mittels validierter Frageninventare befragt. Insgesamt konnten 72 Teilnehmende, 39 in der Amtshilfegruppe und 33 in der Kontrollgruppe, in die Studie eingeschlossen werden.
Im Vergleich zeigten beide Gruppen sechs Monate nach dem Ereignis eine ähnlich starke Ausprägung der Lebensqualität. Hinsichtlich der Lebensqualität konnte bei allen Messungen eine höhere mittlere Lebensqualität der Amtshilfegruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe gezeigt werden. Bei den Frauen zeigte sich eine tendenziell höhere mittlere Lebensqualität als bei den Männern.
Wider Erwarten zeigte die Gruppe der Rettungskräfte, die im Ahrtal eingesetzt war, eine wenn auch nicht signifikant bessere gesundheitsbezogene Lebensqualität als die Studienteilnehmenden in der Kontrollgruppe. Eine Erklärung hierfür liefert das Salutogenese-Konzept, das die Steigerung der individuellen Resilienz in Zusammenhang mit einem Kohärenzgefühl beschreibt. Weiterhin ergibt sich aus dem Zusammenhalt in der Amtshilfegruppe und dem Aspekt des „gemeinsam erfolgreich Bewältigten“ ein weiterer wichtiger Faktor, welcher die höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität begründen kann. Aufgrund der hohen Relevanz zu Fragestellungen der Prävention von Traumafolgestörungen für Blaulichtorganisationen und Streitkräfte sollten weitere Datenerhebungen stattfinden, um zielgerichtete Präventions- und Rehabilitationsprogramme weiterzuentwickeln.
Schlüsselwörter: Posttraumatische Belastungsstörung, gesundheitsbezogene Lebensqualität, Einsatzkräfte, Bundeswehr
Summary
Climate change is leading to an increase in natural disasters. An outstanding major event of this kind in Germany was the flood disaster in the Ahr Valley in 2021, where many Bundeswehr personnel were involved in an administrative assistance mission.
Physical and psychological strain on rescue personnel is great during such operations. This work aimed to collect and analyze information on the health-related quality of life of Bundeswehr members deployed during this flood disaster. To measure health-related quality of life, medical personnel deployed in the Ahr Valley were surveyed six months after their deployment using validated question inventories. A total of 72 participants (administrative assistance group, N = 39, control group, N = 33) was included in the study.
In comparison, both groups showed a similar quality of life six months after the event. Regarding to quality of life, all measurements showed a higher average quality of life in the administrative assistance group compared to the control group. Women tended to have a higher average quality of life than men.
Contrary to expectations, the group of medical personnel deployed to the Ahr Valley showed, although not significantly, better health-related quality of life than the study participants in the control group. An explanation is provided by the concept of salutogenesis, which describes the increase in individual resilience in connection with a sense of coherence. Furthermore, cohesion in the administrative assistance group and “coping successfully together” are important factors that can justify a higher health-related quality of life.
Due to the high relevance of issues relating to the prevention of trauma-related disorders for emergency services organizations and the armed forces, further data collection should take place to develop targeted prevention and rehabilitation programs.
Keywords: postraumatic stress disorder; health-related quality of life; rescue services; Bundeswehr
Einleitung und Hintergrund
In den Industrieländern zeigt sich in den letzten drei Jahrzehnten bei durch den Klimawandel bedingten Naturkatastrophen ein enormer Anstieg. In Deutschland sind bis heute Großschadensereignisse wie die Oderflut im Jahr 1997, das Elbehochwasser 2002 oder das Hochwasser 2013, welches große Teile Mitteleuropas betroffen hat, noch erinnerlich. Durch den jährlichen Katastrophenbericht des Center of Research on the Epidemiology of Disasters (CRED) konnten in der Zeit von 2000–2020 durchschnittlich 347 Naturkatastrophen pro Jahr verzeichnet werden. Im Jahr 2021 zeigte sich ein signifikanter Anstieg auf 432 Naturkatastrophen pro Jahr (Abbildung 1) [11].
Abb. 1: Auftreten von Katastrophen nach deren Art: Vergleich zwischen 2021 (432 Naturkatastrophen) und der durchschnittlichen Anzahl in der Zeit von 2001–2020 (347 Naturkatastrophen)
Bei derartigen Ereignissen kommen eine Vielzahl von Berufsgruppen, Behörden und Organisationen wie z. B. Feuerwehr, Polizei, Technisches Hilfswerk (THW), Bundeswehr, Rotes Kreuz etc. sowie ehrenamtliche Helfer zum Einsatz. Die psychischen Belastungen für die Teilnehmenden an solchen Missionen sind messbar [6]. Die Datenbasis ist derzeit zu gering, um professionsorientierte Belastungen zu ermitteln [21]. Über die psychosozialen Auswirkungen auf Soldaten, welche im Rahmen der Amtshilfe bei Naturkatastrophen eingesetzt wurden, liegen bereits erste wissenschaftliche Arbeiten vor [6]. Anhand von Quer- und Längsschnittstudien konnte nach dem Terroranschlag in Berlin 20161 belegt werden, dass geschlechts- und professionsspezifische Unterschiede der psychosozialen Belastung bestehen und auch die berufsgruppenbezogene Einsatznachsorge nachteilige Auswirkungen haben kann, wenn diese ausnahmsweise professionsübergreifend zur Anwendung kommt [27].
Seit mehr als 80 Jahren werden die emotionalen Konsequenzen bei Naturkatastrophen wie Hurrikans, Tornados, Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen oder auch Erdbeben systematisch untersucht [23]. Bis heute werden die kurz- und langfristigen psychischen Auswirkungen bei Hilfskräften im Rahmen von Naturkatastrophen jedoch deutlich unterschätzt.
Ziel dieser Arbeit war es daher, die spezifischen Belastungen bei Sanitätskräften der Bundeswehr durch Adhoc-Einsätze bei Naturkatastrophen im Inland aufzuklären. Es wurde dabei untersucht, ob sich der Einsatz bei potenziell traumatisierenden Ereignissen negativ auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität auswirkte. Darüber hinaus wurde geprüft, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Erwartet wurde, dass weibliches Personal eine niedrigere psychische Lebensqualität aufwies, da vorherige Studien eine höhere Symptomlast nach größeren traumatisierenden Einwirkungen aufwiesen [19][28–31].
Der Bundeswehreinsatz im Ahrtal
Am 14.Juli 2021 wurde der militärische Katastrophenalarm durch die damalige deutsche Verteidigungsministerin ausgelöst. Zeitweise waren in den betroffenen Gebieten 2.000 Bundeswehrkräfte im Einsatz (Tabelle 1).
Tab. 1: Übersicht eingesetzter Bundeswehrkräfte und Mittel während der Amtshilfe nach dem Hochwasser im Ahrtal
Zum Aufgabenspektrum gehörte unter anderem die Koordinierung der schweren Geräte, wie z. B. Brückenlegepanzer oder Räumfahrzeuge. Im Ahrtal wurden viele Brücken durch die Wassermassen zerstört, weshalb hier die Bundeswehr innerhalb von drei Tagen insgesamt sieben Behelfsbrücken zur Verfügung stellte. Weitere Aufgaben bestanden in der Trinkwasserversorgung und der Beseitigung der Schlammmassen. Da die Feuerwehren und das THW mit ihren Ressourcen an ihre Grenzen kamen, wurde auch dort materiell und personell durch die Bundeswehr unterstützt. Insgesamt dauerte der Einsatz fast zwei Monate und verlief in drei Phasen ab.
Phase 1 des Einsatzes
In der ersten Phase bestand der Schwerpunkt in der Rettung von Menschen. Hierzu wurden vor allem Hubschrauber, geländegängige Fahrzeuge und Bergepanzer eingesetzt. Auch das Sanitätspersonal war hier personell stark vertreten und sowohl für die medizinische Basisversorgung als auch für die Rettung der Betroffenen zuständig (Abbildung 2). Teilweise waren Straßen durch die Feuerwehr oder das Technische Hilfswerk nicht mehr befahrbar. Daher unterstützten hier die Sanitätskräfte bei der Bergung der Toten.
Abb. 2: Einsatz von Sanitätskräften im Rahmen der Flutkatastrophe im Ahrtal (Bild: Landkreis Trier-Saarburg)
Phase 2 des Einsatzes
In der zweiten Phase ging es um die Stabilisierung der Infrastruktur. Zusätzlich stellte man Satelliten-Kommunikationsanlagen zur Verfügung, um das Kommunikationsnetz ausreichend wiederherzustellen. Die Wasser- und Abwasserversorgung sowie die Verpflegung und Medikamentenbereitstellung wurden seitens der Bundeswehr sichergestellt.
Phase 3 des Einsatzes
Die dritte Phase diente dem provisorischen Wiederaufbau, indem Straßen und Brücken behelfsmäßig instandgesetzt wurden. Der Katastropheneinsatz endete für die Bundeswehr am 1. September 2021.
Naturkatastrophen als traumatische Stressoren
Nach ICD-11 sind Traumata definiert als Ereignis oder Serie von Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß. Langanhaltende Naturkatastrophen, worunter insbesondere Flutkatastrophen fallen, werden als sogenannte akzidentielle Typ II-Traumata, also länger anhaltenden oder sequenziellen traumatischen Stressoren bezeichnet. Dieses Traumakriterium ist die wesentliche Bedingung für die Entwicklung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Im noch gültigen ICD-10 wird das persönliche subjektive Empfinden (tiefe Verzweiflung und Hilflosigkeit) diagnostisch stärker bewertet [24]. Differenzialdiagnostisch können sich allerdings auch andere Traumafolgestörungen entwickeln, wie akute Belastungsreaktionen/-störungen, Anpassungsstörungen, andauernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung und komplexe PTBS/DESNOS (disorders of extreme stress not otherwise specified) [15].
Gesundheitsbezogene Lebensqualität
Im angloamerikanischen Raum wird seit den 1980er Jahren, in Deutschland seit den 1990er Jahren, verstärkt die gesundheitsbezogene Lebensqualität betrachtet, anfangs im Wesentlichen hinsichtlich onkologischer und chronischer Erkrankungen [7][10]. In der Wissenschaft wird die Lebensqualität als ein multidimensionales Konstrukt verstanden, bei dem die Teilbereiche nicht konkret erfasst werden können [10].
Im Grundsatz basiert die Messung der Lebensqualität auf zwei Theorien. In der ersten Theorie nimmt man an, dass es definierbare Grundbedürfnisse gibt, die bei deren Befriedigung zu einem Wohlbefinden führen. Bei der zweiten Theorie steht das subjektive Empfinden der Lebensverhältnisse im Mittelpunkt. Dazu hat sich die Betrachtungsweise etabliert, dass Lebensqualität auch durch immaterielle Werte bestimmt wird.
Bei der subjektiven Lebensqualität wird der Unterschied zwischen Hoffnungen, Erwartungen und Wünschen und der Realität der Betroffenen deutlich [9]. Die Lebensqualität ist demnach von der subjektiven Wahrnehmung abhängig [5]. Zwischen den Lebensumständen und der subjektiven Wahrnehmung kann nur ein geringer Zusammenhang nachgewiesen werden [25]. Folglich sind Selbstbeurteilungsverfahren der Betroffenen zur Erfassung der Lebensqualität unverzichtbar. Hierbei wird zwischen den uni- und multidimensionalen Messverfahren sowie den generischen (krankheitsübergreifenden) und den krankheitsspezifischen Messinstrumenten differenziert. Vor allem die multidimensionalen Verfahren eignen sich besonders gut, da verschiedene Bereiche der Lebensqualität wie das psychische Befinden, die körperliche Verfassung, die sozialen Beziehungen, die funktionale Kompetenz, das Alltagsleben oder die Religion einbezogen werden. Es gibt keine einheitliche Regelung zur methodischen Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität und ähnlichen Konstrukten (z. B. Wohlbefinden, Glück, Lebenszufriedenheit). Die Messung der Lebensqualität ist unverzichtbar für die Bewertung der Qualität von Therapiekonzepten und Interventionsmaßnahmen sowie von klinischen Ergebnissen [25].
Material und Methodik
Rekrutierung
Am 11. Januar 2022 fand am Standort Idar-Oberstein und am 13. Januar 2022 am Standort Köln-Wahn die Datenerhebung bei dem Personal der jeweiligen Sanitätseinsatzstaffeln (SanStffEins) statt. Einschlusskriterien waren für die Teilnehmenden der Amtshilfegruppe, dass sie eine medizinische Ausbildung nachweisen konnten und dementsprechend in einer medizinischen Tätigkeit im Rahmen der Flutkatastrophe eingesetzt waren. Für die Kontrollgruppe waren die Voraussetzungen, dass Personen in einer medizinischen Verwendung tätig waren, eine entsprechende Ausbildung vorweisen konnten und nicht im Rahmen der Hochwasserhilfe tätig waren. Ausgeschlossen wurden Probanden beim Vorliegen von akuter Suizidalität. Die Teilnehmenden wurden in der Gruppe über das Vorhaben aufgeklärt, hatten die Möglichkeit zu persönlichen Aufklärungsgesprächen und gaben ihr schriftliches Einverständnis. Die notwendigen Genehmigungen der personalvertretenden Gremien, des zuständigen ADSB einschließlich eines Ethikvotums lagen vor.
Es nahmen insgesamt 72 Personen an der Pilotstudie teil; in der Amtshilfe-Gruppe 39, in der Kontrollgruppe 33. Die Geschlechterverteilung war mit 52 Männern (72 %) und 20 Frauen (28 %) ausreichend ausgewogen. Bei einer Standardabweichung von ±9,28 waren die Teilnehmenden im Durchschnitt 33 Jahre alt.
Studiendesign und Datenerhebung
Bei der Studie handelt es sich um ein Unabhängiges Gruppen-Design mit einer Experimentalgruppe („Amtshilfegruppe“) sowie einer Kontrollgruppe. Die für die Beantwortung der Forschungsfragen relevanten Fragebogeninventare umfassten die deutsche Version des WHOQOL-BREF. Der WHOQOL-BREF ist ein allgemeines und krankheitsunabhängiges Instrument zur Erfassung von durch Patienten berichteten Ergebnissen und zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität. Grundlage ist die Definition von Lebensqualität als die individuelle Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation im Kontext der jeweiligen Kultur und des jeweiligen Wertesystems sowie in Bezug auf persönliche Ziele, Erwartungen, Beurteilungsmaßstäbe und Interessen. Die Daten wurden mittels IBM SPSS Statistics ausgewertet.
Als Hypothese wurde angenommen, dass sich aufgrund der Einsatzteilnahme und der Erfahrung der potenziell traumatischen Erfahrungen eine niedrigere Lebensqualität bei der Experimentalgruppe nachweisen lässt und dass weibliche Einsatzkräfte eine höhere Einschränkung der Lebensqualität erfuhren.
Ergebnisse
Gesundheitsbezogene Lebensqualität
Die Forschungsfragen konnten durch eine erste Querschnittserhebung mittels des WHOQOL-BREF gemessen werden. Tendenziell zeigte sich die mittlere psychische Lebensqualität bei der Amtshilfegruppe höher als in der Kontrollgruppe, allerdings ohne dass ein signifikanter Unterschied nachweisbar war (Abbildung 3).
Abb. 3: Vergleich der Skalenmittelwerte von Amtshilfegruppe und Kontrollgruppe
Für alle dargestellten Items sind höhere Werte bei der Amtshilfegruppe zu verzeichnen. Die psychische Lebensqualität der einzelnen Skalenmittelwerte im Vergleich der Amtshilfegruppe und der Kontrollgruppe weist dabei den größten Gruppenunterschied auf.
Ebenso ist ein relativ großer Unterschied bei den Subskalen zu sozialen Beziehungen und Umwelt erkennbar.
Im Vergleich dazu zeigen die Subskalen für mittlere globale Lebensqualität und physische Lebensqualität geringere Unterschiede auf.
Abb. 4: Boxplot zur berichteten psychischen Lebensqualität in Amtshilfe- und Kontrollgruppe
Abb. 5: Boxplot zur berichteten sozialen Lebensqualität in der Amtshilfe- und Kontrollgruppe
Abb. 6: Boxplot zur berichteten umweltbezogenen Lebensqualität in der Amtshilfe- und Kontrollgruppe
Abb. 7: Boxplot zur berichteten globalen Lebensqualität in der Amtshilfe- und Kontrollgruppe
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Da der Shapiro-Wilk-Test zeigt, dass die Stichprobendaten beider Gruppen nicht normalverteilt waren, wurde zur Hypothesenprüfung ein Mann-Whitney-U-Test durchgeführt. Die Frauen gaben eine tendenziell höhere mittlere Lebensqualität im Vergleich zu den Männern an (Tabelle 2).
Tab. 2: Vergleich der Lebensqualität zwischen Frauen und Männern in der Amtshilfegruppe
Diskussion
Überraschend wurde eine tendenziell höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität bei der den potenziell traumatischen Ereignissen ausgesetzten Amtshilfegruppe gemessen. Eine Erklärung hierfür kann das Salutogenese-Modell liefern [32]. Dieses beschreibt, dass jeder Mensch bestrebt ist, seine gesunden „Anteile“ zu vermehren und ein Gleichgewicht zu den kranken „Anteilen“ herzustellen. Ziel ist es, ein Gesundheits-Krankheits-Kontinuum zu erreichen. Der salutogene Ansatz erläutert die stetige Bewegung des Menschen auf diesem Kontinuum [1].
Abb. 8: Boxplot zur berichteten physischen Lebensqualität in der Amtshilfe- und Kontrollgruppe
Salutogenese- versus Pathogenese-Modell
Der wesentliche Unterschied zu dem klassischen Pathogenese-Modell zur Entstehung von Krankheiten liegt dabei in der möglichen gesundheitsfördernden und -stabilisierenden Wirkung von traumatischen Stressoren. Dabei kommt der aktiven Anpassung an Ausnahmesituationen durch Ressourcenbildung und Risikoreduktion für die Bewältigung von zukünftigen potenziell traumatisierenden Ereignissen eine entscheidende Rolle zu (Tabelle 3). Die Lebensstrategie, Stressoren aus dem Weg zu gehen, sollte sich also nicht zu eigen gemacht werden, sondern es geht in der Annahme zu diesem Modell darum, wie man diese bewältigt und welchen positiven Effekt man daraus zu ziehen vermag [16].
Tab. 3: Unterscheidung zwischen pathogenetischem und salutogenetischem Modell
Soziales und gesellschaftliches Umfeld
Weiter sind Merkmale zu berücksichtigen, die durch das soziale oder gesellschaftliche Umfeld definiert sind, z. B. soziale Bindung oder materielle Mittel. Je mehr Ressourcen bei dem Individuum ausgeprägt sind, desto besser können auftretende Belastungen bewältigt werden [32].
Sanitätskräfte sind im Gegensatz zu den meisten Kampfeinheiten in ihrer täglichen Dienstausübung nicht nur mit Übungsszenarien befasst, sondern regelmäßig auch mit realen Belastungssituationen. Dies führt zu einer höheren Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, solche Ausnahmesituationen zu bewältigen. Neben der medizinischen Versorgung mussten auch die Sanitätskräfte mit ihren in diesem Szenario besonders geeigneten Fahrzeugen bei der Bergung und Rettung von Personen unterstützen. Der Referenzrahmen der Sanitätskräfte war wohl aufgrund von bewältigten früheren Einsatzsituationen im In- und Ausland ausreichend, um mit diesem Katastrophenszenario trotz der Konfrontation mit Leid, Zerstörung und Tod umzugehen. Der Einsatz war von hoher Sinnhaftigkeit geprägt. Möglicherweise führte dies zu einem besonders hohen Kohärenzempfinden mit einer funktionalen Verarbeitung der belastenden Erfahrungen und hatte tendenziell förderlichen Einfluss auf die Lebensqualität.
Kohärenzgefühl und Wertegerüst
Im Theoriekonzept des Kohärenzgefühls [32] werden diese Dimensionen als sogenannte Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit benannt. Sie wirken sich in der Summe positiv auf belastende Situationen aus. Vorgesetzte wählen in einer Krisensituation innerhalb ihres Personals dasjenige für die Amtshilfeaufträge aus, bei dem sie davon ausgehen, dass es tendenziell eine höhere allgemeine Resilienz zur Bewältigung solcher Situationen aufweist. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass über diesen Selektionseffekt Probanden eine höher eingeschätzte psychische Lebensqualität gehabt haben.
In früheren Studien wurde diskutiert, ob militärspezifische Einsatzszenarien eigene individuelle Werteorientierungen modifizieren und moralische Verletzungen auftreten [1][14]. Da es sich bei militärischen Streitkräften um eine große Organisation mit einer positiv gelebten Einheitskohäsion handelt, spielt die Salutogenese eine wichtige Rolle [1]. Übertragen auf das Salutogenese-Modell gilt es festzuhalten, dass das Kohärenzgefühl wichtig ist, um ein suffizientes Wertegerüst aufrecht zu erhalten und nutzen zu können [16]. Durch die eigenen Ressourcen und Erfahrungen war es der Amtshilfegruppe möglich zu verstehen, was bei der Flutkatastrophe im Ahrtal passiert war und wie es dazu kam. Die eingesetzten Sanitätskräfte hatten die Überzeugung, dass ihre eigenen Ressourcen für die Bewältigung verlässlich waren. Dies trägt hinsichtlich des Aspekts der Handhabbarkeit auch dazu bei, dass die Einsatzkräfte nach Erledigung des Auftrages das Erlebte kognitiv und emotional besser verarbeiten konnten. Dies kann ein positiver Einflussfaktor zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität sein.
Die Folgen von Kampfeinsätzen können durch den Zusammenhalt in einer Einheit nachweislich abgemildert werden. Dabei wird in der Militärforschung zwischen der sozialen Kohäsion, der aufgabenorientierten Kohäsion und der instrumentellen Kohäsion unterschieden [8]. Bei der sozialen Kohäsion wird die Annahme vertreten, dass bei einer guten Homogenität innerhalb der Gruppe auch eine Kohäsion vorliegt [17]. In der durchgeführten Studie zur Katastrophenhilfe wurde Sanitätspersonal eingesetzt, welches auch im normalen Dienst viel miteinander arbeitet und einander kennt. Es ist anzunehmen, dass eine hohe soziale Kohäsion vorgelegen hat, weshalb sich hier eine tendenziell bessere Lebensqualität abzeichnete. Bei der aufgabenorientierten Kohäsion verfolgt jeder einzelne der Gruppe nahezu die gleiche Aufgabe und das gleiche Ziel [17]. Alle eingesetzten Einsatzkräfte verfolgten die Absicht, den betroffenen Menschen zu helfen und die zivilen Einsatzkräfte zu unterstützen. Bei der instrumentellen Kohäsion ist jedem Einzelnen klar, dass er von den anderen Gruppenmitgliedern abhängig ist. Dadurch bildet sich eine notwendige Primärgruppenbeziehung, welche von essenzieller Bedeutung ist [8].
Übertragen auf den Katastropheneinsatz hat sich auch hier eine Primärgruppenbeziehung entwickelt, welche dafür ausschlaggebend war, dass alle Sanitätskräfte der Gruppe den Einsatz ohne erkennbare physische oder psychische Folgen bewältigt haben. In einer Untersuchung von amerikanischen Militärangehörigen, welche in Afghanistan eingesetzt waren, wurden die Effekte von Zusammenhalt analysiert. Bei horizontalem Zusammenhalt auf der Einheitsebene wurden Puffereffekte hinsichtlich von PTBS-Symptomen, depressiven Symptomen und Suizidgedanken nachgewiesen [4]. Dies konnte durch eine Querschnittserhebung bei australischen Militärkräften, welche zwischen 2001 und 2009 im Irak oder Afghanistan eingesetzt waren, ebenso bestätigt werden.
Die Förderung des Zusammenhalts in der Einheit ist ein Kernbaustein zur Resilienzentwicklung [2]. Im Ahrtalszenario war der Einsatz von entsprechenden gebundenen Einheiten bis hin zum Rettungstrupp von Vorteil, da durch die alltägliche Zusammenarbeit eine Gruppenkohäsion nicht vor Ort im Einsatzgeschehen neu entwickelt werden musste. Dies hat sicher zur besseren gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei der Amtshilfegruppe beigetragen.
Dass lediglich tendenziell bessere Werte zu verzeichnen waren, kann darin begründet liegen, dass ein Großteil der begünstigenden Einflussfaktoren (z. B. Zusammenhaltgefühl, Kameradschaft) sowohl für diese Gruppe als auch für die Kontrollgruppe zu tragen kamen. Jedoch wurde in unserer Untersuchung zumindest nachgewiesen, dass ein solches herausragendes, potenziell traumatisierendes Ereignis die subjektiv empfundene gesundheitsbezogene Lebensqualität nicht negativ beeinflusste, sodass unsere Haupthypothese klar widerlegt wurde. Auch zeigten die Ergebnisse, dass die soziale Lebensqualität tendenziell höher als bei der Vergleichsgruppe ausgeprägt gewesen ist, was möglicherweise auf die Einsatzerfahrung und auch der hohen Gruppenkohäsion zurückgeführt werden kann. Interessant ist zudem der Aspekt, dass selbst die Subskala Umwelt höher als in der Vergleichsgruppe ausgeprägt war, was möglicherweise mit dem anderen Referenzrahmen und den Erfahrungen des Katastropheneinsatzes begründet werden könnte, da die umweltbezogene Lebensqualität achtsamer bewertet wird.
Naturkatastrophen versus „man-made“ Szenarien
Naturkatastrophen werden allerdings generell von Individuen besser verarbeitet als einzelne „man-made“ Szenarien wie Geiselnahmen, Gewalttaten oder sexuelle Übergriffe. Die Gruppenkohäsion hat einen ausgesprochenen, nachweisbaren positiven Einfluss auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Soziale Unterstützung, Vorbereitung auf Katastrophenereignisse und die Resilienz der Gemeinschaft führen zu einer höheren gesundheitsbezogenen Lebensqualität [18]. Das Erleben von Selbstwirksamkeit wirkt sich bei Einsatzkräften positiv auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität aus und reduziert die Stressempfänglichkeit [23]. Es besteht dabei ein direkter Zusammenhang zwischen dem Kohärenzgefühl und Selbstwirksamkeit, was Resilienz im Wesentlichen bedingt. Wenn Einsatzkräfte Herausforderungen als kohärent einschätzen und verarbeiten können, erleben sie sich als selbstwirksam, können handeln und agieren.
Einfluss des Geschlechts
In unserer Stichprobe zeigten sich keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede, was Ergebnisse früherer Untersuchungen zur Lebensqualität replizierte, bei denen bei weiblichen Einsatzkräften und medizinischem Personal ein höheres subjektive Stressbelastungserleben und höheres Misstrauen nach potenziell traumatisierenden Ereignissen nachgewiesen wurde [28][31]. Ähnliche Effekte zeigten sich bei militärischen Kollektiven bei Sanitätskräften der Bundeswehr [30]. Die Prävalenz hinsichtlich der posttraumatische Belastungsstörung war bei weiblichen US-Sanitätskräften erhöht [19]. Bei zivilen weiblichen Einsatzkräften war auch zwei Jahre nach einem belastenden Ereignis ein signifikant höheres Misstrauen und paranoide Gedanken nachweisbar [29]. Insgesamt liegt unserer Untersuchung nahe, dass der Stichprobenumfang für eine geschlechtsspezifische Betrachtung zu gering war.
Limitationen
Im Rahmen der Studie wurden die Teilnehmenden über ihre Disziplinarvorgesetzten zur Mitwirkung aufgerufen, wenn auch die Teilnahme freiwillig war. Dies mag zu einer verzerrten Repräsentativität geführt haben. Weiter haben einige Teilnehmende nach der Information über Art und Inhalte der Befragung nicht an dieser teilgenommen. Die Aussagekraft ist bei der kleinen Stichprobengröße limitiert.
Im Vorfeld wurde keine Baseline-Studie zum Ausschluss von vorangegangenen Traumata oder tiefgreifenden Erlebnissen durchgeführt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich im Kollektiv Teilnehmende befanden, welche schon vorher belastet waren. So können z. B. Auslandseinsätze, Autounfälle, das unmittelbare Erleben von Tod oder lebensgefährliche Situationen bei sich selbst bzw. bei nahestehenden Personen zu einer PTBS führen [12]. Belegt ist, dass Menschen in der Bevölkerung im Schnitt ein traumatisches Erlebnis in ihrem Leben haben [14]. Aufgrund der fehlenden Ausgangswerte könnten vorliegende Ergebnisse ggf. falsch interpretiert werden. Nachweislich zeigen die Betroffenen, die eine PTBS oder andere psychosomatische Erkrankungen entwickeln, erst viel später Symptome, da die Verdrängung in vielen Fällen zuerst einsetzt [20]. Die Selbstbeurteilung stellt sich nicht immer authentisch dar, da das Trauma-Gedächtnis zu Erinnerungsverzerrungen führen kann [3][13].
Schlussfolgerungen
Die Teilnehmenden der Amtshilfegruppe zeigten sechs Monate nach dem Ereignis keine Verschlechterung, sondern eher eine tendenziell höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität als diejenigen in der Kontrollgruppe. Geschlechtsspezifische Unterschiede gab es keine. Die Ergebnisse legen nahe, dass die gesundheitsbezogene Lebensqualität bei den Einsatzkräften vor Ort nicht wie bei den Betroffenen durch das potenzielle Trauma beeinflusst wird. Es scheint, dass Soldaten durch Einheitskohäsion, durch ihre physische sowie psychische Verfassung und den Beruf besser auf solche Ereignisse vorbereitet sind und womöglich durch positive Auswirkungen auf ihre gesundheitsbezogene Lebensqualität und erhöhtes Selbstwirksamkeitserleben im Sinne eines posttraumatischen Wachstums profitieren können. Derartige Untersuchungen zum Erfassen der psychischen Gesundheit sind sinnvoll, um Führungsentscheidungen zu begleiten.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Emser T, Schiffer V, Hanhart N, Wesemann U, Muschner P, Dierich A, Willmund G: Lebensqualität als ein Resilienzfaktor bei Sanitätskräften im Katastropheneinsatz. WMM 2024; 68(4): 161-169.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-270
Für die Verfasser
Oberstarzt Dr. Thomas Emser
Sanitätsunterstützungszentrum Cochem
An der Hauptwache, 56812 Cochem
E-Mail: thomasemser@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Emser T, Schiffer V, Hanhart N, Wesemann U, Muschner P, Dierich A, Willmund G: [Quality of Life as a Resilience Factor of Medical Forces in Disaster Operations.] WMM 2024; 68(4): 161-169.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-270
For the Authors
Colonel (MC) Dr. Thomas Emser, MD
Major Medical Clinic Cochem
An der Hauptwache, D-56812 Cochem
E-Mail: thomasemser@bundeswehr.org
1 Am 19. Dezember 2016 hatte ein islamistischer Terrorist einen Lastwagen entführt und war in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz gefahren. Durch die Tat starben insgesamt 13 Menschen, einer von ihnen Jahre später an den Folgen. Mehr als 70 Menschen wurden verletzt, manche von ihnen schwer.
Clinical Pathway der Funktionsdiagnostik bei endokriner Hypertonie im Sanitätsunterstützungszentrum Wilhelmshaven
Clinical Pathway of Functional Diagnostics in Endocrine Hypertension in the Bundeswehr Major Medical Clinic Wilhelmshaven
Inga Missala
a Sanitätsunterstützungszentrum Wilhelmshaven
Zusammenfassung
Die arterielle Hypertonie ist die häufigste klinische Diagnose in den westlichen Ländern. Die sekundären Ursachen der Hypertonie umfassen renale Pathologien sowie endokrine Erkrankungen. Die endokrine Hypertonie repräsentiert ca. 10–20 % aller Fälle. Hauptursachen dieser Art der Hypertonie sind der primäre Hyperaldosteronismus, das Cushing Syndrom und das Phäochromozytom. Eine frühe und exakte Diagnosestellung bietet die Möglichkeit einer optimalen Therapie mit spezifischen pharmakologischen und operativen Ansätzen und verbessert die Prognose der Erkrankung. In diesem Beitrag werden die unterschiedlichen Erkrankungsentitäten mit dem Fokus auf den primären Hyperaldosteronismus und das Cushing Syndrom bezüglich der Prävalenz, des klinischen Erscheinungsbildes und der aktuellen Diagnostikpfade dargestellt. Hervorzuheben ist, dass die pandemische Entwicklung von Übergewicht mit einem signifikanten Anstieg metabolischer Erkrankungen und explizit der arteriellen Hypertonie insbesondere beim soldatischen Klientel eine diagnostische und therapeutische Herausforderung und ein einsatzrelevanter Aspekt ist.
Schlüsselwörter: endokrine Hypertonie, primärer Hyperaldosteronismus, Cushing Syndrom
Summary
Arterial hypertension is the most common diagnosis in Western countries. The secondary causes of hypertension include mostly renal as well as endocrine diseases. Endocrine hypertension represents around 10–20 % of all hypertension cases. The most frequent causes of endocrine hypertension are primary hyperaldosteronism, Cushing’s syndrome, and pheochromocytoma. An accurate and early diagnosis of endocrine hypertension offers the opportunity to achieve an optimal treatment with either specific pharmacologic or surgical therapy and improves the prognosis. In this paper, the different causes of endocrine hypertension with a focus on primary hyperaldosteronism and Cushing´s syndrome, prevalence, clinical presentation, and current diagnostic tools are described. It should be noted that the pandemic development of obesity with a significant increase in metabolic diseases, in particular arterial hypertension, plays a big role, especially among the soldier clientele, and is a diagnostic and therapeutic challenge as well as often a limiting factor for a deployment.
Keywords: endocrine hypertension; primary hyperaldosteronism; Cushing´s syndrome
Einleitung und Hintergrund
Die arterielle Hypertonie zählt mit einer Prävalenz von 25 bis 30 % in der westlichen Bevölkerung zu den häufigsten chronischen Erkrankungen und ist ein wesentlicher Risikofaktor für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität [2][8]. Bei ca. 10 bis 20 % aller Patienten mit dieser Erkrankung besteht ein sekundärer Bluthochdruck, wobei endokrine Ursachen am häufigsten sind [5]. Fünfzehn endokrinologische Erkrankungen präsentieren als primäre Symptomatik eine arterielle Hypertonie. Im Weiteren wird auf den primären Hyperaldosteronismus und das Cushing-Syndrom näher eingegangen.
Die Fachärztliche Untersuchungsstelle I am Facharztzentrum Wilhelmshaven bietet bundeswehrweit einmalig eine im Schwerpunkt endokrinologische Funktionsdiagnostik an. Das epidemiologisch interessante Soldatenkollektiv im Alter zwischen 20 und 60 Jahren bietet durchaus eine signifikante Prävalenz an endokrinen Hypertonieformen, welche als „rare diseases“ oft schwer zu diagnostizieren sind. Der vorliegende Beitrag soll anhand von Falldarstellungen die endokrine Funktionsdiagnostik veranschaulichen und entscheidende Aspekte aufzeigen.
Falldarstellungen
Fall 1: Männlicher Patient, Soldat, 37 Jahre, Adipositas II°, arterielle Hypertonie II-III°, Beinödeme: hypokaliämischer primärer Hyperaldosteronismus (M. Conn)
Anamnese
Die Vorstellung erfolgte zur endokrinologischen Mitbeurteilung bei ausgeprägter Hypertonie und Adipositas. Der Patient klagte über eine deutliche Bewegungslimitierung durch die Beinödeme. Eine weitergehende Abklärung hatte Ende April 2023 auswärts stattgefunden und blieb ohne Hinweise für eine kardiale Erkrankung. In den letzten Jahren war eine progrediente Gewichtsentwicklung zu verzeichnen.
Medikamente
Ramipril (ACE-Hemmer) 5 mg 1–0-1, Amlodipin (Kalzium-Antagonist) 5 mg 1–0-0.
Klinische Daten
Alter 37Jahre, Gewicht 138 kg, Größe 186 cm, BMI 38 kg/m², RR 190/125 mmHg.
Labordiagnostik:
23. Mai 2023 (Normwerte in Klammern):
Aldosteron [ng/l]: 95 (liegend 12–236, stehend bis 353)
Renin direkt [mU/l] 7 (liegend 3–40, stehend 4–56)
ARQ: 46 (< 19)
Kalium [mmol/l]: 3 (3,5–3,1).
Der Aldosteron-Renin-Quotient (ARQ) wird in der Differenzialdiagnostik bei Hypertonieabklärung als Screeningverfahren zum Ausschluss eines primären Hyperaldosteronismus (Conn-Syndrom) eingesetzt.
Verlauf und Outcome
Bei dem Patienten wurde anhand der Laborkonstellation biochemisch (Aldosteronwerte > 200 ng/l und mit einem plausiblen Kochsalzbelastungstest, Tabelle 1) ein hypokaliämischer primärer Hyperaldosteronismus diagnostiziert. Im Rahmen einer MRT-Untersuchung mit Chemical Shift (spezielle MRT-Sequenz zur Erkennung von pathologischem Fettgehalt) konnte entprechend ein Nebennierenadenom rechts (14 mm) lokalisiert werden (Abbildung 1).
Abb. 1: MRT der Nebennieren T2 coronar, Nebennierenadenom rechts 14 mm (Pfeil) (Bildquelle über Facharztzentrum Wilhelmshaven)
Die Plasmametanephrin-Werte waren unauffällig und somit ein Phäochromozytom nicht wahrscheinlich. Ein möglicher koexistenter Hypercortisolismus konnte mittels Dexamethasonhemmtest und Cortisolspeichelprofilen (Mitternachtskortisol) ausgeschlossen werden.
Die Adrenalektomie rechts erfolgte im Oktober 2023 laparoskopisch. Wenige Wochen postoperativ konnte eine deutliche Verbesserung des Allgemeinzustandes, die vollständige Regredienz der Ödeme und eine signifikante Verbesserung des Blutdruckprofils (150/90 mmHg im Mittel) erreicht werden. Eine antihypertensive Therapie wurde mit Valsartan/Amlodipin 80/5 mg 1–0-1 weitergeführt. Der biochemische Outcome nach Adrenalektomie war erfolgreich (Aldosteron 28 ng/l, Renin 17mU/l, ARQ 3).
Zusammenfassung des Krankheitsbildes und Empfehlung
In Metaanalysen internationaler Kohorten wird von einer Prävalenz des primären Hyperaldosteronismus bei 8 % aller Hypertoniepatienten ausgegangen [1]. Die Wahrscheinlichkeit steigt mit dem Vorliegen einer Hypokaliämie und zunehmendem Grad der Hypertonie. Die laborchemische Diagnostik sollte erst nach testgerechter Anpassung der antihypertensiven Medikation erfolgen. Eine Woche vor Bestimmung des ARQ (Aldosteron-Renin-Quotient) sollte die antihypertensive Therapie auf z. B. Doxazosin (Alphablocker 4–8 mg/d) oder Urapidil (Sympatholytikum,max. 2x90 mg) oder Verapamil (selektiver Calciumkanalblocker, max. 2x240 mg) oder Dihydralazin (Vasodilatator, max. 2x50 mg) umgestellt werden. MRA (Mineralokortikoid Antagonisten) sollten 4 Wochen vor Testung pausiert werden. Es sollte stets ein koexistenter Hypercortisolismus ausgeschlossen werden.
Bei einem Aldosteronspiegel von deutlich < 200 ng/l und Hypokaliämie ist ein Bestätigungstest nicht erforderlich. Ansonsten sollte bei Patienten ohne kardiale Erkrankung ein Kochsalzbelastungstest (intravenöse NaCl-Infusion, Tabelle 2) angewendet werden. Ergänzend kann eine Bestimmung von Aldosteron-18-Glukuronid im Urin erfolgen. Alternativ steht der Captopril-Test zur Verfügung (ACE-Hemmer, 50 mg Captopril oral, Messungen Aldosteron und Renin nach 60 und 120 min; ausbleibende Suppression der bereits basal erhöhten Aldosteronkonzentration und keine oder nur geringe Stimulation der zumeist basal supprimierten Reninkonzentration).
Tab. 2: Beispiel-Testprotokoll Kochsalzbelastungstest am Facharztzentrum Wilhelmshaven [4]
Hinsichtlich der Bildgebung ist die Computertomografie aufgrund der besseren Ortsauflösung der Kernspintomographie überlegen. Bei Kernspinuntersuchungen der Nebennieren sollte hinsichtlich der besseren Gewebsdifferenzierung eine Chemical Shift-Analyse erfolgen. Gelingt eine Lateralisierung nicht, wird eine Nebennierenvenenkatheteruntersuchung erforderlich (dies ist nur an spezialisierten Zentren zuverlässig möglich).
Differenzialdiagnostisch kommen ein Cushing-Syndrom, ein Phäochromozytom (Bestimmung der Plasmametanephrine wie Normetanephrin, Metanephrin > 4fach des Normwertes mit Blutentnahme im Liegen nach 30 min) oder eine Niedrig-Renin-Hypertonie (Lakritzabusus, 11-ß-Hydroxylasemangel, Liddle-Syndrom (Ionenkanalerkrankung der renalen Sammelrohre)) in Frage.
Therapeutisch ist bei unilateraler Erkrankung eine laparoskopische unilaterale Adrenalektomie angezeigt. Bei bilateraler Nebennierenhyperplasie oder Inoperabilität sollte eine Mineralkorticoid-Antagonisten (MRA)-Therapie eingesetzt werden.
Postoperativ sollte eine klinische und biochemische Nachsorge erfolgen. Die Patienten unter MRA-Therapie sollten jährlich kontrolliert werden. Die kardiovaskuläre Morbidität geht deutlich zurück bei einem adäquat behandeltem primären Hyperaldosteronismus. Im Vergleich ist die Mortalität nach adäquater Behandlung vergleichbar zu dem Patientenkollektiv mit essenzieller Hypertonie [2][4]. Die klinisch vollständige Remission der Erkrankung im Sinne der Blutdrucknormalisierung ist meist nur bei jüngeren Patienten mit einer geringen Hypertoniedauer möglich.
In Zusammenschau ist somit durch eine adäquate Identifizierung der Erkrankung eine Remission/Heilung und eine deutliche Senkung der kardiovaskulären Morbidität bei unserem jungen Soldatenklientel möglich und trägt zum langfristigen Erhalt der Dienstfähigkeit und Steigerung der kardiovaskulären Fitness bei.
Fall 2: Männlicher Patient, Soldat, 32 Jahre, stammbetonte Adipositas I°, arterielle Hypertonie II°, Facies lunata: zentraler, ACTRH-abhängiger Hyperkortisolismus, M. Cushing
Anamnese
Die Vorstellung erfolgte zur endokrinologischen Mitbeurteilung bei arterieller Hypertonie II° und progredienter Gewichtszunahme. Im Rahmen einer Appendektomie im September 2020 waren ausgeprägt erhöhte Blutdruckwerte aufgefallen. In den letzten Monaten bestanden eine zunehmende Leistungsminderung und Gewichtszunahme. Auch veränderte sich die Gesichtsform. Der Patient erhielt keine Medikation.
Klinische Daten
Alter 32 Jahre, Gewicht 103 kg, Größe 188 cm, BMI 29,1 kg/m², RR 150/100 mmHg, Facies lunata, beginnende Stammfettsucht, Schwäche der prox. Extremitätenmuskulatur, Striae rubrae.
Labordiagnostik (Normalwerte in Klammern)
- 1 mg Dexamethason-Hemmtest: keine Cortisolsuppression 19,6 ug/dl (6,02–18,4 ug/dl, gemessen zwischen 6 und 10 Uhr), ACTH mit 60 ng/l (7,2–63,3) trotz des hohen Cortisols erhöht im oberen Referenzbereich.
- Basales ACTH stets deutlich erhöht bei erhöhtem Cortisol; Mitternachtscortisol im Speichel mehrfach deutlich erhöht, keine circadiane Rhythmik vorhanden.
- Abgestufter Dexamethason-Hemmtest: 3 Tage ohne Cortisolsuppression 17 ug/dl, ACTH erhöht mit 112 ng/l.
- CRH-Test: initial ACTH 80,1 ng/l, stimulierbar auf 112 ng/l; Cortisol initial 24,7 ug/dl stimulierbar auf 29,5 ug/dl.
Verlauf und Outcome
Bei dem Patienten wurde bei typischer klinischer Symptomatik ein zentraler ACTH-abhängiger Hyperkortisolismus biochemisch gesichert werden. Das ACTH war basal stets erhöht und konnte im abgestuften Dexamethasonhemmtest kaum supprimiert. Im CRH-Test kam es zu einer signifikanten Aktivierung der hypophysär-adrenalen Achse. Neuroradiologisch wurde ein Mikroadenom der Hypophyse rechts (3x4 mm) nachgewiesen (Abbildung 2).
Abb. 2: MRT der Sella-Region, Mikroadenom der Hypophyse 3x4mm rechts (Pfeil) (Bildquelle über Facharztzentrum Wilhelmshaven)
Laborchemisch und klinisch konnten die typischen Begleitphänomene des Hyperkortizismus bestätigt werden: Hypokaliämie als Ausdruck des mineralocorticoiden Effektes bei Hyperkortisolismus, sekundärer Hypogonadismus, beginnende metabolische Veränderungen. Auffällig war eine partielle, zentrale thyreotrope Insuffizienz, am ehesten zu deuten als Verdrängungseffekt durch den Tumor.
Im Juni 2023 erfolgte eine transsphenoidale Resektion des Mikroadenoms am Universtitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Hierbei gelang eine vollständige Adenomentfernung. Postoperativ stellte sich erwartungsgemäß eine hypothalamische Nebenniereninsuffizienz mit der Notwendigkeit einer Hydrocortisonersatztherapie ein. Postopertiv war eine prolongierte Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin erfolgt.
Nach 1,5 Jahren konnte bei unauffälliger und physiologischer Stimulierbarkeit des endogenen Cortisols mittels ACTH-Testung die Hydrocortisonersatztherapie ausgeschlichen werden. Der Patient war nach einer ambulanten und stationären Rehabilitation wieder komplett körperlich belastbar und konnte alle IGF-Leistungen ohne Einschränkungen erfüllen. Alle hypophysären Hormon Achsen waren intakt. Eine MRT-Untersuchung der Sella-Region vom Juni 2023 ergab keine Hinweise für einen Rezidiv. Weiterhin bestehen keine Hinweise für residuelle Komorbiditäten. Es erfolgt eine regelmäßige 1–2x jährliche endokrinologische Nachsorge.
Bemerkenswert an diesem Fall war eine sehr schnelle Diagnosestellung (nach ca. 6 Monaten) durch eine enge Zusammenarbeit zwischen dem zuständigen Truppenarzt und der FU I Wilhelmshaven.
Zusammenfassung
Das endogene Cushing-Syndrom (0,3 % der hypertensiven Patienten) ist Folge einer autonomen Mehrsekretion von Cortisol mit typischen metabolischen Veränderungen, Hautsymptomen und morphologischen Veränderungen. Abgegrenzt werden sollte eine zentrale, adrenale oder ektope Cortisolmehrsekretion. Problematisch ist eine lange Latenz (bis zu 6 Jahre) bis zur endgültigen Diagnosestellung und Therapie wegen schwieriger Diagnostik des pleomorphen Krankheitsbildes der unbehandelt tödlichen Erkrankung.
Die Diagnostik erfolgt in drei Schritten. Zunächst erfolgt die biochemische Diagnosesicherung (Dexamethasonhemmtest und 2x Mitternachtscortisol im Speichel gemäß (Tabelle 3) oder 2x Kortisol im 24-Stunden-Sammelurin [6]). Fallen 2 Tests unauffällig aus, ist ein Hypercortisolismus in der Regel ausgeschlossen.
Besteht keine ausreichende Cortisol-Suppression im Dexamethason-Hemmtest (mögliche autonome Cortisolsekretion: Cortisol 1,9–5 ug/dl), sollte eine weitere Differenzierung mittels abgestuftem Dexamethasonhemmtest erfolgen (Tabelle 4).
Im 2. Schritt muss zwischen einem zentralen oder adrenalen Morbus Cushing unterschieden werden (erhöhtes basales ACTH und Stimulierbarkeit des ACTH im CRH-Test (Tabelle 5) sprechen für eine zentrale Genese). Anschließend sollte eine Abgrenzung zu einer möglichen ektopen ACTH-Sekretion erfolgen (starre autonome ACTH-Sekretion mit starker Erhöhung des Plasma-ACTH und Serumcortisol bei ektoper/paraneoplastischer Form).
Die Bildgebung sollte immer erst nach der biochemischen (laborchemischen) Diagnosesicherung erfolgen, da adenomatöse Veränderungen der Nebennieren und der Hypophyse in der Normalbevölkerung (bis zu 10 %) möglich sind. Beachtet werden sollte weiterhin, dass bei bis zu 40 % der Patienten mit M. Cushing die Bildgebung negativ ist. In manchen speziellen Fällen kann die Durchführung eines Sinus-petrosus-Katheters notwendig werden.
Differenzialdiagnostisch muss an erster Stelle der milde, funktionelle Hypercortisolismus bei metabolischem Syndrom mit Adipositas oder bei Depression erwähnt werden. Weiterhin können eine Niereninsuffizienz, ein Alkoholabusus oder eine Ovulationshemmereinnahme (Erhöhung des Serumcortisols durch die Erhöhung des Cortisol-bindenden-Proteins) einen Hypercortisolismus induzieren. Eine exogene Glukokortikoideinnahme führt selbstverständlich ebenfalls zu einem messbaren Hypercortisolismus.
Die Therapie eines Cushing-Syndroms erfolgt primär chirurgisch (transsphenoidale Hypophysenoperation), wobei die Mitwirkung eines interdisziplinären endokrinen Tumorboards und die Expertise des Operateurs von entscheidender Bedeutung sind. Bei inoperablen Tumoren oder als Zweitlinientherapie bei erfolgloser Hypophysenoperation stehen neben einer stereotaktischen Therapie auch die Pharmakotherapie mit dem Somatostatinanalogon Pasireotid oder adrenostatische Therapie (Ketokonazol (Antimykotikum), Metyrapon (11-ß-Hydroxylasehemmer)) zur Verfügung.
Nach Entfernung des ACTH- bzw. Cortisol-produzierenden Tumors stellt sich eine hypothalamische Nebenniereninsuffizienz ein. Im Median dauert diese bis zu 1,5 Jahren bei zentralem Cushing-Syndrom. Umgehend postoperativ ist eine Hydrocortisonersatztherapie erforderlich.
Bei ACTH-abhängigem, zentralen Cushing Syndrom ist aufgrund von Komorbiditäten (Depression, metabolisches Syndrom, Osteoporose) und des Rezidivrisikos eine lebenslange endokrinologische Nachsorge erforderlich. Auch nach erfolgreicher Therapie bleibt die Mortalität höher als beim Kontrollkollektiv mit kardiovaskulären Erkrankungen [1].
Schlussfolgerungen
Die arterielle Hypertonie ist eine chronische Erkrankung, die in den westlichen Industrienationen bis zu ein Viertel der Gesamtbevölkerung betrifft. Die ausgeprägte Prävalenz wird auch insbesondere in der soldatischen Sprechstunde deutlich. Etwa zwei Dittel der Patienten mit arterieller Hypertonie sind nicht oder nicht ausreichend behandelt. Die Ursachen für eine nicht ausreichende Blutdruckkontrolle sind vielfältig und reichen von einer nicht ausreichenden medikamentösen Therapie, mangelnder Therapieadhärenz bis zu einer unerkannten sekundären Hypertonie.
Die Diagnostik der endokrinen Erkrankungen als mögliche Ursache der arteriellen Hypertonie ist aufwändig, logistisch schwierig umzusetzen (Präanalytik, lange Transportwege zu Vertragslaboren) und bedarf einer fundierten Fachkenntnis. Anhand von Falldarstellungen und konkreten Testprotokollen wurden die klinischen diagnostischen Pfade der insgesamt epidemiologisch seltenen Erkrankungen dargestellt.
Insbesondere bei dem überwiegend jungen soldatischen Patientenkollektiv sollte bei therapieresistenter Hypertonie oder jungem Alter stets an eine endokrine oder sekundäre Hypertonieform gedacht werden und eine fachspezifische Diagnostik eingeleitet werden. Zwischen dem Bestehen des Bluthochdrucks und der Rate kardiovaskulärer Folgeerkrankungen besteht ein klarer Zusammenhang. Ein konsequentes und fachgerechtes Screening auf die behandelbaren sekundären Hypertonieursachen verhindert kostenintensive, lebens- und dienstlimitierende Folgeerkrankungen.
Literatur
- Diederich S, Feldkamp J, Grüßendorf M, Reinke M: Referenz Endokrinologie und Diabetologie. Stuttgart: Thieme 2020: 54-63.
- Diederich S, Feldkamp J, Grüßendorf M, Reinke M: Referenz Endokrinologie und Diabetologie. Stuttgart: Thieme 2020: 220-223.
- Diederich S, Feldkamp J, Grüßendorf M, Reinke M: Referenz Endokrinologie und Diabetologie. Stuttgart: Thieme 2020: 622-639.
- Funder JW, Carey RM, Manteron F, et al.: The management of primary aldosteronism: case detection, diagnosis, and treatment: An Endocrine Society Clinical Practice Guideline. J Clin Endocrinol Metab 2016; 101:1889-1916. mehr lesen
- Kearney PM, Whelton M, Reynolds K, et al.: Global burden of hypertension: analysis of worldwide data. Lancet 2005; 365(9455): 217-23. mehr lesen
- Rossi GP, Seccia TM, Pessina AC: Clinical use of laboratory tests for the identification of secondary forms of arterial hypertension. Crit Rev Clin Lab Sci 2007; 44(1): 1–85. mehr lesen
- Vogel F, Braun L, Reinke M: Morbidität und Mortalität beim Cushing-Syndrom, Internist 2022; 63: 34-42. mehr lesen
- Wolf-Maier K, Cooper RS, Banegas JR, et al: Hypertension prevalence and blood pressure levels in 6 European countries, Canada, and the United States. JAMA. 2003; 289(18): 2363-2369. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Missal I: Clinical Pathway der Funktionsdiagnostik bei endokriner Hypertonie im Sanitätsunterstützungszentrum Wilhelmshaven. WMM 2024; 68(4): 169-175.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-274
Verfasserin
Oberfeldarzt Inga Missal
Sanitätsunterstützungszentrum Wilhelmshaven
Alfred-Eckhardt-Str. 1, 26384 Wilhelmshaven
E-Mail: ingamissal@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Missal I: [Clinical Pathway of Functional Diagnostics in Endocrine Hypertension in the Bundeswehr Major Medical Clinic Wilhelmshaven]. WMM 2024; 68(4): 169-175.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-274
Author
Lieutenant Colonel (MC) Inga Missal, MD
Major Medical Clinic Wilhelmshaven
Alfred-Eckhardt-Str. 1, D-26384 Wilhelmshaven
E-Mail: ingamissal@bundeswehr.org