Wie können regionale sanitätsdienstliche Einheiten die medizinische Versorgung im Falle eines Angriffs sicherstellen?
Implementierung präklinischer Versorgungsstrategien aus dem Einsatz bei den Sanitätsversorgungszentren: Ergebnisse eines Erprobungsversuchs
How Can Regional Military Medical Clinics Ensure Medical Care in the Event of an Attack?
Implementing Preclinical Care Strategies at Military Medical Clinics: Results of a Test Trial
Christoph Rubberta, Diethard Kucharskib, André Wildenc, Tim Westermannd, Robert Hölschera, Monika vom Steine, Markus Herwegf
a Sanitätsunterstützungszentrum Köln-Wahn
b Sanitätsversorgungszentrum Bonn
c Sanitätsversorgungszentrum Kerpen
d Sanitätsversorgungszentrum Kalkar
e Sanitätsunterstützungszentrum Köln-Wahn, Sanitätsstaffel Einsatz
f Sanitätsregiment 2, Ausbildungs- und Simulationszentrum, Koblenz
Zusammenfassung
Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) für die Bundeswehr nach jahrzehntelanger Minderbewertung wieder oberste Priorität erreicht. Aufgrund dieser veränderten Weltlage darf ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile innerhalb des deutschen Staatsgebietes bei militärischen und strategischen Planungen nicht unberücksichtigt bleiben. Im Falle eines solchen Angriffs wäre das Personal der vor Ort befindlichen Sanitätsversorgungszentren in der ersten notfallmedizinischen Versorgung von Verwundeten eingebunden, bis eine weitere Versorgung durch regionale zivile Rettungsdienstorganisationen übernommen werden könnte. Aufgrund des nahezu ausschließlichen Friedensbetriebs auf Ebene der Sanitätsversorgungszentren fehlt dem dort eingesetzten Personal überwiegend die Handlungskompetenz für eine sachgerechte und notfallmedizinische Versorgung unter den Einflüssen von Gefechts- und Kriegshandlungen. Das hier vorgestellte Konzept „Erweiterte Grundbefähigung der regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen im Falle der Landes- und Bündnisverteidigung“ kann als Grundlage für die Generierung notfallmedizinischer Handlungskompetenz für das Personal der Sanitätsversorgungszentren unter gefechts- und kriegstypischen Bedingungen dienen.
Schlüsselwörter: Landes- und Bündnisverteidigung, Massenanfall von Verletzten, Tactical Combat Casualty Care, Sanitätsversorgungszentren
Summary
With Russia‘s attack on Ukraine, the national and alliance defense has again become a top priority for the Bundeswehr after decades of undervaluation. Due to the changed world situation, an attack on departments and troops on German territory with ballistic weapon systems cannot and must not be ignored in military and strategic planning. In the event of such an attack, the staff of the local medical care centers would be involved in the initial emergency medical care of the wounded until regional, civilian emergency service organizations could provide further care. Due to the almost exclusive peacetime operations at the level of medical care centers, the staff largely needs to gain the competence to deliver appropriate and emergency medical care under the influence of combat and war. The concept of “extended basic qualifications of regional medical facilities in the case of national and alliance defense” can serve as a basis for generating emergency medical competence for the staff in medical care centers under conditions typical of combat and war.
Key words: national and alliance defense; mass casualty incident; tactical combat casualty care; military medical clinics
Hintergrund
Nach Ende des „Kalten Krieges“ entwickelte sich die Bundeswehr weg von zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigten Streitkräften zu einer Armee, die ihren Auftrag zunehmend in der Befähigung zur Teilnahme an Einsätzen im Rahmen des Internationalen Krisen- und Konfliktmanagements (IKM) sah. Dieser Ausrichtung geschuldet lag der Fokus des Sanitätsdienstes einerseits nahezu ausschließlich auf der Versorgung in den Einsätzen im Rahmen des IKMs, andererseits gab es den Schwerpunkt der truppenärztlichen, in der Regel allgemeinmedizinischen Versorgung in den regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen (RegSanEinr) im Friedensbetrieb.
Entlang der Rettungskette auf Ebene der Role 1 wurden die notfallmedizinischen Versorgungsstrategien der Tactical Combat Casualty Care (TCCC) etabliert, um unter den Einflüssen des Gefechts ein Überleben von Verwundeten durch wenige effektive, aber frühzeitig konsequent angewandte Maßnahmen zu ermöglichen [1]: Die Ausbildung der Qualifikationsstufe II beinhaltet teilweise invasive Maßnahmen und ist inhaltlich auf die präklinischen Erstmaßnahmen im Gefecht ausgerichtet. Die frühzeitige Erstversorgung von spezifischen Verwundungsmustern nach Algorithmen ist auf vermeidbare Todesursachen ausgerichtet. „Die Ausbildung ist gemäß den Grundprinzipien des Tactical Combat Casualty Care (TCCC) [3][4][5][8] und einsatzbasiert zu gestalten“. Exemplarisch sind hier die Qualifikation des Ersthelfer Bravo (EH-B) sowie des Combat First Responders (CFR), Stufe Alpha bis Charlie für nicht sanitätsdienstliches Personal zu nennen.
Sanitätsdienstliches Personal wurde entsprechend der medizinischen Qualifikationsstufe zur Erlangung der Einsatzbefähigung durch verschiedene Trainingsformate zur notfallmedizinischen Versorgung unter einsatzspezifischen Gefechtsbedingungen für den Einsatz befähigt [2]: „Durch wehrmedizinische Zusatzausbildung werden Ärztinnen und Ärzte zum Arzt Rettungsmedizin, Notfallsanitäter zum Einsatznotfallsanitäter bzw. Einsatznotfallsanitäterin und Rettungssanitäter zum Einsatzsanitäter bzw. Einsatzsanitäterin (EinsSan) qualifiziert.“
Dagegen erhielt mit wenigen Ausnahmen weder das militärische noch das zivile Personal in den RegSanEinr aufgrund seiner Aufgabeneinbindung in der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung (utV) eine Qualifizierung mit Bezug auf die notfallmedizinische Versorgung unter Gefechtsbedingungen.
Fokus: Landes- und Bündnisverteidigung
Beginnend mit der Annexion der Krim und spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) wieder im Fokus der Ausrichtung der Bundeswehr und die Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ der Streitkräfte bestimmt das militärische Denken und Handeln (Interview mit dem Bundesminister für Verteidigung, Boris Pistorius, in der ZDF-Sendung Berlin direkt am 29.Oktober 2023: „Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. …. Wir müssen kriegstüchtig werden“).
Unter dem Aspekt der LV/BV ist nicht auszuschließen, dass militärische Einrichtungen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland Ziel eines Angriffs mit ballistischen Waffensystemen werden können. Im Falle eines Angriffs mit zu erwartendem Massenanfall von Verwundeten (Abkürzung MANV, engl. mass of casualties, Abkürzung: MASCAL), wären die sanitätsdienstlichen Kräfte der in den betroffenen Liegenschaftsbereich verorteten Sanitätsversorgungszentren (SanVersZ) gefordert, zeitnah eine notfallmedizinische Grundversorgung auch über längere Zeit sicherzustellen, bis unterstützende Rettungskräfte, auch aus dem zivilen Bereich, die weitere Versorgung übernehmen könnten. In diesem Kontext ergibt sich die Frage, ob das militärische und das zivile Personal der RegSanEinr mit Bezug auf Ausbildung und materielle Ausstattung aktuell befähigt ist, MASCAL-Situationen über eine längere Zeitspanne hinaus vor Ort zu managen. Daran schließt sich die Folgefrage an, was zu tun ist, damit sie es werden, wenn sie es nicht sind.
Regionale Sanitätseinrichtungen in der ROLE 1?
Aufgrund der Tatsache, dass sich im Zuständigkeitsbereich des SanUstgZ Köln-Wahn mehrere SanVersZ in Liegenschaftsbereichen befinden, die aufgrund bündnisgemeinsamer Aufgaben in Verbindung mit der Luftraumverteidigung- und überwachung als Ziele oberster Priorisierungsstufe zu werten sind, wurde im Juli 2023 durch den Leiter des SanUstgZ Köln-Wahn, eine Arbeitsgruppe Landes- und Bündnisverteidigung (AG LV/BV) innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs eingesetzt, die den Auftrag hatte, ein Versorgungskonzept für die SanVersZ zu entwickeln, um in oben genanntem Fall handlungsfähig sein zu können.
Durch die AG LV/BV wurde ein Konzeptvorschlag erarbeitet, der erprobt wurde und als Ansatz dienen könnte, RegSanEinr dahingehend zu befähigen, ihre Kriegstüchtigkeit in Bezug auf die sanitätsdienstliche Versorgung bei Angriffen auf Einrichtungen der Bundeswehr im Inland herzustellen. Dabei wurde der Umstand berücksichtigt, dass entlastende rettungsdienstliche Versorgung von den umliegenden zivilen Rettungsdiensten auch deutlich verzögert eintrifft und dass Verwundetentransporte aufgrund der großen Distanzen zu geeigneten klinischen Versorgungseinrichtungen eines nicht unerheblichen Zeitansatzes bedürften.
Sachstand – Bewertung – Folgerung
Sachstand
Das Personal der SanVersZ ist nahezu ausschließlich befähigt, die sanitätsdienstliche Versorgung im Kontext mit der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung (utV) zu gewährleisten. Eine qualifizierende Ausbildung für die medizinische Versorgung unter Gefechtsbedingungen ist für dieses Personal bisher nicht vorgesehen gewesen. Eine entsprechende Expertise ist somit auch nicht vorhanden. Die materielle Ausstattung ist ebenfalls nur auf die Versorgung im Rahmen der Behandlung unter den Vorgaben der utV ausgelegt.
Entsprechende Einrichtungen sind oftmals abseits größerer Ballungsräume verortet, sodass zum einen regionale zivile Rettungsdienstbereiche meist selbst nur über begrenzte materielle und personelle Ressourcen verfügen und zum anderen auch klinische Erstversorgungseinrichtungen in relativer Nähe zum Schadensort nur unzureichend vorhanden sind.
Bewertung
Das Personal in den SanVersZ, hat i.d. R. keine ausreichende Erfahrung und Ausbildung in Bezug auf die taktische Verwundetenversorgung. Die SanVersZ verfügen zudem über keine gesonderte materielle Ausstattung für ein katastrophenmedizinisches Management von Großschadensereignissen, um primäre, bei Bedarf auch weiterführende und längerfristige Notfallversorgung vor Ort in einer Verwundetensammelstelle, dem sogenannten Casualty Collecting Point (CCP), bis zur Übergabe an Drittkräfte durchzuführen. Insgesamt ist festzustellen, dass die meisten der RegSanEinr aktuell nicht dahingehend befähigt sind, im Falle eines Angriffs auf Infrastruktur innerhalb der Liegenschaft situationsangepasst eine MASCAL-Situation bis zum Eintreffen ziviler rettungsdienstlicher Kräfte strukturiert und fachgerecht zu managen.
Folgerung
Ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen oder mit anderen Trägersystemen fordert von den vor Ort befindlichen sanitätsdienstlichen Kräften der SanVersZ im Inland eine äquivalente notfallmedizinische Versorgung von Verwundeten wie im Auslandseinsatz oder frontnahen Gefecht. Neben der zusätzlich erforderlichen Qualifizierung des Personals bedarf es zusätzlicher materieller Ausstattung sowie eines strukturierten Einsatzes des Personals innerhalb der Behandlungszone.
Ein Lösungsansatz
Auf Grundlage der Sachstandsfeststellung und dessen Bewertung sowie der daraus abgeleiteten Folgerung wurde ein Konzept ausgearbeitet, das als Grundlage dienen kann, die SanVersZ dahingehend zu befähigen, ein situationsangepasstes Versorgungsmanagement durchzuführen. Ziel war es, bestehende Konzepte zu nutzen und diese auf die Gegebenheiten bei Angriffen auf die Infrastruktur im Inland zu übertragen. Um dieses Ziel zu erreichen, orientierte sich die AG LV/BV an fünf Prüffragen, deren Beantwortung sich dann in der Konzeption abbildete.
Prüffrage 1: Gibt es Parallelen zwischen der Verwundetenversorgung im Gefecht im Rahmen des IKM oder nicht, und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?
Die Verwundetenversorgung nach Angriffen mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile im Inland weist Gemeinsamkeiten mit der taktischen Verwundetenversorgung auf Ebene der Role 1 im Gefecht bei Einsätzen im Rahmen des IKM oder der LV/BV auf. Somit können auch die drei Phasen des TCCC bei der sanitätsdienstlichen Versorgung bei einem entsprechenden Ereignis zur Anwendung kommen (Tabelle 1).
Prüffrage 2: Welche Möglichkeiten zur zusätzlichen Qualifizierung sind zu nutzen, um qualifizierte bzw. erweiterte Erstversorgung (Stichwort Prolonged Fieldcare: PFC bzw. Prolonged Casualty Care: PCC) leisten zu können?
Um die Lücke in der sanitätsdienstlichen Versorgung bei entsprechenden Schadensereignissen zu schließen, bedarf es der zusätzlichen Ausbildung des Personals in der taktischen Verwundetenversorgung. Als Vorbild dienen u. a. die bestehenden Trainingsformate für nicht sanitätsdienstliches Personal. Diese sind zunächst der „Ersthelfer Bravo (EH-B)“ und der „Combat First Responder Alpha und Bravo (CFR-A/B)“ für die erste unmittelbare Versorgung [1][3][4][6][8] und das Trainingsformat Prolonged Casualty Care (PCC)1 [6][7], jeweils nach den Vorgaben des Commitee on Tactical Combat Casualty Care (CoTCCC). Letzteres ist erforderlich, um die ggf. längeren Zeiträume bis zur Übergabe an entlastende rettungsdienstliche Kräfte zu überbrücken. Die in diesen Trainingsformaten ausgebildeten Versorgungsmaßnahmen orientieren sich an dem in der NATO standardisiert angewandten MARC2H3-PAWS-L-Behandlungsschema2 (Tabelle 2). Sämtliche Maßnahmen werden im CCP durchgeführt.
Durch Zusammenführung der verschiedenen Trainingsformate wurde für den Konzeptentwurf die Terminologie „Erweiterte Grundbefähigung der regionalen Sanitätsdienstlichen Einrichtungen für die Landes- und Bündnisverteidigung“ gewählt.
Prüffrage 3: Welche zusätzliche materielle Ausstattung in Bezug auf SanMat ist erforderlich?
Im Falle von Großschadensereignissen/MASCAL-Situationen sollte der Vorhalt von sogenannten MASCAL-Packs/-Boxen3 etabliert werden. Diese sollten vor allem solches Sanitätsverbrauchsmaterial (EVG-SanMat) enthalten, das zur Akutintervention beim Vorliegen gefechtstypischer Verwundungen vorrangig erforderlich ist und dessen Anwendung in den genannten Trainingsformaten [1][3] ausgebildet wird. In erster Linie handelt es sich dabei um Tourniquets, Nasopharyngealtuben (Wendeltuben), Entlastungspunktionskanülen zur Entlastung des Spannungspneumothorax, Systeme zur intraosseären sternalen Punktion (FAST = First Access for Shock and Trauma), Infusions- und Ergänzungssysteme (Dreiwegehahn), Infusionslösungen, Wundverbandsysteme mit Kompressionswirkung (Israeli Bandage) sowie Tragetücher, Brandwundenverbandtücher, Bergefolie und weitere materielle Ausrüstung, die nicht EVG-SanMat sind und der Dokumentation und dem Schadensmanagement dienen.
Für die Prolonged Casualty Care-Phase muss separat zusätzliches EVG-SanMat vorgehalten werden, das vor allem dem „Care“-Aspekt (d. h. der Pflege- und Folgebehandlung) Rechnung trägt. Dabei handelt es sich vorrangig um hochpotente, schnell wirksame Analgetika (i.d. R. Opiate) zur zwingend erforderlichen analgetischen und zur „End of Life“-Therapie, Breitspektrumantibiotika zur Prävention des sekundären Versterbens aufgrund systemischer Infektionen (died of wounds), Schienungs- und Lagerungsmittels sowie Ausrüstung zur Etablierung eines „chirurgischen“ Atemwegs und zur Minithorakotomie, zur Escharatomie (Entlastungsschnitte bei zirkulären Verbrennungen ab Verbrennungsgrad IIb), sowie um weitere Ergänzungsausstattung, zum Beispiel für Woundpacking und zur Erstversorgung von Augenverletzungen [5][6][7].
Die eigentliche Notfallausrüstung des SanVersZ wird nur auf Entscheid des sanitätsdienstlichen Führers vor Ort, des Military Incident Officier (MIO)4 eingesetzt. Zudem ist Ausrüstung erforderlich, die im Zusammenhang mit einsatzablauftechnischen Erfordernissen und dem Management der Schadenslage an sich stehen. Dabei handelt es sich u. a. um sogenannte Triagekarten.
Prüffrage 4: Wie kann eine strukturierte Ablauforganisation beim MASCAL aufgebaut werden?
In Bezug auf die sanitätsdienstliche Regulierung der Schadenslage übernimmt die Leiterin/der Leiter des SanVersZ oder seine Vertreterin/sein Vertreter die Funktion eines MIO mit folgenden Aufgaben wahr:
Bestimmung der triagierenden Sanitätsstabsoffizier (Arzt),
- Bestimmung des triagierenden Sanitätsstabsoffiziers (Arzt),
- 2. Festlegung und Strukturierung des CCP in Absprache mit dem nichtärztlichen Verantwortlichen an der Schadensstelle,
- Einteilung des Personals in den einzelnen Sektionen und Bereichen des CCP,
- Führen der medizinischen Dokumentation,
- Kommunikation mit eintreffenden medizinischen Kräften und
- Festlegen der Transportreihenfolge.
Prüffrage 5: Welche Maßnahmen sind an den Schnittstellen „Sanitätsdienst zu Truppe“ und „Sanitätsdienst zu zivilen Rettungsdiensten“ zu treffen?
Die sanitätsdienstliche Versorgung ist nur eine Komponente eines einsatztaktischen Gesamtkonzepts der militärischen Führung vor Ort. Wesentliche Bedeutung erlangt hierbei die Kommunikation zwischen der truppen- und der sanitätsdienstlichen Führung. Seitens der truppendienstlichen Einsatzleitung ist die sanitätsdienstliche Versorgung dahingehend zu unterstützen, dass die Zuführung der Verwundeten vom Schadensort zum CCP mittels behelfsmäßigen Verwundetentransports (CASEVAC = Casual Evacuation) durchgeführt wird.
Abb. 1: Eintreffen der Verwundeten am CCP nach CASEVAC
Bezüglich der Schnittstelle „Sanitätsdienst zu zivilen Rettungsdiensten“ ist die Kommunikation zur zivilen Rettungsleitstelle und zu den medizinischen Führungsinstitutionen, Leitender Notarzt (LNA) und Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OrgL) von entscheidender Bedeutung. Mit Eintreffen des LNA am CCP sollte dieser die sanitätsdienstliche Führung übernehmen, da er die lokale sanitätsdienstliche Vernetzung und somit Kenntnis bezüglich der verfügbaren Rettungsmittel und klinischen Versorgungseinrichtungen hat.
Konzepterprobung
Phase 1: Ausbildung des Personals des SanVersZ Kalkar
In Phase 1 wurde Personal des SanVersZ Kalkar in die Maßnahmen zur Erlangung der Erweiterten Grundbefähigung RegSanEinr unterwiesen. Neben einer Unterrichtung hinsichtlich der Verletzungsmuster nach Einwirkung von Explosivkampfmitteln auf den menschlichen Körper und einsatzorganisatorischer Grundsätze erfolgte die praktische Ausbildung. Den Abschluss bildete die Evaluation des Trainings. Neben der Bewertung der einzelnen Ausbildungsblöcke erfolgte eine allgemeine Bewertung anhand von drei Kernfragen, mit denen die Teilnehmenden zur Stellungnahme bezüglich der Notwendigkeit der Ausbildung und Praktikabilität der erlernten Maßnahmen sowie zur Abgabe einer Gesamtbewertung aufgefordert wurden.
Ergebnisse der Konzepterprobungsphase 1:
Ausbildung im MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus und Aufbau eines CCP
Die abschließende Gesamtbewertung erfolgte anhand von Noten zwischen 1 = sehr gut bis 5 = mangelhaft.
Sämtliche Teilnehmenden bewerteten die Ausbildung mit der Gesamtnote 1.
Phase 2: Die Erprobungsübung am Standort Kalkar
Die Angehörigen des SanVersZ Kalkar waren in der Erprobungsübung gefordert, einen CCP nach den konzeptionellen Vorgaben zu betreiben und die Verwundetenversorgung simuliert nach dem MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus durchzuführen. Darüber hinaus galt es, die Verbindung zur „bergenden Truppe“ und zum zivilen Rettungsdienst aufzubauen und in Abhängigkeit des jeweils vorliegenden Verletzungsmusters bei jedem Verwundeten das materielle Fehl, das zur Versorgung erforderlich gewesen wäre, zu erfassen.
Abb. 2: Versorgung eines Verwundeten nach dem MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus im CCP
Die Einsatzleitung am Schadensort wurde durch Angehörige des Dienststellenbereichs des Kasernenkommandanten gestellt. Durch diesen wurden sowohl Bergungs- als auch CASEVAC-Kräfte mit Fahrzeugen eingesetzt. Vom zivilen Rettungsdienst waren der Leiter der Feuerwehrleitstelle der Stadt Kleve sowie ein organisatorischer Leiter des Rettungsdienstes (OrgL) anwesend. Diese wurden so eingebunden, dass, wie im Realfall auch, die rettungsdienstliche Unterstützung in Echtzeit abgefragt und somit simuliert abgebildet werden konnte.
Bei der Triage wurde das mSTaRT-Schema angewandt. Dies ist die Abkürzungfür modified Simple Triage and Rapid Treatment. Es firmiert als ein Sichtungsschema für Rettungsfachpersonal, um bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) eine strukturierte Vorsichtung der Patienten durchzuführen. Von den insgesamt sechsundzwanzig Verwundeten wurden durch die Arbeitsgruppe LV/BV primär
- 8 mit der Triagekategorie Alpha (Rot),
- 9 mit der Triagekategorie Bravo (Gelb),
- 7 mit der Triagekategorie Charlie (Grün),von denen ein Verwundeter im zeitlichen Verlauf zeitverzögert in einen Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) wechselte und
- 3 mit Verwundungen, die zu keiner Zeit eine Möglichkeit auf ein Überleben hatten, der Triagekategorie Delta (Blau) eingesteuert.
Von dem triagierenden SanStOffz Arzt wurden fünf Verwundete über- und ein Verwundeter untertriagiert. Das Material war als Übungsmaterial nicht vorhanden.
Auswirkungen des materiellen Fehlbestands
16 von 17 Verwundeten der Triagekategogie Alpha und Bravo würden aufgrund ihrer Verwundungen frühzeitig im CCP versterben, falls die Zusatzausrüstung nicht zur Verfügung stünde und die entsprechenden Maßnahmen nicht frühzeitig durchgeführt werden könnten.
Ein Verwundeter der Triagekategorie Charlie würde aufgrund der Dynamik einer primär nicht erkennbaren Verwundung versterben, falls nach Erkennen der Dynamik nicht die erforderlichen Maßnahmen mit dem notwendigen Material erfolgen könnten.
Zwei Verwundete der Triagekategorie Charlie (Rot) mit Erhalt des Bewusstseins, neun Verwundete der Triagekategorie Bravo (Gelb) und drei Verwundete der Triagekategorie Charlie (Grün) hätten zwingend einer suffizienten Analgesie bedurft.
Zwei Verwundete im CCP hätten ebenfalls im Rahmen der „Palliativen Sedierung“ (End of Life-Therapie) mittels hochpotenter Analgesie begleitet werden müssen.
Bei fünf Verwundeten der Triagekategorie Alpha (Rot) und neun Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) wäre bei längerer Verweildauer am CCP die frühzeitige antimikrobielle Therapie mittels i.v.-Antibiose als dringend indiziert anzusehen gewesen, um einem zeitlich deutlich verzögert auftretenden „Died of Wounds“ infolge eines septischen Verlaufs vorzubeugen.
Einem Verwundeten der Triagekategorie Alpha (Rot) und zwei Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) hätten bei länger erforderlicher Verweildauer der Verlust von Extremitäten gedroht, wenn die Escharatomie bei zirkulärer Verbrennung an Extremitäten nicht durchgeführt worden wäre.
Bewertung des Konzepts auf Grundlage der Ergebnisse der Erprobungsübung
Das in dem Konzept hinterlegte Vorgehen wurde als äußerst zielführend bewertet. Es bietet den nachrückenden Rettungsdienstkräften die Möglichkeit einer direkten und verzugsfreien Übernahme der Verwundeten unter Fortführung oder auch Erweiterung und Ergänzung der bereits begonnenen Therapie. Die Maßnahmen der Erweiterten Grundbefähigung lassen sich ohne Probleme in die nachfolgende individualmedizinische Versorgung durch zivile Rettungskräfte überführen.
Nach Ansicht der vor Ort befindlichen Dienststellen und Truppenteile wird ein dringender Handlungsbedarf dahingehend gesehen, eigene Konzepte zu erstellen, um in einem solchen Szenar Handlungsfähigkeit zu erlangen. Eine enge Abstimmung mit den sanitätsdienstlichen Kräften wird als zwingend notwendig erachtet. Aus sanitätsdienstlicher Sicht wird die Unterweisung in den EGB-Maßnahmen, sowie der Vorhalt des dafür erforderlichen Materials als absolute Notwendigkeit bewertet, um im Falle eines Angriffs auf die Dienststellen und Truppenteile in der Liegenschaft handlungsfähig sein zu können. Auch die Betreuung von nicht rettbaren, versterbenden Verwundeten muss bei der Ausbildung und der Ausstattung berücksichtigt werden.
Abb. 3: Abschlussbesprechung
Fazit
Eine Zusammenführung und Implementierung bestehender Versorgungsstrategien aus dem Bereich der taktischen Medizin auf Ebene der SanVersZ im Inland scheint ein Ansatz zu sein, das Personal der SanVersZ zur ersten notfallmedizinischen Versorgung von Verwundeten nach Angriffen mit ballistischen Waffensystemen auf die Dienststellen und Truppenteile im Bereich der eigenen Liegenschaft zu befähigen. Das Konzept zur „Erweiterten Grundbefähigung der regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen für die Landes- und Bündnisverteidigung“ kann als Grundlage für die ergänzende Ausbildung des Personals und die Bevorratung der erforderlichen materiellen Zusatzausstattung dienen. Mit Implementierung des genannten Konzepts würde die bisherige Versorgungslücke geschlossen werden können. In Vorbereitung auf entsprechende Szenare ist es zwingend erforderlich, in den betroffenen Liegenschaften ein entsprechendes Vorgehen sowohl im Verbund mit vor Ort befindlichen Dienststellen und Truppenteilen als auch den regionalen Rettungsdienstorganisationen zu trainieren.
Kernsätze
- Aufgrund der aktuellen Lage ist ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile der Bundeswehr im Inland eine nicht auszuschließende Gefahr.
- Die Sanitätsversorgungszentren müssen die Befähigung erhalten, im Falle eines Angriffs auf Dienststellen und Truppenteile innerhalb der Liegenschaft die erste notfallmedizinische Versorgung leisten zu können.
- Versorgungsstrategien der Taktischen Medizin sind geeignet, eine notfallmedizinische Versorgung in der ersten Phase nach einem Angriff auf Dienststellen und Truppenteile im Inland zu gewährleisten und lassen sich in Versorgungsstrategien nach nationalem Standard der Rettungsdienstorganisationen in Deutschland überführen.
- Zur Befähigung der Sanitätsversorgungszentren zur notfallmedizinischen Versorgung bedarf es der zusätzlichen Qualifizierung des Personals und der ergänzenden materiellen Ausstattung.
Literatur
- Allgemeine Regelung A1-874/0-4004, Sanitätsausbildung für Nicht-Sanitätspersonal, Kdo SanDstBw B IX 2, 20.12.2019
- Allgemeine Regelung A1-873/0-4022 Fachliche Qualifizierung und Kompetenzerhalt des notfallmedizinischen Sanitätspersonals, Kdo SanDstBw IX 2 vom 01.04.2021
- Böttcher K: Ausbildung der „Einsatzersthelfer Bravo“ und Ihre Ausrüstung. Soldat und Technik 2022; 19. Mai 2022 mehr lesen
- National Association of Emergency Medical Technicians (NAEMT): PHTLS: Prehospital Trauma Life Support, Military Edition, 2024.
- Neitzel C, Ladehof K: Taktische Medizin. Berlin Heidelberg: Springer 2024.
- OKelly A: New Prolonged Casualty Care Guidelines. Joint Trauma System Clinical Practice Guidelines 2022. mehr lesen
- Remley M, Loos P, Riesberg J: Prolonged Casualty Care Guidelines. Joint Trauma System, Clinical Practice Guideline. December 2021 mehr lesen
- Tactical Combat Casualty Care. Version 5, Mai 2017. , letzter Aufruf Zugriff 24. Februar 2024. mehr lesen
Bilder: Pressestelle Zentrum für Luftoperationen in Kalkar
Manuskriptdaten
Zitierweise
Rubbert C, Kucharski D, Wilden A, Westermann T, Hölscher R, vom Stein M, Herweg M: Wie können regionale sanitätsdienstliche Einheiten die medizinische Versorgung im Falle eines Angriffs sicherstellen? WMM 2024; 68(4): 142-149.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-275
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Diethard Kucharski
Sanitätsversorgungszentrum Bonn
Fontainengraben 150, 53123 Bonn
E-Mail: diethardkucharski@bundeswehr.org">diethardkucharski@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Rubbert C, Kucharski D, Wilden A, Westermann T, Hölscher R, vom Stein M, Herweg M: [How can Regional Military Medical Clinics Ensure Medical Care in the Event of an Attack?] WMM 2024; 68(4): 142-149.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-275
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Dr. Diethard Kucharski
Medical Clinic Bonn
Fontainengraben 150, D-53123 Bonn
E-Mail: diethardkucharski@bundeswehr.org">diethardkucharski@bundeswehr.org
1 Wird aktuell noch nicht in der Bundeswehr ausgebildet
2 MARCH/cABCDE beschreibt die primären lebensrettenden Sofortmaßnahmen entsprechend der zu priorisierenden Störung der Vitalfunktionen entsprechend des Handlungsprinzips „treat first what kills first“.
3 MANV-(zivil verwendeter Begriff = Massenanfall von Verletzten) Packs werden auch im zivilen Rettungsdienst für Großschadensereignisse vorgehalten.
4 Vergleichbar mit dem Leitenden Notarzt (LNA) im zivilen Bereich.