Wie können regionale sanitätsdienstliche Einheiten die medizinische Versorgung im Falle eines Angriffs sicherstellen?
Implementierung präklinischer Versorgungsstrategien aus dem Einsatz bei den Sanitätsversorgungszentren: Ergebnisse eines Erprobungsversuchs
How Can Regional Military Medical Clinics Ensure Medical Care in the Event of an Attack?
Implementing Preclinical Care Strategies at Military Medical Clinics: Results of a Test Trial
Christoph Rubberta, Diethard Kucharskib, André Wildenc, Tim Westermannd, Robert Hölschera, Monika vom Steine, Markus Herwegf
a Sanitätsunterstützungszentrum Köln-Wahn
b Sanitätsversorgungszentrum Bonn
c Sanitätsversorgungszentrum Kerpen
d Sanitätsversorgungszentrum Kalkar
e Sanitätsunterstützungszentrum Köln-Wahn, Sanitätsstaffel Einsatz
f Sanitätsregiment 2, Ausbildungs- und Simulationszentrum, Koblenz
Zusammenfassung
Mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) für die Bundeswehr nach jahrzehntelanger Minderbewertung wieder oberste Priorität erreicht. Aufgrund dieser veränderten Weltlage darf ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile innerhalb des deutschen Staatsgebietes bei militärischen und strategischen Planungen nicht unberücksichtigt bleiben. Im Falle eines solchen Angriffs wäre das Personal der vor Ort befindlichen Sanitätsversorgungszentren in der ersten notfallmedizinischen Versorgung von Verwundeten eingebunden, bis eine weitere Versorgung durch regionale zivile Rettungsdienstorganisationen übernommen werden könnte. Aufgrund des nahezu ausschließlichen Friedensbetriebs auf Ebene der Sanitätsversorgungszentren fehlt dem dort eingesetzten Personal überwiegend die Handlungskompetenz für eine sachgerechte und notfallmedizinische Versorgung unter den Einflüssen von Gefechts- und Kriegshandlungen. Das hier vorgestellte Konzept „Erweiterte Grundbefähigung der regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen im Falle der Landes- und Bündnisverteidigung“ kann als Grundlage für die Generierung notfallmedizinischer Handlungskompetenz für das Personal der Sanitätsversorgungszentren unter gefechts- und kriegstypischen Bedingungen dienen.
Schlüsselwörter: Landes- und Bündnisverteidigung, Massenanfall von Verletzten, Tactical Combat Casualty Care, Sanitätsversorgungszentren
Summary
With Russia‘s attack on Ukraine, the national and alliance defense has again become a top priority for the Bundeswehr after decades of undervaluation. Due to the changed world situation, an attack on departments and troops on German territory with ballistic weapon systems cannot and must not be ignored in military and strategic planning. In the event of such an attack, the staff of the local medical care centers would be involved in the initial emergency medical care of the wounded until regional, civilian emergency service organizations could provide further care. Due to the almost exclusive peacetime operations at the level of medical care centers, the staff largely needs to gain the competence to deliver appropriate and emergency medical care under the influence of combat and war. The concept of “extended basic qualifications of regional medical facilities in the case of national and alliance defense” can serve as a basis for generating emergency medical competence for the staff in medical care centers under conditions typical of combat and war.
Key words: national and alliance defense; mass casualty incident; tactical combat casualty care; military medical clinics
Hintergrund
Nach Ende des „Kalten Krieges“ entwickelte sich die Bundeswehr weg von zur Landes- und Bündnisverteidigung befähigten Streitkräften zu einer Armee, die ihren Auftrag zunehmend in der Befähigung zur Teilnahme an Einsätzen im Rahmen des Internationalen Krisen- und Konfliktmanagements (IKM) sah. Dieser Ausrichtung geschuldet lag der Fokus des Sanitätsdienstes einerseits nahezu ausschließlich auf der Versorgung in den Einsätzen im Rahmen des IKMs, andererseits gab es den Schwerpunkt der truppenärztlichen, in der Regel allgemeinmedizinischen Versorgung in den regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen (RegSanEinr) im Friedensbetrieb.
Entlang der Rettungskette auf Ebene der Role 1 wurden die notfallmedizinischen Versorgungsstrategien der Tactical Combat Casualty Care (TCCC) etabliert, um unter den Einflüssen des Gefechts ein Überleben von Verwundeten durch wenige effektive, aber frühzeitig konsequent angewandte Maßnahmen zu ermöglichen [1]: Die Ausbildung der Qualifikationsstufe II beinhaltet teilweise invasive Maßnahmen und ist inhaltlich auf die präklinischen Erstmaßnahmen im Gefecht ausgerichtet. Die frühzeitige Erstversorgung von spezifischen Verwundungsmustern nach Algorithmen ist auf vermeidbare Todesursachen ausgerichtet. „Die Ausbildung ist gemäß den Grundprinzipien des Tactical Combat Casualty Care (TCCC) [3][4][5][8] und einsatzbasiert zu gestalten“. Exemplarisch sind hier die Qualifikation des Ersthelfer Bravo (EH-B) sowie des Combat First Responders (CFR), Stufe Alpha bis Charlie für nicht sanitätsdienstliches Personal zu nennen.
Sanitätsdienstliches Personal wurde entsprechend der medizinischen Qualifikationsstufe zur Erlangung der Einsatzbefähigung durch verschiedene Trainingsformate zur notfallmedizinischen Versorgung unter einsatzspezifischen Gefechtsbedingungen für den Einsatz befähigt [2]: „Durch wehrmedizinische Zusatzausbildung werden Ärztinnen und Ärzte zum Arzt Rettungsmedizin, Notfallsanitäter zum Einsatznotfallsanitäter bzw. Einsatznotfallsanitäterin und Rettungssanitäter zum Einsatzsanitäter bzw. Einsatzsanitäterin (EinsSan) qualifiziert.“
Dagegen erhielt mit wenigen Ausnahmen weder das militärische noch das zivile Personal in den RegSanEinr aufgrund seiner Aufgabeneinbindung in der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung (utV) eine Qualifizierung mit Bezug auf die notfallmedizinische Versorgung unter Gefechtsbedingungen.
Fokus: Landes- und Bündnisverteidigung
Beginnend mit der Annexion der Krim und spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine steht die Landes- und Bündnisverteidigung (LV/BV) wieder im Fokus der Ausrichtung der Bundeswehr und die Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“ der Streitkräfte bestimmt das militärische Denken und Handeln (Interview mit dem Bundesminister für Verteidigung, Boris Pistorius, in der ZDF-Sendung Berlin direkt am 29.Oktober 2023: „Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. …. Wir müssen kriegstüchtig werden“).
Unter dem Aspekt der LV/BV ist nicht auszuschließen, dass militärische Einrichtungen auf dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland Ziel eines Angriffs mit ballistischen Waffensystemen werden können. Im Falle eines Angriffs mit zu erwartendem Massenanfall von Verwundeten (Abkürzung MANV, engl. mass of casualties, Abkürzung: MASCAL), wären die sanitätsdienstlichen Kräfte der in den betroffenen Liegenschaftsbereich verorteten Sanitätsversorgungszentren (SanVersZ) gefordert, zeitnah eine notfallmedizinische Grundversorgung auch über längere Zeit sicherzustellen, bis unterstützende Rettungskräfte, auch aus dem zivilen Bereich, die weitere Versorgung übernehmen könnten. In diesem Kontext ergibt sich die Frage, ob das militärische und das zivile Personal der RegSanEinr mit Bezug auf Ausbildung und materielle Ausstattung aktuell befähigt ist, MASCAL-Situationen über eine längere Zeitspanne hinaus vor Ort zu managen. Daran schließt sich die Folgefrage an, was zu tun ist, damit sie es werden, wenn sie es nicht sind.
Regionale Sanitätseinrichtungen in der ROLE 1?
Aufgrund der Tatsache, dass sich im Zuständigkeitsbereich des SanUstgZ Köln-Wahn mehrere SanVersZ in Liegenschaftsbereichen befinden, die aufgrund bündnisgemeinsamer Aufgaben in Verbindung mit der Luftraumverteidigung- und überwachung als Ziele oberster Priorisierungsstufe zu werten sind, wurde im Juli 2023 durch den Leiter des SanUstgZ Köln-Wahn, eine Arbeitsgruppe Landes- und Bündnisverteidigung (AG LV/BV) innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs eingesetzt, die den Auftrag hatte, ein Versorgungskonzept für die SanVersZ zu entwickeln, um in oben genanntem Fall handlungsfähig sein zu können.
Durch die AG LV/BV wurde ein Konzeptvorschlag erarbeitet, der erprobt wurde und als Ansatz dienen könnte, RegSanEinr dahingehend zu befähigen, ihre Kriegstüchtigkeit in Bezug auf die sanitätsdienstliche Versorgung bei Angriffen auf Einrichtungen der Bundeswehr im Inland herzustellen. Dabei wurde der Umstand berücksichtigt, dass entlastende rettungsdienstliche Versorgung von den umliegenden zivilen Rettungsdiensten auch deutlich verzögert eintrifft und dass Verwundetentransporte aufgrund der großen Distanzen zu geeigneten klinischen Versorgungseinrichtungen eines nicht unerheblichen Zeitansatzes bedürften.
Sachstand – Bewertung – Folgerung
Sachstand
Das Personal der SanVersZ ist nahezu ausschließlich befähigt, die sanitätsdienstliche Versorgung im Kontext mit der unentgeltlichen truppenärztlichen Versorgung (utV) zu gewährleisten. Eine qualifizierende Ausbildung für die medizinische Versorgung unter Gefechtsbedingungen ist für dieses Personal bisher nicht vorgesehen gewesen. Eine entsprechende Expertise ist somit auch nicht vorhanden. Die materielle Ausstattung ist ebenfalls nur auf die Versorgung im Rahmen der Behandlung unter den Vorgaben der utV ausgelegt.
Entsprechende Einrichtungen sind oftmals abseits größerer Ballungsräume verortet, sodass zum einen regionale zivile Rettungsdienstbereiche meist selbst nur über begrenzte materielle und personelle Ressourcen verfügen und zum anderen auch klinische Erstversorgungseinrichtungen in relativer Nähe zum Schadensort nur unzureichend vorhanden sind.
Bewertung
Das Personal in den SanVersZ, hat i.d. R. keine ausreichende Erfahrung und Ausbildung in Bezug auf die taktische Verwundetenversorgung. Die SanVersZ verfügen zudem über keine gesonderte materielle Ausstattung für ein katastrophenmedizinisches Management von Großschadensereignissen, um primäre, bei Bedarf auch weiterführende und längerfristige Notfallversorgung vor Ort in einer Verwundetensammelstelle, dem sogenannten Casualty Collecting Point (CCP), bis zur Übergabe an Drittkräfte durchzuführen. Insgesamt ist festzustellen, dass die meisten der RegSanEinr aktuell nicht dahingehend befähigt sind, im Falle eines Angriffs auf Infrastruktur innerhalb der Liegenschaft situationsangepasst eine MASCAL-Situation bis zum Eintreffen ziviler rettungsdienstlicher Kräfte strukturiert und fachgerecht zu managen.
Folgerung
Ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen oder mit anderen Trägersystemen fordert von den vor Ort befindlichen sanitätsdienstlichen Kräften der SanVersZ im Inland eine äquivalente notfallmedizinische Versorgung von Verwundeten wie im Auslandseinsatz oder frontnahen Gefecht. Neben der zusätzlich erforderlichen Qualifizierung des Personals bedarf es zusätzlicher materieller Ausstattung sowie eines strukturierten Einsatzes des Personals innerhalb der Behandlungszone.
Ein Lösungsansatz
Auf Grundlage der Sachstandsfeststellung und dessen Bewertung sowie der daraus abgeleiteten Folgerung wurde ein Konzept ausgearbeitet, das als Grundlage dienen kann, die SanVersZ dahingehend zu befähigen, ein situationsangepasstes Versorgungsmanagement durchzuführen. Ziel war es, bestehende Konzepte zu nutzen und diese auf die Gegebenheiten bei Angriffen auf die Infrastruktur im Inland zu übertragen. Um dieses Ziel zu erreichen, orientierte sich die AG LV/BV an fünf Prüffragen, deren Beantwortung sich dann in der Konzeption abbildete.
Prüffrage 1: Gibt es Parallelen zwischen der Verwundetenversorgung im Gefecht im Rahmen des IKM oder nicht, und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?
Die Verwundetenversorgung nach Angriffen mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile im Inland weist Gemeinsamkeiten mit der taktischen Verwundetenversorgung auf Ebene der Role 1 im Gefecht bei Einsätzen im Rahmen des IKM oder der LV/BV auf. Somit können auch die drei Phasen des TCCC bei der sanitätsdienstlichen Versorgung bei einem entsprechenden Ereignis zur Anwendung kommen (Tabelle 1).
Prüffrage 2: Welche Möglichkeiten zur zusätzlichen Qualifizierung sind zu nutzen, um qualifizierte bzw. erweiterte Erstversorgung (Stichwort Prolonged Fieldcare: PFC bzw. Prolonged Casualty Care: PCC) leisten zu können?
Um die Lücke in der sanitätsdienstlichen Versorgung bei entsprechenden Schadensereignissen zu schließen, bedarf es der zusätzlichen Ausbildung des Personals in der taktischen Verwundetenversorgung. Als Vorbild dienen u. a. die bestehenden Trainingsformate für nicht sanitätsdienstliches Personal. Diese sind zunächst der „Ersthelfer Bravo (EH-B)“ und der „Combat First Responder Alpha und Bravo (CFR-A/B)“ für die erste unmittelbare Versorgung [1][3][4][6][8] und das Trainingsformat Prolonged Casualty Care (PCC)1 [6][7], jeweils nach den Vorgaben des Commitee on Tactical Combat Casualty Care (CoTCCC). Letzteres ist erforderlich, um die ggf. längeren Zeiträume bis zur Übergabe an entlastende rettungsdienstliche Kräfte zu überbrücken. Die in diesen Trainingsformaten ausgebildeten Versorgungsmaßnahmen orientieren sich an dem in der NATO standardisiert angewandten MARC2H3-PAWS-L-Behandlungsschema2 (Tabelle 2). Sämtliche Maßnahmen werden im CCP durchgeführt.
Durch Zusammenführung der verschiedenen Trainingsformate wurde für den Konzeptentwurf die Terminologie „Erweiterte Grundbefähigung der regionalen Sanitätsdienstlichen Einrichtungen für die Landes- und Bündnisverteidigung“ gewählt.
Prüffrage 3: Welche zusätzliche materielle Ausstattung in Bezug auf SanMat ist erforderlich?
Im Falle von Großschadensereignissen/MASCAL-Situationen sollte der Vorhalt von sogenannten MASCAL-Packs/-Boxen3 etabliert werden. Diese sollten vor allem solches Sanitätsverbrauchsmaterial (EVG-SanMat) enthalten, das zur Akutintervention beim Vorliegen gefechtstypischer Verwundungen vorrangig erforderlich ist und dessen Anwendung in den genannten Trainingsformaten [1][3] ausgebildet wird. In erster Linie handelt es sich dabei um Tourniquets, Nasopharyngealtuben (Wendeltuben), Entlastungspunktionskanülen zur Entlastung des Spannungspneumothorax, Systeme zur intraosseären sternalen Punktion (FAST = First Access for Shock and Trauma), Infusions- und Ergänzungssysteme (Dreiwegehahn), Infusionslösungen, Wundverbandsysteme mit Kompressionswirkung (Israeli Bandage) sowie Tragetücher, Brandwundenverbandtücher, Bergefolie und weitere materielle Ausrüstung, die nicht EVG-SanMat sind und der Dokumentation und dem Schadensmanagement dienen.
Für die Prolonged Casualty Care-Phase muss separat zusätzliches EVG-SanMat vorgehalten werden, das vor allem dem „Care“-Aspekt (d. h. der Pflege- und Folgebehandlung) Rechnung trägt. Dabei handelt es sich vorrangig um hochpotente, schnell wirksame Analgetika (i.d. R. Opiate) zur zwingend erforderlichen analgetischen und zur „End of Life“-Therapie, Breitspektrumantibiotika zur Prävention des sekundären Versterbens aufgrund systemischer Infektionen (died of wounds), Schienungs- und Lagerungsmittels sowie Ausrüstung zur Etablierung eines „chirurgischen“ Atemwegs und zur Minithorakotomie, zur Escharatomie (Entlastungsschnitte bei zirkulären Verbrennungen ab Verbrennungsgrad IIb), sowie um weitere Ergänzungsausstattung, zum Beispiel für Woundpacking und zur Erstversorgung von Augenverletzungen [5][6][7].
Die eigentliche Notfallausrüstung des SanVersZ wird nur auf Entscheid des sanitätsdienstlichen Führers vor Ort, des Military Incident Officier (MIO)4 eingesetzt. Zudem ist Ausrüstung erforderlich, die im Zusammenhang mit einsatzablauftechnischen Erfordernissen und dem Management der Schadenslage an sich stehen. Dabei handelt es sich u. a. um sogenannte Triagekarten.
Prüffrage 4: Wie kann eine strukturierte Ablauforganisation beim MASCAL aufgebaut werden?
In Bezug auf die sanitätsdienstliche Regulierung der Schadenslage übernimmt die Leiterin/der Leiter des SanVersZ oder seine Vertreterin/sein Vertreter die Funktion eines MIO mit folgenden Aufgaben wahr:
Bestimmung der triagierenden Sanitätsstabsoffizier (Arzt),
- Bestimmung des triagierenden Sanitätsstabsoffiziers (Arzt),
- 2. Festlegung und Strukturierung des CCP in Absprache mit dem nichtärztlichen Verantwortlichen an der Schadensstelle,
- Einteilung des Personals in den einzelnen Sektionen und Bereichen des CCP,
- Führen der medizinischen Dokumentation,
- Kommunikation mit eintreffenden medizinischen Kräften und
- Festlegen der Transportreihenfolge.
Prüffrage 5: Welche Maßnahmen sind an den Schnittstellen „Sanitätsdienst zu Truppe“ und „Sanitätsdienst zu zivilen Rettungsdiensten“ zu treffen?
Die sanitätsdienstliche Versorgung ist nur eine Komponente eines einsatztaktischen Gesamtkonzepts der militärischen Führung vor Ort. Wesentliche Bedeutung erlangt hierbei die Kommunikation zwischen der truppen- und der sanitätsdienstlichen Führung. Seitens der truppendienstlichen Einsatzleitung ist die sanitätsdienstliche Versorgung dahingehend zu unterstützen, dass die Zuführung der Verwundeten vom Schadensort zum CCP mittels behelfsmäßigen Verwundetentransports (CASEVAC = Casual Evacuation) durchgeführt wird.
Abb. 1: Eintreffen der Verwundeten am CCP nach CASEVAC
Bezüglich der Schnittstelle „Sanitätsdienst zu zivilen Rettungsdiensten“ ist die Kommunikation zur zivilen Rettungsleitstelle und zu den medizinischen Führungsinstitutionen, Leitender Notarzt (LNA) und Organisatorischer Leiter Rettungsdienst (OrgL) von entscheidender Bedeutung. Mit Eintreffen des LNA am CCP sollte dieser die sanitätsdienstliche Führung übernehmen, da er die lokale sanitätsdienstliche Vernetzung und somit Kenntnis bezüglich der verfügbaren Rettungsmittel und klinischen Versorgungseinrichtungen hat.
Konzepterprobung
Phase 1: Ausbildung des Personals des SanVersZ Kalkar
In Phase 1 wurde Personal des SanVersZ Kalkar in die Maßnahmen zur Erlangung der Erweiterten Grundbefähigung RegSanEinr unterwiesen. Neben einer Unterrichtung hinsichtlich der Verletzungsmuster nach Einwirkung von Explosivkampfmitteln auf den menschlichen Körper und einsatzorganisatorischer Grundsätze erfolgte die praktische Ausbildung. Den Abschluss bildete die Evaluation des Trainings. Neben der Bewertung der einzelnen Ausbildungsblöcke erfolgte eine allgemeine Bewertung anhand von drei Kernfragen, mit denen die Teilnehmenden zur Stellungnahme bezüglich der Notwendigkeit der Ausbildung und Praktikabilität der erlernten Maßnahmen sowie zur Abgabe einer Gesamtbewertung aufgefordert wurden.
Ergebnisse der Konzepterprobungsphase 1:
Ausbildung im MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus und Aufbau eines CCP
Die abschließende Gesamtbewertung erfolgte anhand von Noten zwischen 1 = sehr gut bis 5 = mangelhaft.
Sämtliche Teilnehmenden bewerteten die Ausbildung mit der Gesamtnote 1.
Phase 2: Die Erprobungsübung am Standort Kalkar
Die Angehörigen des SanVersZ Kalkar waren in der Erprobungsübung gefordert, einen CCP nach den konzeptionellen Vorgaben zu betreiben und die Verwundetenversorgung simuliert nach dem MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus durchzuführen. Darüber hinaus galt es, die Verbindung zur „bergenden Truppe“ und zum zivilen Rettungsdienst aufzubauen und in Abhängigkeit des jeweils vorliegenden Verletzungsmusters bei jedem Verwundeten das materielle Fehl, das zur Versorgung erforderlich gewesen wäre, zu erfassen.
Abb. 2: Versorgung eines Verwundeten nach dem MARC2H3-PAWS-L-Algorithmus im CCP
Die Einsatzleitung am Schadensort wurde durch Angehörige des Dienststellenbereichs des Kasernenkommandanten gestellt. Durch diesen wurden sowohl Bergungs- als auch CASEVAC-Kräfte mit Fahrzeugen eingesetzt. Vom zivilen Rettungsdienst waren der Leiter der Feuerwehrleitstelle der Stadt Kleve sowie ein organisatorischer Leiter des Rettungsdienstes (OrgL) anwesend. Diese wurden so eingebunden, dass, wie im Realfall auch, die rettungsdienstliche Unterstützung in Echtzeit abgefragt und somit simuliert abgebildet werden konnte.
Bei der Triage wurde das mSTaRT-Schema angewandt. Dies ist die Abkürzungfür modified Simple Triage and Rapid Treatment. Es firmiert als ein Sichtungsschema für Rettungsfachpersonal, um bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) eine strukturierte Vorsichtung der Patienten durchzuführen. Von den insgesamt sechsundzwanzig Verwundeten wurden durch die Arbeitsgruppe LV/BV primär
- 8 mit der Triagekategorie Alpha (Rot),
- 9 mit der Triagekategorie Bravo (Gelb),
- 7 mit der Triagekategorie Charlie (Grün),von denen ein Verwundeter im zeitlichen Verlauf zeitverzögert in einen Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) wechselte und
- 3 mit Verwundungen, die zu keiner Zeit eine Möglichkeit auf ein Überleben hatten, der Triagekategorie Delta (Blau) eingesteuert.
Von dem triagierenden SanStOffz Arzt wurden fünf Verwundete über- und ein Verwundeter untertriagiert. Das Material war als Übungsmaterial nicht vorhanden.
Auswirkungen des materiellen Fehlbestands
16 von 17 Verwundeten der Triagekategogie Alpha und Bravo würden aufgrund ihrer Verwundungen frühzeitig im CCP versterben, falls die Zusatzausrüstung nicht zur Verfügung stünde und die entsprechenden Maßnahmen nicht frühzeitig durchgeführt werden könnten.
Ein Verwundeter der Triagekategorie Charlie würde aufgrund der Dynamik einer primär nicht erkennbaren Verwundung versterben, falls nach Erkennen der Dynamik nicht die erforderlichen Maßnahmen mit dem notwendigen Material erfolgen könnten.
Zwei Verwundete der Triagekategorie Charlie (Rot) mit Erhalt des Bewusstseins, neun Verwundete der Triagekategorie Bravo (Gelb) und drei Verwundete der Triagekategorie Charlie (Grün) hätten zwingend einer suffizienten Analgesie bedurft.
Zwei Verwundete im CCP hätten ebenfalls im Rahmen der „Palliativen Sedierung“ (End of Life-Therapie) mittels hochpotenter Analgesie begleitet werden müssen.
Bei fünf Verwundeten der Triagekategorie Alpha (Rot) und neun Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) wäre bei längerer Verweildauer am CCP die frühzeitige antimikrobielle Therapie mittels i.v.-Antibiose als dringend indiziert anzusehen gewesen, um einem zeitlich deutlich verzögert auftretenden „Died of Wounds“ infolge eines septischen Verlaufs vorzubeugen.
Einem Verwundeten der Triagekategorie Alpha (Rot) und zwei Verwundeten der Triagekategorie Bravo (Gelb) hätten bei länger erforderlicher Verweildauer der Verlust von Extremitäten gedroht, wenn die Escharatomie bei zirkulärer Verbrennung an Extremitäten nicht durchgeführt worden wäre.
Bewertung des Konzepts auf Grundlage der Ergebnisse der Erprobungsübung
Das in dem Konzept hinterlegte Vorgehen wurde als äußerst zielführend bewertet. Es bietet den nachrückenden Rettungsdienstkräften die Möglichkeit einer direkten und verzugsfreien Übernahme der Verwundeten unter Fortführung oder auch Erweiterung und Ergänzung der bereits begonnenen Therapie. Die Maßnahmen der Erweiterten Grundbefähigung lassen sich ohne Probleme in die nachfolgende individualmedizinische Versorgung durch zivile Rettungskräfte überführen.
Nach Ansicht der vor Ort befindlichen Dienststellen und Truppenteile wird ein dringender Handlungsbedarf dahingehend gesehen, eigene Konzepte zu erstellen, um in einem solchen Szenar Handlungsfähigkeit zu erlangen. Eine enge Abstimmung mit den sanitätsdienstlichen Kräften wird als zwingend notwendig erachtet. Aus sanitätsdienstlicher Sicht wird die Unterweisung in den EGB-Maßnahmen, sowie der Vorhalt des dafür erforderlichen Materials als absolute Notwendigkeit bewertet, um im Falle eines Angriffs auf die Dienststellen und Truppenteile in der Liegenschaft handlungsfähig sein zu können. Auch die Betreuung von nicht rettbaren, versterbenden Verwundeten muss bei der Ausbildung und der Ausstattung berücksichtigt werden.
Abb. 3: Abschlussbesprechung
Fazit
Eine Zusammenführung und Implementierung bestehender Versorgungsstrategien aus dem Bereich der taktischen Medizin auf Ebene der SanVersZ im Inland scheint ein Ansatz zu sein, das Personal der SanVersZ zur ersten notfallmedizinischen Versorgung von Verwundeten nach Angriffen mit ballistischen Waffensystemen auf die Dienststellen und Truppenteile im Bereich der eigenen Liegenschaft zu befähigen. Das Konzept zur „Erweiterten Grundbefähigung der regionalen sanitätsdienstlichen Einrichtungen für die Landes- und Bündnisverteidigung“ kann als Grundlage für die ergänzende Ausbildung des Personals und die Bevorratung der erforderlichen materiellen Zusatzausstattung dienen. Mit Implementierung des genannten Konzepts würde die bisherige Versorgungslücke geschlossen werden können. In Vorbereitung auf entsprechende Szenare ist es zwingend erforderlich, in den betroffenen Liegenschaften ein entsprechendes Vorgehen sowohl im Verbund mit vor Ort befindlichen Dienststellen und Truppenteilen als auch den regionalen Rettungsdienstorganisationen zu trainieren.
Kernsätze
- Aufgrund der aktuellen Lage ist ein Angriff mit ballistischen Waffensystemen auf Dienststellen und Truppenteile der Bundeswehr im Inland eine nicht auszuschließende Gefahr.
- Die Sanitätsversorgungszentren müssen die Befähigung erhalten, im Falle eines Angriffs auf Dienststellen und Truppenteile innerhalb der Liegenschaft die erste notfallmedizinische Versorgung leisten zu können.
- Versorgungsstrategien der Taktischen Medizin sind geeignet, eine notfallmedizinische Versorgung in der ersten Phase nach einem Angriff auf Dienststellen und Truppenteile im Inland zu gewährleisten und lassen sich in Versorgungsstrategien nach nationalem Standard der Rettungsdienstorganisationen in Deutschland überführen.
- Zur Befähigung der Sanitätsversorgungszentren zur notfallmedizinischen Versorgung bedarf es der zusätzlichen Qualifizierung des Personals und der ergänzenden materiellen Ausstattung.
Literatur
- Allgemeine Regelung A1-874/0-4004, Sanitätsausbildung für Nicht-Sanitätspersonal, Kdo SanDstBw B IX 2, 20.12.2019
- Allgemeine Regelung A1-873/0-4022 Fachliche Qualifizierung und Kompetenzerhalt des notfallmedizinischen Sanitätspersonals, Kdo SanDstBw IX 2 vom 01.04.2021
- Böttcher K: Ausbildung der „Einsatzersthelfer Bravo“ und Ihre Ausrüstung. Soldat und Technik 2022; 19. Mai 2022 mehr lesen
- National Association of Emergency Medical Technicians (NAEMT): PHTLS: Prehospital Trauma Life Support, Military Edition, 2024.
- Neitzel C, Ladehof K: Taktische Medizin. Berlin Heidelberg: Springer 2024.
- OKelly A: New Prolonged Casualty Care Guidelines. Joint Trauma System Clinical Practice Guidelines 2022. mehr lesen
- Remley M, Loos P, Riesberg J: Prolonged Casualty Care Guidelines. Joint Trauma System, Clinical Practice Guideline. December 2021 mehr lesen
- Tactical Combat Casualty Care. Version 5, Mai 2017. , letzter Aufruf Zugriff 24. Februar 2024. mehr lesen
Bilder: Pressestelle Zentrum für Luftoperationen in Kalkar
Manuskriptdaten
Zitierweise
Rubbert C, Kucharski D, Wilden A, Westermann T, Hölscher R, vom Stein M, Herweg M: Wie können regionale sanitätsdienstliche Einheiten die medizinische Versorgung im Falle eines Angriffs sicherstellen? WMM 2024; 68(4): 142-149.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-275
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Diethard Kucharski
Sanitätsversorgungszentrum Bonn
Fontainengraben 150, 53123 Bonn
E-Mail: diethardkucharski@bundeswehr.org">diethardkucharski@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Rubbert C, Kucharski D, Wilden A, Westermann T, Hölscher R, vom Stein M, Herweg M: [How can Regional Military Medical Clinics Ensure Medical Care in the Event of an Attack?] WMM 2024; 68(4): 142-149.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-275
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Dr. Diethard Kucharski
Medical Clinic Bonn
Fontainengraben 150, D-53123 Bonn
E-Mail: diethardkucharski@bundeswehr.org">diethardkucharski@bundeswehr.org
1 Wird aktuell noch nicht in der Bundeswehr ausgebildet
2 MARCH/cABCDE beschreibt die primären lebensrettenden Sofortmaßnahmen entsprechend der zu priorisierenden Störung der Vitalfunktionen entsprechend des Handlungsprinzips „treat first what kills first“.
3 MANV-(zivil verwendeter Begriff = Massenanfall von Verletzten) Packs werden auch im zivilen Rettungsdienst für Großschadensereignisse vorgehalten.
4 Vergleichbar mit dem Leitenden Notarzt (LNA) im zivilen Bereich.
IDA, DORENA und DOC – Intervallrehabilitation am Facharztzentrum Rostock
Anne-Kathrein Hoffmannª, Kerstin Herrª, Alexander Hammª, Sven Grünheidª, Hagen Brambachª, Jenny Bögeª, Anja Urbscheitª, Andreas Dierichb
ª Sanitätsunterstützungszentrum Neubrandenburg, Facharztzentrum Rostock
b Sanitätsunterstützungszentrum Neubrandenburg
Zusammenfassung
Um den besonderen Belangen des Soldatenberufes und der Wiederherstellung der Dienst- und Verwendungsfähigkeit gerecht zu werden, wird seit 2019 flächendeckend eine medizinisch-dienstlich orientierte rehabilitative Versorgung etabliert. Neben den zentralen Sanitätseinrichtungen (Bundeswehrkrankenhäuser/Psychotraumazentrum der Bundeswehr am Bundeswehrkrankenhaus Berlin/Zentrum für Sportmedizin der Bundeswehr in Warendorf) wurden für die regionale Versorgung an ausgewählten Facharztzentren der Bundeswehr Rehabilitationsstützpunkte als Pilotprojekte eingeführt. Eine am 2. August 2023 in Kraft gesetzte „Fachliche Leitlinie zur Standardisierung des Pilotprojektes Rehabilitationsstützpunkte für den Kommandobereich Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung“ regelt unter anderem die Standardisierung von Rehabilitationsmodulen an den Reha-Stützpunkten. In diesem Artikel wird die Umsetzung rehabilitativer Interventionsmaßnahmen zur medizinisch dienstlich-orientierten Rehabilitation als Intervallrehabilitationskonzept am Reha-Stützpunkt Rostock vorgestellt.
Schlüsselworte: Rehabilitation, Rehabilitationsstützpunkte, MDOR, Facharztzentrum, Rehabilitationsprozess, Intervallrehabilitation
Einleitung
Die frühzeitige und strukturierte Einbindung rehabilitativer Angebote in Heilungsprozesse bei organischen und psychischen Erkrankungen hat sich in den letzten Jahren immer mehr als entscheidend für die langfristige Prognose herausgestellt [2][16][26].
Mit der Feststellung, dass Rehabilitation nach zivilen Standards nicht die dienstnahen Bedingungen der Bundeswehr abbildet [22], wurde, angelehnt an die medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation (MBOR) der Deutschen Rentenversicherung [7], der Begriff der medizinisch-dienstlich orientierten Rehabilitation in der Bundeswehr (MDORBw) durch das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (KdoSanDstBw) übernommen und entsprechende Strukturen in der Organisation ausgebracht [13][14].
Die Entwicklung eines medizinisch-dienstlich orientierten Rehabilitationsprogramms verfolgte u. a. den Ansatz, Soldatinnen und Soldaten1, die aufgrund einer akuten bzw. chronischen schweren Erkrankung und den daraus resultierenden Aktivitäts- und Teilhabestörungen auf ihrem Dienstposten nicht mehr eingesetzt werden können bzw. bei denen ein Dienstpostenverlust droht, gezielt zu rehabilitieren.
Am 2. August 2023 wurde die „Fachliche Leitlinie zur Standardisierung des Pilotprojektes Rehabilitationsstützpunkte für den Kommandobereich Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung“ (Az 42–13–43) in Kraft gesetzt [12]. Das Dokument regelt unter anderem die Durchführung der Rehabilitationsmodule (Reha-Module) an den Reha-Stützpunkten (Reha-Stp), die sich an Soldaten richten, bei denen im Rahmen eines standardisierten Assessments zur Reha-Bedarfsermittlung eine Reha-relevante Teilhabestörung aufgezeigt werden konnte und die einen Interventionsbedarf im Bereich der folgenden Therapiefelder haben:
- Sport- und Bewegungstherapie/Physiotherapie
- Klinische Psychologie/Arbeitstherapie/Klinische Sozialarbeit
- Information/Motivation/Schulung/Ernährungsmedizin
Im Folgenden soll eine zielführende Umsetzung der Reha-Module am Reha-Stp FachArztZ Rostock in Form eines Intervallkonzeptes beschrieben werden.
Konzeptder IntervallrehabilitationamReha-StpFachArztZ Rostock
Ermittlung des Rehabilitationsbedarfs
Bevor die Rehabilitanden gezielt Behandlungsmaßnahmen zugeführt werden, gilt es, den Rehabilitationsbedarf zu validieren, Rehabilitationsziele abzuleiten und einen Behandlungsplan zu erstellen.
Die Überprüfung von Rehabilitationsbedarf, -fähigkeit sowie -prognose erfolgt zunächst bei einem Erstkontakt im Rahmen eines eintägigen multiprofessionellen Assessments einschließlich einer interprofessionellen Fallkonferenz. Dazu werden in einem Basis-Assessment anthropometrische Daten sowie klinische Parameter erhoben und der Patient bearbeitet mehrere Fragebögen. Im Ergebnis kann daraus ein Funktionsfähigkeitsprofil in der Systematik der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF, WHO 2001) „Berufliche Rehabilitation“ als Selbstauskunft des Patienten abgeleitet werden.
Auf der Basis dieses ICF-Core-Set folgt ein professionsbezogenes Assessment. Dieses beinhaltet neben der ICF-orientierten Anamnese, der körperlichen Untersuchung und daraus abgeleiteter Diagnostik auch die Reflexion auf die im Funktionsfähigkeitsprofil signalisierten Gesundheitsprobleme und Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe unter Berücksichtigung von Umweltfaktoren [8]. Mit der ICF können die bio-psycho-sozialen Aspekte von Krankheitsfolgen unter Berücksichtigung der Kontextfaktoren systematisch erfasst werden. Unter Verwendung wissenschaftlich validierter Core-Sets, hier im Speziellen das ICF-Core-Set „Berufliche Rehabilitation“, erfolgt krankheitsübergreifend eine systematische, klientenzentrierte Fallstrukturierung mit Ableitung eines berufsbezogenen Funktionsfähigkeitsprofils als Basis für die Formulierung individueller Rehabilitationsziele sowie für die Steuerung und Koordination des Rehabilitationsprozesses [10]. In der interprofessionellen Fallkonferenz werden das Reha-Ziel, die Teil- sowie Interventionsziele gemeinsam mit dem Rehabilitanden festgelegt und in professionsbezogene Maßnahmen übersetzt. Abschließend wird der individualisierte Behandlungsplan für den Rehabilitanden erstellt.
Leitfaden
Mit dem Leitfaden zur Standardisierung des Pilotprojektes Reha-Stp wurde über die Bedarfsermittlung und Reha-Planung hinaus ein Standard-Reha-Modul definiert, das Bestandteil eines mindestens 3-wöchigen, teilstationären Rehabilitationsprozesses ist. Neben den festgelegten Standards bietet der Leitfaden den Akteuren dennoch Spielraum, die Interventionsmaßnahmen an die am Reha-Stp infrastrukturellen, personellen sowie materiellen Ressourcen anzupassen.
Praktische Umsetzung
Hinsichtlich der Umsetzung von teilstationären Rehabilitationsmaßnahmen verfolgen wir am Reha-Stp FachArztZ Rostock unter Berücksichtigung der Vorgaben zur Standardisierung des Pilotprojektes Reha-Stp sowie evidenzbasierter Behandlungskonzepte der Rehabilitationsträger, aber auch unter Beachtung von Struktur-/ Prozess- und Ergebnisqualität das Konzept einer Intervall-Rehabilitation, das in einem strukturierten QM-Prozess operationalisiert wurde. Die Intervall-Rehabilitation setzt sich aus 4,5-wöchigen intensivierten Therapiephasen sowie Heimtrainingsphasen zusammen, sodass sich ein mehrmonatiger Rehabilitationszeitraum ergibt.
Die Ableitung für das Konzept der Intervall-Rehabilitation ergab sich aus den Erkenntnissen der multiprofessionellen Re-Assessments im Rahmen des strukturierten und systematischen ambulanten Rehabilitationsprozesses. Das auf der Grundlage des ICF-Core-Set „Berufliche Rehabilitation“ abgeleitete berufsbezogene Funktionsfähigkeitsprofil zeigte bei Rehabilitanden, die an einer teilstationären Rehabilitationsmaßnahme am Reha-Stp FachArztZ Rostock teilgenommen hatten, ebenso wie bei Rehabilitanden, die bei einem externen Leistungserbringer Interventionsmaßnahmen absolviert hatten, dass sich zwar eine Verbesserung der Lebensqualität, Abnahme der Krankheitsaktivität und Schmerzintensität einstellte, dieser Effekt aber kein Garant dafür war, dass Soldaten langfristig auch ihren soldatischen Anforderungen ausreichend nachkommen konnten. Die Notwendigkeit der Steigerung der Nachhaltigkeit von Rehabilitationserfolgen wird auch rehabilitationswissenschaftlich immer wieder betont [3][20][21][23]. Um diesem Aspekt nachzukommen, entschieden wir uns am Reha-Stp FachArztZ Rostock für die Umsetzung eines Intervall-Rehabilitationsverfahrens. Der Therapieverlauf der Intervall-Rehabilitation ist in 5 Phasen eingeteilt (Abbildung 1).
Nachfolgend werden die Intensivtherapiemaßnahmen detaillierter beschrieben.
Abb. 1: Phasenmodell der Intervall-Rehabilitation
Intensivierte,dienstlich orientierteAktivierung(IDA)
Zielsetzung
IDA ist ein intensives und individuelles Behandlungskonzept. In dieser Komplextherapie stehen Anwendungen aus den Bereichen Physiotherapie und Sport- und Bewegungstherapie in einer 1:1-Betreuung bzw. einer Kleingruppe (max. 3 Personen) im Mittelpunkt. Zudem werden auf der Grundlage seines bio-psycho-sozialen Modells individuell auf den Rehabilitanden abgestimmte Einzelmaßnahmen ergänzt.
Auch Planung und Koordinierung der dienstlichen Wiedereingliederung sind ein wichtiger Aspekt in diesem Behandlungskonzept, da wissenschaftlich fundierte Kenntnisse belegen, dass medizinische und berufliche Rehabilitation ein synergistischer Prozess sein sollten [1]. Ziel ist daher, mit dieser Maßnahme mindestens die Wiederherstellung einer eingeschränkten Verwendungsfähigkeit, die beispielsweise eine einfache Bürotätigkeit zulässt, anzustreben, ggf. unter Berücksichtigung von spezifischen Arbeitsplatzanpassungen (z. B. Ergonomisierung). Zudem ist von Beginn an der realistische Abgleich zwischen Dienstpostenanforderungen sowie der aktuellen, aber auch der maximal zu erwartenden, individuellen Leistungsfähigkeit der Rehabilitanden erforderlich. Ist frühzeitig erkennbar, dass der Dienst am Dienstort vorübergehend bzw. in der Verwendung dauerhaft nicht realisierbar sein wird, werden alternative Möglichkeiten (Kommandierung, Telearbeit, Versetzung) in Betracht gezogen, entsprechende Verantwortliche (Truppenarzt, Vorgesetzte, Personalführung, Sozialdienst, Arbeitsmedizin, ggf. Schwerbehindertenvertretung usw.) eingebunden und die weitere Planung forciert. Dadurch sollen der Wiedereingliederungsprozess bzw. Erhalt der Dienstfähigkeit bei bestehender Diskrepanz nicht gefährdet, aber auch eine zusätzlich ungünstige Auswirkung auf den Gesundheitszustand des Rehabilitanden durch langfristige Befreiungen von allen Diensten vermieden werden [16][25].
Im Zentrum der IDA stehen also
- Verbesserung bestehender funktionaler und/oder kognitiver Einschränkungen,
- Wiederherstellen von Funktionen und Aktivitäten des täglichen Lebens,
- mindestens Wiederherstellen einer eingeschränkten Verwendungsfähigkeit sowie
- Wiedereingliederung ins soziale Umfeld.
Organisatorische Vorgaben
Die IDA erstreckt sich insgesamt über 2,5 Wochen, wobei schwerpunktmäßig auf eine 1:1-Betreuung der Rehabilitanden abgezielt wird. Abhängig von den infrastrukturellen Gegebenheiten können maximal 4 bis 6 Rehabilitanden in einem gleichen Zeitraum parallel versorgt werden. Abweichungen können durch die ärztliche Leitung in Kenntnis der persönlichen Leistungsprofile im Vorfeld festgelegt werden. Die Indikation für die Rehabilitationsleistung „IDA“ wird in der Fallkonferenz unter Berücksichtigung der Ein- und Ausschlusskriterien (Abbildung 2) festgelegt.
Abb. 2: Ein- und Ausschlusskriterien IDA (d= Komponente Aktivität und Partizipation der ICF-Klassifikation; b = Komponente Körperfunktion; s = Komponente Körperstrukturen)
StandardisierteTherapiemodule
Die standardisierte Interventionsmaßnahme IDA umfasst die nachfolgenden Therapiefelder:
- Sport- und Bewegungstherapie, Physiotherapie,
- Klinische Psychologie, Arbeitstherapie, Klinische Sozialarbeit und
- Information, Motivation, Schulung, Ernährungsmedizin.
Inhaltlich wurden den verschiedenen Therapiefeldern standardisierte Therapieleistungen2 (Abbildung 3) des FachArztZ Rostock zugeordnet, wobei zwischen obligatorischen und optionalen unterschieden wird. Nach rehabilitationswissenschaftlichen Erkenntnissen wurden den verschiedenen Therapieleistungen Zeitansätze zugeordnet. Die vorgegebenen Zeitansätze der obligatorischen Module können in Abhängigkeit von personellen, infrastrukturellen Rahmenbedingungen, sowie indikationsspezifisch durch optionale Module ersetzt oder ergänzt werden. Der Gesamtzeitansatz der obligatorischen Module sollte dabei nicht unterschritten werden.
EvaluationzurSicherungderErgebnisqualität
Nach Abschluss der teilstationären Interventionsmaßnahmen IDA erfolgt ein Zwischen-Assessment. Das daraus abgeleitete berufsbezogene Funktionsfähigkeitsprofil erzeugt ein aktuelles funktionales Bild mit medizinischen, berufsbezogenen und sozialen Aspekten, welches der Therapieerfolgskontrolle dient und die Grundlage für die weitere Therapieplanung sowie der Beurteilung des Leistungsvermögens, auch hinsichtlich prognostischer Aussagen, bildet. Alle Rehabilitanden, die an der IDA teilgenommen haben, werden, sobald die Einschlusskriterien erreicht sind, an der teilstationären Rehabilitationsmaßnahme „Dienstlich Orientierte Reha-Nachsorge“ (DORENA) am FachArztZ Rostock teilnehmen.
Dabei ergeben sich verschiedene Möglichkeiten für den weiteren Rehabilitationsverlauf (Abbildung 4).
Dienstlich orientierte Reha-Nachsorge (DORENA)
Zielsetzung
Ziel der medizinisch-dienstlich orientierten Rehabilitation in der Bundeswehr ist die Wiederherstellung bzw. Sicherung der bestmöglichen Dienst- und Verwendungsfähigkeit. Wie bereits erwähnt, sind dazu Kenntnisse über die dienstposten-spezifischen Erfordernisse, aber auch die Berücksichtigung der allgemeinen Anforderungen des militärischen Dienstes (individuelle Grundfertigkeiten (IGF)) von Beginn an im Reha-Prozess erforderlich. Um die Leistungsfähigkeit der Soldaten gemäß den spezifischen Herausforderungen der unterschiedlichen militärischen Aufgabenbereiche zu steigern, nehmen alle Patienten, die an der „IDA“ teilgenommen haben, in Phase 3 auch an der teilstationären Interventionsmaßnahme
„DORENA“ teil.
Erfüllt ein Soldat im Assessment zur Reha-Bedarfsermittlung die Einschlusskriterien für die IDA nicht, da nur eine geringe bis mäßige Problemlage in den Bereichen Körperfunktionen, Aktivität/Teilhabe vorliegt, es sich aber eine Diskrepanz zwischen der individuellen Leistungsfähigkeit und den Dienstpostenanforderungen aufzeigt sowie ein Interventionsbedarf im Bereich der genannten Therapiefelder vorliegt, wird in der interdisziplinären Fallkonferenz die Teilnahme an der DORENA gemäß der Ein- und Ausschlusskriterien (Abbildung 5) geprüft und der Patient dieser Maßnahme zugeführt.
Im Zentrum der Maßnahmen „DORENA“ stehen die
- Verbesserung bestehender funktionaler und/oder kognitiver Einschränkungen,
- Stabilisierung von Lebensstil und Verhaltensweisen,
- strukturierte Unterstützung bei spezifischen Problemen im Dienst und im Alltag,
- Unterstützung bei der dienstlichen und sozialen Wiedereingliederung sowie
- Sicherung der bereits erreichten Rehabilitationsziele.
OrganisatorischeVorgaben
DORENA erstreckt sich insgesamt über zwei Wochen mit einer Teilnehmerzahl von 6–8 Rehabilitanden und wird fast ausschließlich im Gruppensetting umgesetzt. Abweichungen können durch die ärztliche Leitung in Kenntnis der persönlichen Leistungsprofile im Vorfeld festgelegt werden.
Im Rahmen der Interventionsmaßnahme erfolgt zum Zeitpunkt des Aufnahmeprozesses eine aktuelle Evaluation der körperlichen Leistungsfähigkeit in Bezug auf den derzeitigen bzw. geplanten Dienstposten. Neben den Dienstpostenanforderungen sowie der Selbstbeurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit mittels PACT-Tests [19] erfolgt eine gezielte physiotherapeutische Testung zur Erfassung der dienstbezogenen körperlichen Leistungsfähigkeit. Als evidenzbasierte Vorlage diente hier das ELA-Verfahren (Einschätzung körperlicher Leistungsfähigkeiten bei arbeitsbezogenen Aktivitäten) [4][5][6], das berufliche Anforderungen im Rahmen standardisierter anforderungsorientierter Aktivitätstests simuliert. Nach jedem Test wird das subjektive Belastungsempfinden (Borg-Skala) des Rehabilitanden erfasst. Dieses Vorgehen im Aufnahmeprozess dient dazu, Angaben hinsichtlich körperlicher Über- oder Unterforderungen zu objektivieren und somit ein funktionelles Leistungsbild zu erstellen. Ergänzt wird die Testung noch um den Fragebogen Tampa-Skala der Kinesiophobie (TSK) (Tabelle 1), der auf einem Modell verschiedener Arten von Angst basiert: Angst vor Bewegung, Angst, sich bei der Arbeit zu bewegen und Angst, sich erneut zu verletzen [15]. Somit haben wir die Möglichkeit, auf die Ängste, die sich erfahrungsgemäß durch ein unzureichendes Vertrauen in die körperliche Leistungsfähigkeit, insbesondere im dienstlichen Kontext äußern, mittels Schulungen, Aufklärung sowie Therapeuten-gestützte Belastungssteigerung zu reagieren.
StandardisierteTherapiemodule
Entsprechend der bekannten Therapiefelder:
- Sport- und Bewegungstherapie, Physiotherapie,
- Klinische Psychologie, Arbeitstherapie, Klinische Sozialarbeit sowie
- Information, Motivation, Schulung, Ernährungsmedizin
sind inhaltlich auch für die DORENA-standardisierten Therapieleistungen des FachArztZ Rostock definiert worden (Abbildung 6), wobei ebenfalls zwischen obligatorischen und optionalen Therapieleistungen unterschieden wird.
Abb. 6: Übersicht standardisierte Therapieleistungen DORENA
Evaluation zur Sicherung der Ergebnisqualität
Zu mehreren Testzeitpunkten (Eingangs-Assessment/ Zwischen-Assessment/Abschluss-Assessment) werden gemäß dem Standard-Assessment (Anlage 6 zu „Fachliche Leitlinie zur Standardisierung des Pilotprojektes Reha-Stp“) der Fragebogen zur Lebensqualität der WHOQOL-BREF und zur Erfassung der berufsbezogenen funktionalen Gesundheit im Sinne der ICF der WORQ sowie indikationsbezogene Fragebögen verwendet. Ergänzend nutzen wir zur Erhebung bewegungsbezogener Angst den TSK, zur Erfassung der schmerzbedingten Behinderung den PDI sowie zur Erfassung der subjektiven Selbsteinschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit und Belastungstoleranz für verschiedene alltägliche/berufsrelevante körperliche Anforderungen den PACT im Eingangs-Assessment DORENA und Abschluss-Assessment (Tabelle 1).
Auf Grundlage des so generierten berufsbezogenen Funktionsfähigkeitsprofils als zentrales Steuerungs- und Koordinierungsinstrument wird in der interprofessionellen Fallkonferenz der Therapieerfolg kontrolliert (Erreichen der Reha-Teilziele) sowie ggf. weitere Interventionsmaßnahmen zur Sicherung bzw. Verbesserung des Reha-Erfolges mit Zielvereinbarung festgelegt. Zudem erfolgt die Beurteilung des Leistungsvermögens unter Berücksichtigung der Anforderungen auf dem Dienstposten, auch hinsichtlich prognostischer Aussagen. Sobald sich gemäß dem Funktionsfähigkeitsprofil keine reharelevanten Teilhabestörungen mehr ergeben, kann der Rehabilitationsprozess abgeschlossen werden. Darüber hinaus erfolgt die finale Evaluation zur Sicherung der Strukturqualität gemäß den Vorgaben des Kommandos Regionale Sanitätsdienstliche Unterstützung G 3.1.3 QM und MedContr.
Entscheidend für die Stabilisierung des Rehabilitationserfolges ist der Transfer des Erlernten in den (Dienst-)Alltag z. B. durch konsequentes Umsetzen der erlernten Hausübungsprogramme. Zur Förderung des Selbstmanagements sind Tele-Reha-Nachsorge-Programme ein hilfreiches Unterstützungsangebot [9][11]. Unsererseits wurden in den Heimtrainingsphasen die Plattformen Physitrack® sowie PhysiApp® als Begleitsysteme erprobt, mit denen Gesundheitsdienstleister klinische Trainingsprogramme patientenindividualisiert erstellen sowie Telehealth- Konsultationen durchführen können.
Als positive Aspekte sind neben der nicht-ortsgebundenen Betreuung in der Heimtrainingsphase auch das umfangreiche Portfolio an vorgefertigten Übungsprogrammen bzw. Einzelübungen zu nennen. Der Rehabilitand hat sein Übungsprogramm auf seinem Smartphone immer bei sich, kann Erinnerungseinstellungen aktivieren, kann zu jeder Übung bei Bedarf ein Feedback geben und wird zur Schmerzskala bei der Umsetzung gefragt. Der Therapeut erhält somit eine direkte Information hinsichtlich Umsetzbarkeit, aber auch zur Therapietreue des Rehabilitanden, die im Re-Assessment zurückgemeldet werden kann.
Der einzige nachteilige Aspekt zeigte sich in der Notwendigkeit der wöchentlichen Systemaktualisierung der Endgerätenutzer, damit die Hausübungsprogramme über die App fehlerfrei abgerufenen werden können.
Dienstlich orientiertesCoaching(DOC)
Hintergrund und Zielsetzung
Im Facharztzentrum Rostock wurde 2019 das Durchführungskonzept für ein 4-wöchiges modulares, dienstliches Reintegrationstraining in einer regionalen Sanitätseinrichtung in Zusammenarbeit mit dem Psychotraumazentrum der Bundeswehr (PTZBw) des Bundeswehrkrankenhauses Berlin entwickelt und im November 2019 erstmals umgesetzt [22]. Den vielen positiven Aspekten/Ergebnissen des Trainings stand eine enorme Bindung personeller und infrastruktureller Ressourcen am Facharztzentrum gegenüber, sodass ein Therapiekonzept erstellt werden musste, welches Arbeitsabläufe weiterhin gewährleistet und ressourcenschonender stattfinden kann [22].
Daher wurde am FachArztZ Rostock auch für psychisch/psychosomatisch erkrankte Soldaten ein Intervall-Rehabilitationskonzept erarbeitet und erprobt. Vorteile des Verfahrens sind nicht nur der ressourcenoptimierende Ansatz auf der durchführenden Seite, sondern der Charakter des bestenfalls dienstbegleitenden Trainings, was es ermöglicht, die Rehabilitanden beim Transfer der erworbenen Bewältigungsstrategien im privaten und dienstlichen Kontext besser zu begleiten. Aber auch für Soldaten, die sich noch nicht im Wiedereingliederungsprozess befinden, kann durch die Maßnahme mittels Forcierung persönlicher Zielsetzungen sowie Stärkung von Motivatoren die Rückkehr in den Dienst als essentieller Baustein im individuellen Rehabilitationsprozess gefördert werden.
Durch die intensivere Begleitung der Rehabilitanden über einen längeren Zeitraum können förderliche und hemmende Faktoren im Rehabilitationsprozess näher beobachtet und beispielsweise dienstliche Wiedereingliederungsbarrieren über einen längeren Zeitraum beeinflusst werden. Intrinsische und extrinsische Motivatoren können zudem besser bewertet und somit gezielter auf sie eingewirkt werden. Der Wirkfaktor Gruppe über solch einen langen Zeitraum hat ebenfalls einen förderlichen Einfluss auf die Motivation der Gruppenteilnehmer und stellt auf zwischenmenschlicher sowie kameradschaftlicher Ebene einen relevanten Förderfaktor dar.
Im Zentrum der Maßnahmen stehen die
- Verbesserung bestehender funktionaler und/oder kognitiver Einschränkungen,
- Verbesserung der Sozialkompetenz,
- Verbesserung der Stressbewältigungsstrategien,
- Arbeitsgestaltung basierend auf gesundheitsfördernden, arbeitsbezogenen Erlebens- und Verhaltensmustern und
- Optimierung und Finalisierung des Wiedereingliederungsprozesses.
Die hier beschriebene, rehabilitative Maßnahme sollte erst dann erfolgen, wenn Patienten erste Schritte psychotherapeutischer Veränderungen sowie eine erste Symptomreduktion erreicht haben, da das Konzept neben einer Reflektionsfähigkeit auch Erfahrungen mit der Umsetzung von Veränderungen fordert (Abbildung 7).
OrganisatorischeVorgaben
Die Durchführung des teilstationären Intervall-Programms (Abbildung 8) erfolgt im Gruppensetting mit maximal sechs Rehabilitanden.
Abb. 8: Phasenmodell Intervall-Rehabilitation DOC
Nach einer Kompaktwoche erfolgen in einem vierzehntägigen Abstand insgesamt vier zweitägige Wiedervorstellungstermine. Zudem erfolgt drei Monate nach Abschluss der Maßnahme ein ganztägiger Nachsorgetermin, bei dem in der Rehabilitation angestoßene Lerneffekte aufgegriffen bzw. neue angestoßen werden sollen sowie gezielt auf die Klärung möglicher Barrieren im Reha-Transfer eingegangen werden kann.
StandardisierteTherapiemodule
Das Gruppenprogramm setzt sich aus verschiedenen Modulen zusammen, die inhaltlich den verschiedenen Therapiefeldern gemäß Standardisierung zugeordnet werden können (Abbildung 9).
EvaluationzurSicherungderErgebnisqualität
Zu mehreren Testzeitpunkten (t0 – Eingangs-Assessment, t2 – Zwischen-Assessment, t3 – Abschluss-Assessment) werden gemäß dem Standard- Assessment (Anlage 6 zu „Fachliche Leitlinie zur Standardisierung des Pilotprojektes Reha-Stp“) der Fragebogen zur Lebensqualität der WHOQOL-BREF, als Gesundheitsfragebogen der PHQ-D und zur Erfassung der berufsbezogenen funktionalen Gesundheit im Sinne der ICF der WORQ verwendet. Ergänzend nutzen wir den SCL-90 zur Erfassung der psychischen Belastung, das mehrdimensionale persönlichkeitsdiagnostische Verfahren AVEM sowie zur Abbildung grundlegender sozialer Kompetenzen den Fragebogen ISK (Tabelle 2).
Auf der Grundlage des so generierten berufsbezogenen Funktionsfähigkeitsprofils als zentrales Steuerungs- und Koordinierungsinstrument werden in der interprofessionellen Fallkonferenz der Therapieerfolg kontrolliert (Erreichen der Reha-Teilziele) sowie ggf. weitere Interventionsmaßnahmen zur Sicherung bzw. Verbesserung des Reha-Erfolges mit Zielvereinbarung festgelegt. Zudem erfolgt die Beurteilung des Leistungsvermögens unter Berücksichtigung der Anforderungen auf dem Dienstposten, auch hinsichtlich prognostischer Aussagen. Sobald sich gemäß Funktionsfähigkeitsprofil keine reharelevanten Teilhabestörungen mehr ergeben, kann der Rehabilitationsprozess abgeschlossen werden.
Zudem erfolgt die abschließende Evaluation zur Sicherung der Strukturqualität gemäß den Vorgaben des Kdo RegSanUstg G 3.1.3 QM und MedContr.
Erste Bewertung/Ausblick
Die Umsetzung von Rehabilitationsmaßnahmen in Bundeswehreinrichtungen auf stationärer bzw. ambulanter/teilstationärer Ebene im dienstnahen Setting kann sich durch gezielte Betonung der Zugehörigkeit zur Peergroup „Soldat“ und den damit verbundenen Werten, Ritualen und Symbolen förderlich auf den Krankheitsbewältigungsprozess auswirken [18]. Auch die besonderen körperlichen und mentalen Anforderungen an eine Soldatin/einen Soldaten werden in einem zivilen Rehabilitationskonzept nicht ausreichend gewürdigt bzw. abgebildet.
In einem systematischen Rehabilitationsprozess sind die Reha-Stp, nach dem Erkennen eines möglichen Rehabilitationsbedarfes mittels Checkliste „Reha-Bedarfserkennung“ durch die Truppenärztin/den Truppenarzt, für die Reha-Bedarfsermittlung durch ein multiprofessionelles Assessment einschließlich einer interprofessionellen Fallkonferenz zuständig. Auf Grundlage eines Funktionsfähigkeitsprofils zur systematischen Fallstrukturierung wird ein priorisierter und fachgebietsübergreifender Maßnahmenplan mit Reha-Arztbrief erstellt. Mit dem Aufbau der Fähigkeit teilstationäre Rehabilitationsmaßnahmen in Reha-Stp etablierte sich neben den externen Leistungserbringern sowie Kompetenzzentren wie ZSportMedBw oder PTZBw nun auch ein konzentriertes regionales therapeutisches Angebot an ausgewählten Facharztzentren.
Die beschriebenen teilstationären Rehabilitationsmaßnahmen, die am Reha-Stp FachArztZ Rostock in Zusammenarbeit mit den verschiedenen Fachabteilungen (Physiotherapie, Klinische Psychologie sowie Fachärzte) umgesetzt werden, scheinen geeignete Konzepte zu sein, die sowohl den standardisierten Vorgaben des Kdo RegSanUstg entsprechen, eine hohe Akzeptanz bei den Teilnehmenden erzielen und durch die Einbeziehung des Dienstkontextes von Beginn an den Wiedereingliederungsprozess entscheidend fördern.
Eine Überprüfung der Ergebnisqualität im Rahmen der Evaluation der Reha-Maßnahmen wird bei höherer Stichprobenzahl der Rehabilitanden noch erfolgen. Auch eine flächenübergreifende Evaluation ist dank der standardisierten Assessments künftig durchführbar.
Die Erweiterung des Intervall-Rehabilitationskonzeptes für psychisch/psychosomatisch Erkrankte wäre denkbar z. B. durch Konzepte wie REHA-Kompakt [24] sowie das 23-tägige Reintegrationstraining am Bundeswehrkrankhaus Berlin [17], um den Rehabilitationsprozess von Beginn an zu begleiten, zu steuern und Brüche im Rehabilitationsverlauf zu vermeiden und letztendlich auch in einem vorgegebenen, zeitlich angepassten Rahmen zum Abschluss zu bringen.
Literatur
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- Bühne DA: Die Vorhersage des beruflichen Wiedereingliederungserfolges anhand der ELA-Aktivitätstests. 26. Rehabilitationswissenschaftliches Kolloquium (S. Bd. 111, 185-187). Frankfurt am Main: DRV-Schriften 2018.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Hoffmann AK, Herr K, Hamm A, Grünheid S, Brambach H, Böge, J, Urbscheit A, Dierich A: IDA, DORENA und DOC – Intervallrehabilitation am Facharztzentrum Rostock. WMM 2024; 69(4): 150-160.
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Anne-Kathrein Hoffmann
Facharztzentrum Rostock, Reha-Stützpunkt,
Hohe Düne 30, 18119 Rostock
E-Mail: annekathreinhoffmann@bundeswehr.org
1 In diesem Beitrag wird zur besseren Lesbarkeit überwiegend die männliche Form „Soldat“, „Patient“ und „Rehabilitand“ verwendet, mit der alle Geschlechter gemeint sind.
2 Im Rahmen eines internen QM-Prozesses am FachArztZ Rostock wurde in Analogie der zivil anerkannten Klassifikation therapeutischer Leistungen (KTL) standardisierte Therapieleistungen definiert, mit dem Ziel einer evidenzorientierten Gestaltung der Rehabilitation.