Genexpressions-basierte Diagnostik der akuten Strahlenkrankheit: Von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung
Gene Expression-Based Diagnostics of Acute Radiation Sickness: From Basic Research to Clinical Application
Simone Schülea
a Institut für Radiobiologie der Bundeswehr, München
Zusammenfassung
Aktuell entwickeln sich radiologische und nukleare (R/N) Großschadenslagen zu einer zunehmenden Bedrohung. Hier ist eine Früh- und Hochdurchsatz-Diagnostik essenziell. Sie dient zur Identifikation dreier klinisch relevanter Gruppen: (1) unbestrahlte Individuen und solche, die (2) eine geringe und (3) eine starke Ausprägung der akuten Strahlenkrankheit im späteren Krankheitsverlauf entwickeln werden. Letztere benötigen eine sofortige, intensivmedizinische Versorgung. Ein aus 4 Genen bestehendes Set wurde in den vergangenen Jahren als Triage-Tool entwickelt, um diese drei klinisch relevanten Gruppen zu differenzieren.
Zur klinischen Anwendung mussten folgende Probleme angegangen werden: (1) Die in der Forschung verwendeten PAXgene Vollblut-Röhrchen mussten durch in der Klinik verwendete EDTA-Röhrchen ersetzt werden. (2) Das Assay-Design der vier Gene wurde optimiert. (3) Das Verfahren wurde schließlich an einer klinischen strahlenäquivalenten Patientenkohorte validiert.
Aus Vollblutproben wurde RNA isoliert, in cDNA konvertiert und die Gene mittels quantitativer Echtzeit-Polymerase-Kettenreaktion (qRT-PCR) als ein Mehrfaches an RNA-Kopien relativ zu einer Referenz (differentielle Genexpression, DGE) analysiert.
Unsere Untersuchungen zeigten, dass (1) EDTA-Röhrchen bei Raumtemperatur oder 4 °C bis zu 24 h nach Blutabnahme verwendet werden können. (2) Es wurde ein Exon-spezifisches optimiertes Assay-Design entwickelt und (3) dieses Genset schließlich erfolgreich an einer Patientenkohorte validiert.
Diese jahrelangen experimentellen Forschungsarbeiten sind ein Beispiel mit dem Ziel der klinischen Anwendung der Genexpressions-basierten Früh- und Hochdurchsatz-Diagnostik im Falle eines R/N Großschadensereignisses.
Schlüsselwörter: Genexpressionsdiagnostik, akute Strahlenkrankheit, R/N-Szenar, Hochdurchsatzfähigkeit, klinische Anwendung
Summary
Radiological and nuclear (R/N) large-scale emergencies currently pose an increasing threat. In these cases, early and high-throughput diagnostics are essential. It serves to identify 3clinically relevant groups: (1) unirradiated individuals and those who will develop (2) mild and (3) severe expression of acute radiation sickness later in the disease course. The latter require immediate, intensive medical care. A set consisting of four genes has been developed in recent years as a triage tool to differentiate these three clinically relevant groups.
For clinical application, the following problems had to be addressed: (1) The PAXgene whole blood tubes used for basic research had to be replaced by EDTA tubes, which are predominantly used in clinics. (2) The assay design of the four genes was optimized. (3) The method was finally validated in a clinical radiation-equivalent patient cohort.
RNA was isolated from whole blood samples, transcribed to cDNA, and gene expression were analyzed by quantitative real-time polymerase chain reaction (qRT-PCR) as a multiple of RNA copies relative to a reference (differential gene expression, DGE).
Our studies showed that (1) EDTA tubes can be stored at room temperature or 4°C for up to 24 h after blood collection. (2) An exon-specific optimized assay design was developed and (3) this gene set was finally successfully validated in a cohort of patients.
These years of experimental research are an example with the goal of clinical application of gene expression-based early and high-throughput diagnostics in the event of a major R/N event.
Keywords: gene expression diagnostic, acute radiation sickness, R/N scenario, high-throughput capability, clinical application
Einleitung
In der aktuellen politischen Situation bedeuten radiologische und nukleare (R/N) Großschadenslagen eine zunehmende Bedrohung, die zu einer großen Anzahl strahlenexponierter Menschen führen können. Aufgrund der geringen Häufigkeit solcher Vorfälle beschränken sich die Kenntnisse und zum Teil auch die praktischen Erfahrungen mit der Diagnose und Behandlung von Strahlenunfallopfern auf bestimmte hochspezialisierte Einrichtungen. Insbesondere bei R/N-Szenarien mit einem Massenanfall von Verletzten sind jedoch ausreichende Diagnosekapazitäten in kürzester Zeit erforderlich, um unbestrahlte Individuen von jenen zu unterscheiden, die zeitverzögert leicht oder schwer erkranken werden. Letztere benötigen eine sofortige intensivmedizinische Versorgung [6].
Die akute Strahlenkrankheit (ASK) ist eine lebensbedrohliche Erkrankung [11]. Ab circa 2 Gy Ganzkörperbestrahlung können Blutbildveränderungen mit einhergehender Immundefizienz, Blutungsneigungen und Blutarmut innerhalb weniger Tage nach einer Strahlenexposition auftreten [8][10]. Blutbildveränderungen können zur frühzeitigen Vorhersage des Schweregrades der ASK herangezogen werden [9].
Die Genexpressionsanalyse (GE) ist ein sich etablierender, vielversprechender Ansatz für die Früh- und Hochdurchsatzdiagnostik der ASK (Abbildung 1). In den letzten Jahren hat sich die kombinierte Analyse von vier Genen (FDXR, DDB2, WNT3, POU2AF1) für die Vorhersage des Schweregrades der ASK etabliert [18–20]. Die in den ersten 3 Tagen nach Bestrahlung gemessene alleinige Hochregulation von FDXR und DDB2 bzw. eine kombinierte Hochregulation von FDXR, DDB2, undHerunterregulation der Gene WNT3 und POU2AF1 weisen auf eine geringe bzw. eine klinisch relevante, sich später ausprägende ASK hin (Tabelle 1) [3][19].
In der vorliegenden Arbeit werden in drei Kapiteln verschiedene Fragestellungen adressiert, die zur klinischen Verwendung des im Laboralltag etablierten Assays in einem medizinischen A-Großschadensereignis notwendig sind.
Kapitel 1: Die im Laboralltag übliche Verwendung spezieller Röhrchen zur RNA-Gewinnung (PAXgene) sind für die Klinik ungeeignet. Die Umstellung auf EDTA-Röhrchen und damit einhergehende Spezifikationen (Zeit und Temperatur) wurden identifiziert.
Kapitel 2: Durch die Optimierung des Assay-Designs auf Exonebene der vier Gene konnte die Diagnosestellung anhand der Gensignatur grundlegend verbessert werden.
Kapitel 3: Abschließend wurde die Gensignatur an einer klinischen strahlenäquivalenten Patientenkohorte zusätzlich validiert.
Material und Methoden
In diesem Teil werden übergreifend die in allen drei Kapiteln verwendeten Materialien und Methoden kombiniert wiedergegeben. In den Folgekapiteln werden hernach nur mehr die spezifischen Aspekte, insbesondere die Blutabnahme und Bestrahlungskonditionen, aufgeführt.
RNA-Isolation
RNA wurde entweder halbautomatisch (QIAsymphony SP, Qiagen, Hilden, Deutschland) oder manuell (RNeasy Mini Kit, Qiagen, Hilden, Deutschland) isoliert, spektralphotometrisch quantifiziert (NanoDrop™, PeqLab Biotechnology, Erlangen, Deutschland) und qualitativ beurteilt (RIN-Werte, 4200 TapeStation System, Agilent Technologies, Santa Clara, USA) bewertet.
Quantitative Echtzeit Polymerase Kettenreaktion (qRT-PCR)
Aliquots der Gesamt-RNA wurden in cDNA konvertiert (High-Capacity cDNA Reverse Transcription Kit, Applied Biosystems™, Life Technologies, Darmstadt, Deutschland), mit dem TaqMan Universal PCR Master Mix gemischt und die qRT-PCR mit einem QuantStudio 12K OA Real-Time PCR System (Thermo Fisher Scientific Inc., Waltham, USA) in Doppelbestimmung durchgeführt. 18S rRNA diente als „Housekeeping Gen“ zur Normalisierung [22]. Das Verhältnis (DGE) der Genexpression gegenüber der Referenz (unbestrahlte Probe) wurde mit dem Delta-Delta-Ct-Verfahren (DGE = 2-∆∆Ct) bestimmt [14].
Statistische Analyse
Die deskriptive Statistik wurde mit Excel erstellt. Gruppenvergleiche wurden mit parametrischem t-Test und nicht-parametrischen Tests durchgeführt und in SPW (SigmaPlot, Version 14, Jandel Scientific, Erkrath, Deutschland) grafisch dargestellt.
Kapitel 1 – Anwendung der Genexpressionsanalyse im Klinischen Alltag
Hintergrund
Die Behandlung von Strahlenunfallopfern in einem A-Szenar erfolgt in spezialisierten Krankenhäusern, aber PAXgene Röhrchen sind dort nicht etabliert. Die Umstellung auf EDTA-Röhrchen für die Genexpressionsanalyse zur Prädiktion des ASK-Schweregrades ist daher von essenzieller Bedeutung. Die Durchführung der Diagnostik ist bestimmten hochspezialisierten Laboreinrichtungen vorbehalten. In diesem Kapitel werden verschiedene Transportbedingungen von EDTA-Vollblutröhrchen getestet, um eine qualitativ hochwertige und sichere Diagnosestellung zu gewährleisten.
Material und Methoden
Insgesamt wurde für dieses Kapitel peripheres Vollblut von 11 gesunden Donoren (4 männlich, 7 weiblich, 27–44 Jahre alt) in 4,9 ml EDTA-Röhrchen (Sarstedt AG & Co. KG, Nümbrecht, Deutschland) abgenommen.
In Vorexperimenten wurden zuerst eine verzögerte Weiterverarbeitung der Blutproben auf der Patientenstation von bis zu 4 Stunden bei Raumtemperatur (RT), sowie ein anschließender 24-stündiger Transport der Blutproben bei RT, 4°C und -20°C zum weiterverarbeitenden Speziallabor simuliert.
Abschließend erfolgte die Wiederholung der Versuche mit den vielversprechendsten Lagerungs- und Transportbedingungen der Vorexperimente mit 0 und 4 Gy bestrahlten Blutproben.
Die Weiterverarbeitung der Proben erfolgte wie im generellen Material und Methodenteil unter RNA-Isolation und qRT-PCR beschrieben.
Die dargestellten Genexpressionsergebnisse des ersten Kapitels sind vorläufig. Die Forschungsarbeiten zum Bestrahlungsexperiment sind andauernd. Dargestellt sind die Ergebnisse von 3 von insgesamt 5 Donoren.
Ergebnisse
Vorexperimente:
Eine verzögerte Weiterverarbeitung der EDTA-Vollblutproben von maximal 4 Stunden auf Station mit anschließendem 24-stündigem Transport der Proben bei RT oder 4°C hat keinen Einfluss auf die RNA-Qualität und Quantität, und auf die Genexpression von FDXR, DDB2, WNT3 und POU2AF1. Ein Transport der Proben bei -20°C führt zu einer reduzierten RNA-Qualität und Quantität und zu veränderten Genexpressionsergebnissen der 4er-Gensignatur (p ≤ 0,049).
Bestrahlungsexperiment (4 Gy) - Wiederholung des Experiments mit den erfolgversprechendsten Versandbedingungen der Vorexperimente
Nach Bestrahlung führte eine bis zu 4-stündige Lagerung der Proben auf der Patientenstation und ein 24-stündiger Transport bei RT oder 4°C zu keinen Unterschieden bei der RNA-Ausbeute, der RINe und den 18S rRNA basalen Expressionswerten (p ≥ 0,052).
Die in diesem Experiment untersuchten Lagerungs- und Transportbedingungen führten zu keinen Unterschieden bei der DGE von FDXR, DDB2 und POU2AF1 (p ≥ 0,064) (Abbildung 2). Bei WNT3 hingegen zeigte sich zur Referenz (0 h bei RT) eine reduzierte DGE (p ≤ 0.046) bei Proben die zusätzlich 24 h bei RT oder 4°C gelagert wurden. Diese Unterschiede waren jedoch noch innerhalb der methodischen Varianz der qRT-PCR und sind dementsprechend für den klinischen Alltag nicht relevant.
Kapitel 2 – Diagnoseverbesserung der qRT-PCR zur besseren klinischen Anwendbarkeit
Hintergrund
Im Rahmen verschiedener laborübergreifender internationaler Übungen wurden beim Vergleich der qRT-PCR-Ergebnisse der Teilnehmenden Unterschiede im Umfang der strahleninduzierten Hochregulierung von FDXR und DDB2 festgestellt [1][2][4][5][13]. Alternatives „Splicing“ nach Bestrahlung könnte zu Exon-basierten Genexpressionsunterschieden führen und bei Verwendung verschiedener Exon-detektierender Assays der Teilnehmer die Unterschiede erklären helfen. Somit untersuchten wir systematisch alle Exonregionen für unsere vier Gene nach Bestrahlung [24].
Material und Methoden
Peripheres Vollblut von 3 gesunden Spendern (2 weiblich, 1 männlich, 23–39 Jahre alt) wurde in Natrium-Heparin-Zell-Aufbereitungs-Röhrchen abgenommen (BD, Heidelberg, Deutschland) und ex vivo bei 37°C mit 0, 0,5 und 4 Gy (Dosisleistung 1 Gy/min) bestrahlt. Die RNA-Isolation und qRT-PCR erfolgte im Anschluss nach 24 h und 48 h wie im generellen Material- und Methodenteil beschrieben. Die verwendeten Assays deckten alle Exonregionen von FDXR (n = 16), DDB2 (n = 11), WNT3 (n = 5) und POU2AF1 (n = 9) ab. Normalisierung und FC-Berechnungen erfolgten wie im generellen Material- und Methodenteil beschrieben. Bei der Datenauswertung berücksichtigten wir die Nachweisgrenzen (ausreichende Basalexpressionswerte der Gene), die Dosisabhängigkeit, die Genexpressionspersistenz über 48 h und die interindividuelle Variabilität jedes Exonpaares. Mit dieser Untersuchung wurden jene Assays identifiziert, die am besten zur Diagnostik und Vorhersage der akuten Strahlenkrankheit geeignet sind. [24]
Ergebnisse
Die Ergebnisse können wie folgt zusammengefasst werden:
Insgesamt erklärt eine vergleichbare Induktion der Genexpression nach der Bestrahlung, die in den meisten FDXR- und DDB2-Exon-Regionen beobachtet wurde, nicht die großen Unterschiede in den Dosisschätzungen, die von verschiedenen Teams in großen Biodosimetrie-Übungen gemeldet wurden. Exon-bezogene Genexpressionsunterschiede bei POU2AF1 und WNT3 beweisen jedoch die Existenz von strahlensensibleren Exonregionen bei manchen, jedoch nicht allen, untersuchten Genen.
Anhand verschiedener Kriterien wie basale Expressionsrate, Ausmaß der strahleninduzierten differentiellen Genexpression, zeitliche Persistenz und interindividuelle Variabilität wurden mehrere Assays identifiziert, die zur Biodosimetrie und Identifizierung klinisch relevanter Gruppen nach Strahlenexposition verwendet werden können (Tabelle 2) [24].
* = Dosisabhängigkeit nur für 4 Gy. [24]
Kapitel 3 – Validierung der Gensignatur an einem strahlenäquivalenten Patientenkollektiv
Hintergrund
Nukleare Unfälle und die Zahl der betroffenen Opfer, die eine ASK entwickeln, sind seltene Ereignisse. Entsprechend ist Probenmaterial von menschlichen Patienten, die sich im Rahmen ihrer Behandlung einer Ganzkörperbestrahlung unterzogen haben, zumeist auf Leukämiepatienten beschränkt. Darüber hinaus sind die Ergebnisse, die bei schwer erkrankten Leukämiepatienten erhoben werden, schwierig zu interpretieren, da es sich um Patienten mit einer lebensbedrohlichen hämatologischen Grunderkrankung handelt. Im Gegensatz dazu ist die Verabreichung einer Chemotherapie (CTX) an Patienten, die an einem lokalen Tumor leiden und sich in einem besseren allgemeinen Gesundheitszustand befinden, weitaus häufiger und führt zu Blutbildveränderungen, die denen nach einer Strahlenexposition ähneln. Außerdem ähneln die Wirkmechanismen nach CTX (Freisetzung freier Radikale und Induktion von DNA-Strangbrüchen) den biologischen Effekten, die nach ionisierender Strahlung beobachtet werden [15][17]. Dies hat uns dazu motiviert, unsere Gensignatur, die sich für eine frühzeitige Vorhersage des Schweregrads einer akuten Strahlenkrankheit im Hochdurchsatzverfahren eignet, an CTX-Patienten zu untersuchen, um ein „Surrogat-Modell“ von Patienten für Validierungszwecke zu finden und zu etablieren. [23]
Material und Methoden
Als Positivkontrolle für zu erwartetende DGE, wurde eine Bestrahlungsstudie am peripheren Vollblut 10 gesunder Donoren (4 männlich, 6 weiblich, 24–40 Jahre alt) durchgeführt. Es wurden 4,9 ml Vollblut in EDTA-Röhrchen (Sarstedt AG & Co. KG, Nümbrecht, Deutschland) abgenommen und ex vivo bei 37°C mit 0 und 4 Gy (Dosisleistung 1 Gy/min) bestrahlt. [23]
Für die Chemotherapiestudie wurde peripheres Vollblut von 10 Patientinnen (Alter: 39–71 Jahre) mit invasivem Brustkrebs direkt in PAXgene Blood RNA Röhrchen (BD Diagnostics, PreAnalytiX GmbH, Hombrechtikon, Schweiz) vor und 4 Tage nach der Verabreichung von CTX (Cyclophosphamid 600 mg/m² Körperoberfläche, Epirubicin 90 g/m² Körperoberfläche) im Rahmen der Phase IIa MyeloConcept-Studie (NCT02692742) gesammelt. Die MyeloConcept-Studie wurde von der Ethikkommission der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Deutschland, genehmigt (Studienprotokoll Nr. CT-MT001–2-2015–1). Der Blutbildverlauf der Chemotherapie-Patientinnen zeigte insgesamt eine geringere Panzytopenie als bei 4 Gy ganzkörperbestrahlten Strahlenunfallopfern nach den METREPOL-Kriterien (MEdical TREatment ProtocOLs) [10]. [23]
Die RNA-Isolation, Quantität- und Qualitätskontrolle, qRT-PCR und statistische Auswertung erfolgten wie im generellen Material- und Methodenteil beschrieben.
Ergebnisse
Zusammenfassend konnte für alle Gene nach CTX eine Genexpressionsänderung in gleicher Richtung wie nach Bestrahlung gefunden werden (Abbildung 3). Allerdings waren die DGE nach CTX deutlich niedriger als nach Bestrahlung. Für WNT3 und POU2F1 konnten erwartete DGE nur für 60 % der Patientinnen gemessen werden. Diese Ergebnisse korrelieren gut mit Lymphozytenanzahlen nach CTX, die relativ nach Bestrahlung deutlich weniger abfielen und sich 4 Tage nach CTX nur geringfügig von Normalwerten unterschieden. Die strahleninduzierten DGE der 4 Gene stammen zum überwiegenden Teil aus Lymphozyten. Insofern sind die gemessenen DGE zu erwarten gewesen und dieser Aspekt stellt eine Limitierung des aktuellen CTX-Modells dar, bei dem Blutproben am Tag 4 und nicht im Nadir der Lymphozytenanzahlen (ca. 10 Tage nach CTX) zur Verfügung standen [23].
Abb. 3: Die strahleninduzierte DGE von FDXR (A), DDB2 (B), POU2AF1 (C) und WNT3 (D) ist für männliche und weibliche Gruppen sowie für beide Geschlechter zusammen nach der Bestrahlung und nach der Chemotherapie (nur für Frauen) im Vergleich zu unbestrahlten Proben dargestellt. P-Werte < 0,05–0,01, < 0,01–0,001 und < 0,0001 sind mit einem, zwei und drei Sternchen (exponiert vs. nicht exponiert) oder Raute (weibliche Bestrahlung vs. weibliche Chemotherapie) gekennzeichnet. [23]
Diskussion
In R/N Großschadensereignissen ist die Früh- und Hochdurchsatzdiagnostik von Strahlenunfallopfern von großer Bedeutung, insbesondere im Hinblick auf die aktuellen politischen Ereignisse [7][21][25]. Der bisher etablierte und eher am Laboralltag orientierte Arbeitsablauf dieser neuartigen Labormethode zur Prädiktion des ASK-Schweregrades wies wehrmedizinisch relevante, teilweise kritische Fähigkeitslücken zur praktischen klinischen Anwendung auf, die mit den vorgestellten Forschungsarbeiten geschlossen werden konnten.
Tatsächlich können im klinischen Alltag verwendete EDTA-Blutröhrchen unter bestimmten Bedingungen erfolgreich an Stelle der sehr teuren und im Klinik-Alltag unüblichen PAXgen-Röhrchen verwendet werden. Allerdings gibt es verschiedene Aspekte zu beachten:
- Ein Probenversand von bestrahltem EDTA-Vollblut bei –20 °C beeinflusst wesentlich die Genexpressionsanalyse der Gensignatur, die für ASK-Prädiktion verwendet wird, und kann zu falschen Ergebnissen und konsekutiv zu falschen Therapieentscheidungen führen.
- Eine Aufbewahrung der bestrahlten EDTA-Vollblutproben von bis zu 4 h bei Raumtemperatur auf der Krankenstation sowie ein bis zu 24 h andauernder Transport zum weiterverarbeitenden Speziallabor bei 4° C bzw. bei Raumtemperatur führt zu vergleichbaren Ergebnissen.
Im Weiteren erfolgte eine Diagnoseverbesserung der quantitativen Echtzeit-Polymerase-Kettenreaktion bei der die Gene der Gensignatur (FDXR, DDB2, WNT3, POU2AF1) genauer charakterisiert wurden. Hierfür wurden die Gene auf Exonebene untersucht, um diejenige Exonregion der Gene zu identifizieren, die basierend auf verschiedenen praktischen Kriterien besonders für die Prädiktion des ASK Schweregrades geeignet sind [24]. Abschließend wurde die Gensignatur erfolgreich an einer Patientenkohorte validiert. Dabei wurde zusätzlich eine neue strahlenäquivalente Validierungskohorte aufgetan, mit der vielleicht auch in Zukunft Forschung auf dem Gebiet der Radiobiologie durchgeführt werden kann [23].
Limitationen
Limitierend bei den dargestellten Forschungsarbeiten ist durchweg der reduzierte Stichprobenumfang. Er reicht jedoch zur Hypothesengenerierung, die in weiteren Arbeiten vor allem in vivo an einer größeren Kohorte bestätigt werden können. Für die Probenabnahme und den Transport von bestrahltem Blut sind PAXgene-Röhrchen den EDTA-Vollblut-Proben überlegen. In PAXgene-Röhrchen wird die intrazelluläre RNA stabilisiert und Genexpressionsveränderung zum Zeitpunkt der Blutabnahme fixiert. Jedoch sind PAXgene Röhrchen zum einen kostenintensiv (10 €/Röhrchen vs. 0,2 €/Röhrchen (EDTA Monovette)) und zum anderen nicht flächendeckend in den Kliniken vorhanden. Entsprechend ist die Verwendung von EDTA-Vollblut-Monovetten für das vorgestellte Forschungsprojekt nicht nur sinnvoll, sondern schließt damit eine kritische Fähigkeitslücke für die flächendeckende Probenakquisition in den Kliniken bei einem R/N-Großschadensereignis.
Das in Kapitel 2 untersuchte diagnostische Zeitfenster von 48 h nach Strahlenexposition war aus methodischen Gründen geboten; denn eine in vitro Untersuchung mit peripheren Blutzellen über einen darüberhinausgehenden Zeitraum ist technisch nicht möglich. In vorangehenden Untersuchungen war bereits nach 12 h ein zunehmendes Sterben von peripheren Lymphozyten erkennbar [16]. Um die Lebensdauer von in vitro kultivierten Blutzellen für dieses Projekt innerhalb 48 h konstant zu halten, wurden die Lymphozyten vor der Kultivierung isoliert und damit die Kulturbedingungen verbessert [24]. In vivo besteht diese Problematik nicht.
Die Verwendung von Chemotherapiepatienten zur Validierung strahlungsinduzierter Genexpressionsveränderungen ist ein Novum. Untersuchungen an einer großen Kohorte bestrahlter Patienten und die Verfügbarkeit entsprechender Materialien ist eine Rarität. Entsprechend ist die Verwendung geeigneter „Surrogat-Kohorten“ notwendig, um eine in vivo Validierung zu ermöglichen. Die Anwendung von Chemotherapie bei Patienten ist häufiger und Probenmaterial zu akquirieren entsprechend einfacher als bei ganzköperbestrahlten Patienten [12]. Zusätzlich überschneiden sich die Wirkmechanismen von Chemotherapeutika und ionisierender Strahlung mit daraus resultierenden ähnlichen Blutbildverläufen nach der Behandlung und gleichgerichteten (hoch- und herunterregulierten) Genexpressionsänderungen [15][17].
Konsekutiv sind die von uns untersuchten 4 Gene nicht spezifisch für die Strahlenexposition und damit limitiert, was den Einsatz der Biodosimetrie anbelangt. Sie prädiktieren jedoch den Schweregrad der ASK. Dies ist aus klinischer Sicht angezeigt und deshalb von hohem diagnostischem Wert, um dem behandelnden Arzt Hinweise über das weitere Medizinmanagement des Patienten zu geben.
Fazit und Schlussbemerkung
Die hier vorgestellten jahrelangen experimentellen Forschungsarbeiten mit dem Ziel der erfolgreichen klinischen Anwendung der Genexpressions-basierten Früh- und Hochdurchsatz-Diagnostik im Falle eines R/N Großschadensereignisses, sind ein Beispiel für die Arbeiten am Institut für Radiobiologie der Bundeswehr.
Kernaussagen
- Eine bis zu 24 stündige Lagerung von EDTA-Vollblutproben bei Raumtemperatur oder 4°C beeinflusst nicht das Laborergebnis zur Diagnostik der ASK.
- EDTA-Vollblutproben, die bei -20°C gelagert wurden, können nicht zur Diagnostik der ASK verwendet werden.
- Bestimme Assays von FDXR, DDB2, WNT3 und POU2AF1 eignen sich besonders für die Diagnostik der ASK.
- Strahlenäquivalente Patientenkohorten eignen sich gut zur Validierung von strahleninduzierten Genexpressionsveränderungen in vivo.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Schüle S: Genexpressions-basierte Diagnostik der akuten Strahlenkrankheit: Von der Grundlagenforschung zur klinischen Anwendung. WMM 2023; 67(1-2): 35-42.
DOI: https://doi.org/opus4-62
Verfasserin
Oberstabsarzt Dr. Simone Schüle
Institut für Radiobiologie der Bundeswehr
Neuherbergstraße 11, 80937 München
E-Mail: simoneschuele@bundeswehr.org
Die Arbeit belegte beim Wettbewerb um den Paul-Schürmann-Preis 2022 der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie. V. den (geteilten) 2. Platz.
Manuscript data
Citation
Schüle S: [Gene Expression-Based Diagnostics of Acute Radiation Sickness: From Basic Research to Clinical Application]. WMM 2023; 67(1-2): 35-42.
DOI: https://doi.org/opus4-62
Author
Major (MC) Dr. Simone Schüle
Bundeswehr Institute for Radiobiology
Neuherbergstraße 11, D- 0937 München
E-Mail: simoneschuele@bundeswehr.org
The paper was awarded the (shared) second prize in the Paul-Schuerman-Competition 2022 of the German Society for Military Medicine and Pharmacy.