Laparostoma 2023 – Evidenzbasierter
Versorgungsalgorithmus schwerster abdomineller Pathologien
Laparostomy 2023 – Evidence-based Treatment Algorithm of Most Severe Abdominal Pathologies
Arnulf G. Willmsa, Sebastian Schaafb, Christoph Güsgenb, Robert Schwabb
a Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie
b Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie
Zusammenfassung
Die offene Abdominalbehandlung (Laparostoma) ist eine elementare Therapiestrategie in der Behandlung schwerster abdomineller Pathologien und der Damage-Control-Surgery. Somit kommt der standardisierten Technik auch große militärchirurgische Bedeutung zu. Da die Anlage eines Laparostomas jedoch mit potenziell schwerwiegenden Komplikationen assoziiert sein kann, deren Vermeidung unmittelbar nach dem initialen Ziel des Überlebens des Patienten im Zentrum des Handelns stehen sollte, ist ein evidenzbasiertes Vorgehen essenziell.
Es werden hier ein standardisierter und kontinuierlich weiterentwickelter Versorgungsalgorithmus (Koblenzer Algorithmus 3.0) und die diesem zugrundeliegende wissenschaftliche Datenlage vorgestellt.
Schlüsselwörter: Offene Abdominalbehandlung, Laparostoma, Narbenhernie, enteroatmosphärische Fistel, prophylaktisches Netz
Summary
Open abdomen therapy, commonly known as laparostomy, is a crucial surgical approach for managing severe intraabdominal pathologies and is serving as a damage control surgery tool. Thus, this standardized technique is of great importance for military surgeons. However, laparostomy can be associated with potentially serious complications that can prove detrimental to the patient’s well-being. Therefore, the primary objective of this therapy is not only to ensure patient survival but also to prevent complications. To achieve this goal, an evidence-based treatment algorithm is mandatory.
We present the Koblenz algorithm 3.0, which is an efficacious algorithm backed by reliable literature.
Key words: open abdomen therapy; laparostomy; incisional hernia; enteroatmospheric fistula; prophylactic mesh
Problem und Hintergrund
Die offene Abdominalbehandlung (Laparostoma) ist ein selten indiziertes Verfahren, das jedoch mittlerweile einen festen Stellenwert bei der Behandlung schwerstkranker viszeralchirurgischer Patienten hat [1][16]. Die Hauptindikationen umfassen die sekundäre Peritonitis, das abdominelle Kompartmentsyndrom und das schwerste abdominelle Trauma [35]. Im Rahmen der Traumaversorgung ist die offene Abdominalbehandlung auch ein Element der Damage-Control-Surgery und so ein essenzieller Bestandteil einsatz-/militärchirurgischen Managements [17][33].
Neben den Vorteilen des Verfahrens, wie z. B. Druckentlastung des Abdomens mit Verbesserung der Perfusion im Splanchnicus-Gebiet, Erleichterung der Beatmung und leichterer Zugänglichkeit für Revisionen und Lavagen, birgt das Verfahren auch einige mögliche Risiken [1][8][25][26][29].
So stellt es eine gewisse Herausforderung dar, das Abdomen nach pathophysiologischer Restitution und dem Ende der offenen Abdominalbehandlung wieder anatomisch und spannungsfrei zu verschließen [16]. Auch gilt es, schwerwiegende Komplikationen wie die Entwicklung enteroatmosphärischer Fisteln oder gigantischer ventraler Hernien zu vermeiden, da diese mit einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität einhergehen, den stationären Aufenthalt verlängern und weitere operative Eingriffe erfordern [2][16][35].
Trotz der weitgehenden Akzeptanz und Anwendung der offenen Abdominalbehandlung fehlt es überwiegend an einer rechtfertigenden Datengrundlage, um evidenzbasierte Empfehlungen zur Versorgung geben zu können [16]. So zeigen auch die Daten aus dem EHS Open Abdomen Registry („Laparostomaregister“), dass nur wenige Zentren standardisierte Versorgungsalgorithmen oder Protokolle etabliert haben, wann eine offene Abdominalbehandlung initiiert wird, wie sie ausgeführt wird und wann sie wieder beendet werden kann [32].
Ein grundsätzliches Problem besteht neben den selbst in großen Zentren geringen Fallzahlen der offenen Abdominalbehandlung in der ausgeprägten Heterogenität sowohl der Patientenkollektive als auch der Versorgungsstrategien. Die überwiegende Mehrzahl der publizierten Kohortenstudien ist somit nur schwer vergleichbar und die Ergebnisse sind nur mit Vorsicht zu interpretieren. Hinzu kommt, dass sich die Durchführung multizentrischer, prospektiv-randomisierter Studien im Notfallsetting per se schwierig darstellt. Ein Weg, dieses Dilemma aufzulösen und ausreichende Fallzahlen zu generieren, sind schlussendlich nur Registerdatenbanken. Im Folgenden stellen wir eines der beiden weltweit größten Open-Abdomen-Register näher vor.
Das Register: EHS Open Abdomen Registry
Aufgrund der relativen Seltenheit des Verfahrens ist eine multizentrische Datenerfassung alternativlos, um das Vorgehen weiter zu optimieren und sein Risikopotential zu senken. Daher hat die Arbeitsgruppe um Robert Schwab und Arnulf Willms in Zusammenarbeit mit der EHS (European Hernia Society) und der CAMIN (Arbeitsgemeinschaft für Militär- und Notfallchirurgie) der DGAV (Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie) eine Registerdatenbank zur offenen Abdominalbehandlung unter der Schirmherrschaft der European Hernia Society (EHS) auf den Weg gebracht [32].
Zielsetzungen
Das Register verfolgt hierbei verschiedene miteinander verknüpfte Zielsetzungen. Kernziel ist es, Evidenz auf der Basis einer prospektiven multizentrischen, standardisierten und multinationalen Datenbasis zu generieren. Dies dient als Grundlage für prospektive und retrospektive Studien, der Verfahrensoptimierung und schließlich der Senkung der Morbidität und Mortalität sowie der Effizienzsteigerung des Verfahrens der offenen Abdominalbehandlung.
Die wesentlichen mit der Therapie verknüpften Faktoren können so im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit dem Ergebnis untersucht werden. Chirurgisch beeinflussbare Faktoren können so verbessert und der Erfolg der Optimierung reevaluiert werden. Wegen der schwachen Datenbasis zur offenen Abdominalbehandlung, der Vielzahl an gegenwärtigen Versorgungsstrategien und schwer vergleichbaren Patientenkollektiven gibt es aktuell wenig einheitliche Standards und Empfehlungen, die eine evidenzbasierte Handreichung für die Praxis bilden. Damit bietet das Register einen wesentlichen Bestandteil zur Lösung dieser Problematik.
Entwicklung
Vom 1. Mai 2015 bis zum 31. Dezember 2020 fand man das Register unter dem Dach des EuraHS Registers (Hernienregister der EHS) als „Open Abdomen Route“. In diesen Jahren wurden 913 Fälle aus 29 Kliniken aus acht europäischen Ländern eingegeben [35]. Das Register lebt förmlich den europäischen Gedanken und bildet so einen der größten Datensätze weltweit zur offenen Abdominalbehandlung. Aus diesen Datensätzen sind bislang mehrere Publikationen erwachsen. Im Jahr 2021 wurde dann für alle Register der EuraHS-Plattform der Umzug auf eine neue Domain unter Berücksichtigung der neuen europäischen Datenschutzgrundverordnung realisiert. In dem Zusammenhang wurden die Abfrageitems des Datensatzes grundsätzlich optimiert, aktualisiert und letztlich so vereinfacht, dass nun die Eingabe eines Patienten in circa 15 min erfolgen kann.
Das neue Register findet sich unter www.ehs-openabdomen.com (Abbildung 1). Nach einer kurzen Registrierung und Vergabe eines Passwortes kann die Eingabe des ersten Falls erfolgen. Im Register werden die Fälle pseudonymisiert erfasst und jeder Fall erhält zu Beginn einen vierstelligen Buchstabencode, den nur die eingebende Klinik dem Patienten zuordnen kann. Die Einwilligung zur Registerteilnahme wird von der eingebenden Klinik vom Patienten bzw. dessen legitimierten Vertreter eingeholt. Entsprechende Dokumente (Patienteninformation, Einwilligung und ein Tutorial zur Registerhandhabung) werden auf der Webseite bereitgestellt.
Abb. 1: Das EHS Open Abdomen Registry kann über die abgebildete URL erreicht werden (Eigene Abbildung).
Datenbankkategorien
Das Register gliedert sich in die folgenden neun Datenkategorien:
1. Informationen zum Krankenhaus,
2. Patienteninformationen,
3. Nebenerkrankungen,
4. Risikofaktoren,
5. Grunderkrankung,
6. Behandlung des offenen Abdomens,
7. Verschluss des Abdomens,
8. Entlassung,
9. Follow-up nach drei Monaten, einem Jahr und nach zwei Jahren.
Insbesondere die Erfassung des individuellen operativen Verfahrens war bislang detailreich und vielschichtig. Im Rahmen des Registerupdates 2021 wurde dies deutlich benutzerfreundlicher gestaltet und die Eingabe wird durch drei Kernfragen strukturiert:
1. Welches Material hat Darmkontakt?
2. Was machen Sie mit der Faszie?
3. Wird Sog verwendet?
Auswertemöglichkeiten
Neben der kontinuierlichen Pflege und Weiterentwicklung des Registers sollen wissenschaftliche Datenauswertungen dazu beitragen, die unbeantworteten Fragen im Management des offenen Abdomens zu beleuchten. Besonderes Merkmal des Registers ist die Möglichkeit, eigene Auswertungen auf Grundlage der eigenen eingegebenen Daten durchzuführen: „Ihre Daten bleiben Ihre Daten“.
Darüberhinaus können aber auch durch Anfrage bei den Registerkoordinatoren (Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Willms, Oberstarzt Prof. Dr. Schwab, Oberfeldarzt Dr. Schaaf) Auswertungen auf Grundlage der gesamten Registerdaten initiiert werden. Zudem besteht die Möglichkeit der aktiven Mitarbeit bei laufenden und geplanten Auswertungen und somit die Option auf Co-Autorenschaft. Um den Beitrag aller Registerteilnehmenden zu würdigen, ist es beabsichtigt, zukünftig einen Vertreter bzw. eine Vertreterin jeder teilnehmenden Klinik als sog. Contributor in den zukünftigen Publikationen aufzuführen.
Laufende Auswertungsgegenstände sind u. a.:
- Offene Abdominalbehandlung beim Trauma,
- Offene Abdominalbehandlung der Älteren sowie
- Identifikation von Einflussfaktoren auf die Mortalität.
Das Register eignet sich jedoch auch als Plattform und Datengrundlage für neue prospektive Registerstudien zur Evaluierung neuer Behandlungsstrategien (z. B. vertikale Faszientraktion und prophylaktische Netzimplantation zur Narbenhernienprophylaxe).
Ergebnisse
Applikation einer Viszeralschutzfolie zur Prävention enteroatmosphärischer Fisteln
Eine schwerwiegende Komplikation der offenen Abdominalbehandlung ist die Entwicklung einer enteroatmosphärischen Fistel. Da diese mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität assoziiert und die Versorgung nach wie vor schwierig ist, sollte deren Entwicklung unter allen Umständen vermieden werden [2]. Diesem Umstand wird auch dadurch Rechnung getragen, dass die Klassifikation des offenen Abdomens nach Björck [4] eine vorliegende Fistel als schwierigstes Stadium aufführt (Tabelle 1).
Tab. 1: Klassifikation des intraoperativen Situs bei offener Abdominalbehandlung nach Björck et al. [4]
Die Schwierigkeit im Management der enteroatmosphärischen Fisteln liegt unter anderem darin, dass nur etwa 20–60 % mittels konservativer Maßnahmen adäquat versorgt werden können [5][27][28]. Die negativen Effekte für die Rekonvaleszenz sind erheblich, und häufig besteht ein funktionelles Kurzdarmsyndrom in Abhängigkeit der Lokalisation und Fördermenge des Darmsekrets [14][22].
Verschiedene Risikofaktoren der Fistelentstehung sind beschrieben worden. Patienten-assoziierte Aspekte wie eine Darmischämie oder eine maligne Grunderkrankung, jedoch auch operative Faktoren wie eine ausgedehnte Darmresektion, der nicht erreichte Faszienverschluss oder aber schlicht die (zu) lange offene Abdominalbehandlung [9][10][13][19][29]. Die Rolle der intraabdominellen Vakuumtherapie wurde diesbezüglich zwar kontrovers diskutiert [12][19][21], neuere Daten weisen jedoch zweifelsohne nach, dass die Anwendung im Rahmen einer zeitgemäßen Technik (bspw. VAWCM, s.u.) jedoch als sicher gilt [1][16].
Entscheidend scheint neben einer die Serosa unter allen Umständen schonenden Operationsweise im Rahmen der Revisionen und abdominellen Verbandwechsel die Applikation einer inerten Viszeralschutzfolie zu sein [15][25][30]. Um diesen Effekt zu überprüfen, wurde eine bizentrische, propensity-score-gematchte Fall-Kontroll-Studie vom BwZKrhs Koblenz und dem Universitätsklinikum Bonn durchgeführt. In einem Kollektiv von Laparostomapatienten infolge einer sekundären Peritonitis zeigte sich eine relative Risiko-Reduktion der enteroatmosphärischen Fistelrate von 89 % bei Verwendung einer Viszeralschutzfolie (2,9 % vs. 26,5 %, p = .00; OR: 0.08; CI: 0.01–0.71, p = .02) [34].
Die Daten des EHS-Registers zeichnen ein ähnliches Bild. So konnte der Effekt in der aktuellen Registeranalyse von 1009 Laparostoma-Fällen über alle Indikationen bestätigt werden (OR: 0.34; CI: 0.21–0.60; p = .00). Das Manuskript befindet sich derzeit im Review-Prozess.
Faszientraktion und -verschluss
Die Dauer der offenen Abdominalbehandlung richtet sich natürlich nach dem Zustand des Patienten und der Restitution der zugrundeliegenden Indikation. Es gilt das Prinzip „so lange wie nötig, so kurz wie möglich“, da die Komplikationswahrscheinlichkeit mit zunehmender Dauer der offenen Abdominalbehandlung und der Anzahl der Wechsel zunimmt.
Bereits frühzeitig sollte in der offenen Abdominalbehandlung der Fokus auf das Therapieende gelegt werden und somit die Retraktion der Faszienränder vermieden werden. Auch hier spielt die Applikation einer Viszeralschutzfolie als Trennschicht zwischen Intestinum und lateraler Bauchwand eine wichtige Rolle, um Adhäsionen zu vermeiden, die einen medianen Faszienverschluss erschweren oder gar unmöglich machen können. Es ist daher wichtig, dass die Folie bei jedem Wechsel beidseits bis ganz nach dorsal in die parakolischen Rinnen platziert wird. Die Notwendigkeit, die Folien zuzuschneiden, sollte kritisch hinterfragt werden, da dies häufig nur bei bestehenden Hindernissen (bspw. Stomata) erforderlich ist.
Zur Faszientraktion sind viele verschiedene Techniken beschrieben (z. B. netz-basierte Faszientraktion, vertikale Faszientraktionsdevices, ABRA, dynamic retention sutures). Auf Grundlage valider Daten kann zwar keine definitive Empfehlung zur Anwendung einer einzelnen Technik gegeben werden, aus Sicht der Autoren ist aber die Nutzung der netz-basierten Faszientraktion am praktikabelsten und effektiv [30]. Die vertikale Faszientraktion bietet möglicherweise darüber hinaus, insbesondere in speziellen Situationen (bspw. ausgeprägtes abdominelles Kompartmentsyndrom mit massiver intestinaler Schwellung) Vorteile, die jedoch erst noch wissenschaftlich evaluiert werden müssen.
Welche Faktoren den Faszienverschluss bedingen, wurde auf Grundlage des EHS Open Abdomen Registry untersucht [35]. Insgesamt konnten dazu 510 Fälle aus dem Register eingeschlossen werden. Dabei zeigte sich die erhebliche Diversität der operativen Versorgung, da insgesamt 13 verschiedene operative Techniken registriert waren. Zusammengefasst zeigte sich aber für die Kernelemente der Therapie
- Viszeralschutz,
- Vakuum und
- Faszientraktion
die höchste Rate des erreichten Faszienverschlusses von 85,8 % (p = .00), wenn alle drei kombinierte Anwendung fanden, was sich auch in der Regressionsanalyse belegen ließ.
Vakuumtherapie und Sekretdrainage
Insbesondere in der septischen Situation ist die effektive Sekretdrainage ein Kernziel der Behandlung. Die Vakuumtherapie bietet hierfür ausgezeichnete Optionen, da neben einer suffizienten Drainage und dem validen Mengenmonitoring auch häufige, ressourcenintensive und verletzungsträchtige Verbandwechsel entfallen. Die effektive Wirkung der Vakuumtherapie wird bei einer Intensität von 75–100 mmHg angenommen, kann aber in speziellen Situationen (diffuse Blutungsneigung, DIC, Antikoagulation etc.) auf 50 oder 25 mmHg reduziert werden.
Exemplarisch für den Mangel an methodisch hochwertigen Studien kann das Ergebnis einer kürzlich erschienenen Cochrane-Analyse gelten. Dabei wurde der Effekt der Vakuumtherapie im Rahmen der offenen Abdominalbehandlung mit dem sog. Bogota-Bag (steriles Abdecken des offenen Abdomens durch Einnaht eines sterilen Infusionsbeutels) verglichen. Im Ergebnis konnte kein Benefit der Vakuumtherapie im Hinblick auf Faszienverschlussrate, Fistelentwicklung, Mortalität oder Krankenhausverweildauer gezeigt werden [8]. Zur Interpretation muss jedoch beachtet werden, dass die Cochrane-Prinzipien nur randomisiert-kontrollierte Studien zur Analyse zulassen. Integriert in einen etablierten Versorgungsalgorithmus ist die Anwendung auf der Grundlage aller verfügbaren Literatur jedoch erwiesenermaßen sicher und vorteilhaft [1][16][35].
Welche Probleme bleiben?
Trotz der kontinuierlichen Verbesserung der operativ-technischen Aspekte der offenen Abdominalbehandlung bleibt der Faszienverschluss in manchen Fällen eine Herausforderung. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse und der niedrigen Komplikationsraten der Botulinumtoxinanwendung in der Präkonditionierung der lateralen Bauchwand vor Rekonstruktion großer Bauchwandhernien (W3 nach EHS-Klassifikation, über 10 cm horizontale Fasziendehiszenz) [18][24] liegt eine Anwendung auch im Rahmen der offenen Abdominalbehandlung nahe [20].
Auch nach erfolgtem Faszienverschluss zeigen sich hohe Narbenhernienraten nach offener Abdominalbehandlung von 35–66 % [3][6][16][31]. Diese Rate ist deutlich höher als jene nach elektiven Laparotomien von ca. 3–20 % [7]. Nicht nur die komplexe sekundäre Narbenhernienrekonstruktion ist ein Problem, sondern auch die Beschwerden, die Arbeits-/Dienstunfähigkeit und die nachweislich reduzierte Lebensqualität [31]. Der Prävention der Narbenhernien kommt also insbesondere nach offener Abdominalbehandlung große Bedeutung zu. Für elektive Laparotomien liegen mittlerweile recht gute Daten vor, sodass die prophylaktische Netzimplantation bei Hochrisikopatienten zumindest zu einer „Kann“-Empfehlung in den Leitlinien geführt hat [11]. Risikofaktoren werden u. a. für Nebenerkrankungen wie Aortenaneurysma, COPD und Kortikoidbehandlung, Diabetes mellitus und Adipositas angenommen. Die individuelle genetische Disposition eines Hernienleidens, z. B. im Sinne einer Kollagenstoffwechselstörung, kommt hinzu.
Die pathophysiologischen Rahmenbedingungen der offenen Abdominalbehandlung und die repetitive mechanische Belastung der Faszie bewirken per se eine schwere Beeinträchtigung der Faszienheilungspotenz. Die o.g. unabhängigen Risikofaktoren kommen ggf. hinzu, sodass der Faszienverschluss nach offener Abdominalbehandlung nach Auffassung der Autoren eine besondere Risikosituation darstellt und eine prophylaktische Netzimplantation zur Narbenhernienprophylaxe gerechtfertigt erscheint (Abbildung 2). In einer eigenen kleinen Pilotstudie wurde das Verfahren evaluiert und es zeigten sich keine interventionspflichtigen netz-assoziierten Komplikationen und keine Narbenhernien im Follow-Up-Intervall [23]. Als Implantationsebene ist die Onlay-Position empfehlenswert, da die Netzlagerpräparation einfach und wenig traumatisch ist. Der prinzipiell erhöhten Seromrate sollte nach Auffassung der Autoren durch eine epifasziale Vakuumtherapie bis zur vollständigen Granulation des Netzes (i.d. R. zwei Zyklen à 3–4 Tage bis zum Sekundärverschluss) begegnet werden [23].
Abb. 2: Der Abschluss der offenen Abdominalbehandlung (oben links) ist ein elementarer Therapieschritt. Nach Faszienverschluss (oben rechts) sollte nach Ansicht der Autoren eine prophylaktische Netzimplantation in Onlay-Position erwogen werden (unten links). Zur Verhinderung von Seromen, die häufig bei Netzimplantation in Onlay-Position auftreten können, empfiehlt sich die anschließende epifasziale Vakuumtherapie (unten rechts) bis zur vollständigen Netzgranulation und dann ein sekundärer Wundverschluss. (Quelle; Willms)
Zur weiterführenden Evaluation ist eine randomisiert-kontrollierte Fall-Kontrollstudie im Systemverbund der BwKrhs in Vorbereitung und die Implantation eines prophylaktischen Netzes wird im EHS Open Abdomen Registry erfasst.
Der Algorithmus
Der „Koblenzer Algorithmus“ wurde 2015 evaluiert und publiziert. Die drei Therapiemodalitäten des VAWCM-Konzeptes (vacuum-assisted wound closure and mesh-mediated fascial traction) beinhalten die Verwendung einer Viszeralschutzfolie, die Applikation einer Faszientraktion ab dem ersten Verbandwechsel, sofern kein Faszienverschluss erfolgen kann, und der Verwendung der Vakuumtherapie (Abbildung 3) [30].
Abb. 3: Die drei evidenzbasierten Therapiesäulen der offenen Abdominalbehandlung (Quelle: Willms)
In den folgenden Jahren wurde der Algorithmus um die prophylaktische Onlay-Netzimplantation erweitert (Koblenzer Algorithmus 2.0) [34].
Aufgrund der guten Ergebnisse der Botulinumtoxinanwendung vor Rekonstruktion großer Narbenhernien (W3 n. EHS), wurde dies auf die Situation des schwierigen Faszienverschlusses bei offener Abdominalbehandlung übertragen (Koblenzer Algorithmus 3.0, siehe Abbildung 4).
Abb. 4: Die Versorgung gliedert sich in eine akute Phase (rot), eine postakute Phase (gelb) und die Endphase der offenen Abdominalbehandlung (grün). Wenn die Indikation zur offenen Abdominalbehandlung gestellt wird, wird ein kommerzielles Abdominal-Vakuum-Verbandsystem appliziert und ein second look nach i.d. R. 48–72 h durchgeführt. Kann die offene Abdominalbehandlung beendet werden, erfolgt der leitliniengerechte Faszienverschluss. Wenn die offene Abdominalbehandlung jedoch fortgeführt werden muss, wird eine netz-basierte Faszientraktion durch Einnähen eines nicht resorbierbaren Netzes als Inlay initiiert und die weiteren Wechsel erfolgen in Abhängigkeit des Befundes. Bei jedem Wechsel wird eine Einengung des Netzes durch mediane Raffnaht angestrebt, um so schnell wie möglich die Situation adaptionsfähiger Faszienränder herbeizuführen. Sofern nach 2 Wechseln kein Faszienverschluss aufgrund der Dehiszenz möglich oder unmittelbar absehbar ist oder aber die Dehiszenz nun >10 cm beträgt, erfolgt die Injektion von Botulinumtoxin A sonografisch gesteuert in die laterale Bauchwand. Sobald der Faszienverschluss möglich ist, erfolgt dieser in o.g. Weise mit zusätzlicher Augmentation durch Implantation eines Onlay-Netzes (befundabhängig als langzeitresorbierbares oder nicht resorbierbares Produkt). Sofern ein Faszienverschluss dennoch unmöglich ist, wird eine planned ventral hernia etabliert und eine möglichst schnelle Deckung des Intestinums durch Spalthaut- oder Lappenplastik angestrebt. Die sekundäre Bauchwandrekonstruktion erfolgt frühestens nach 12 Monaten und ggf. unter erneuter Botulinumtoxin-Präkonditionierung.
Abkürzungen
NPWT – Vakuumtherapie, VPL – Viszeralschutzfolie, DCT – dynamic closure technique/Faszientraktion. (Quelle: Willms)
Kernaussagen
- Trotz aller Verbesserungen und der technischen Evolution bleibt die offene Abdominalbehandlung eine maximal invasive Therapieform und die Indikation muss streng gestellt werden. Es gilt prinzipiell: Das geschlossene Abdomen ist das beste Abdomen!
- Wenn die offene Abdominalbehandlung initiiert wurde, ist neben der Fokussanierung der rasche Verschluss der Abdominalfaszie essenzielles Therapieziel zur Vermeidung potenziell schwerwiegender Komplikationen.
- Um dies zu erreichen, ist ein standardisiertes Vorgehen unter Nutzung der Therapiemodalitäten Faszientraktion, Viszeralschutzfolie und Vakuumtherapie zu wählen.
- Zur Vermeidung hoher Narbenhernienraten sollte die Implantation eines prophylaktischen Onlay-Netzes erwogen werden.
- In schwierigen Fällen können die frühzeitige Botulinumtoxininjektion in die laterale Bauchwand oder die Anwendung der vertikalen Faszientraktion erfolgreich sein.
- Zur Verbesserung der spärlichen Empfehlungslage zur offenen Abdominalbehandlung sollte die Datengrundlage durch Teilnahme am EHS Open Abdomen Registry verbessert werden.
Literatur
Manuskriptdaten
Zitierweise
Willms AG, Schaaf S, Güsgen C, Schwab R: Laparostoma 2023 – Evidenzbasierter Versorgungsalgorithmus schwerster abdomineller Pathologien. WMM 2023; 208-215.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-132
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Arnulf G. Willms
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie
Lesserstr. 180, 22049 Hamburg
E-Mail: arnulfwillms@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Willms AG, Schaaf S, Güsgen C, Schwab R: [Laparostomy 2023 - Evidence-based Treatment Algorithm of Most Severe Abdominal Pathologies]. WMM 2023; 67(5): 208-215.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-132
For the Authors
Lieutenant Colonel Associate Professor Arnulf G. Willms, MD
Bundeswehr Hospital Hamburg
Department II – of General, Visceral and Vascular Surgery
Lesserstr. 180, D-22049 Hamburg
E-Mail: arnulfwillms@bundeswehr.org
30 Jahre ARCHIS – Gemeinsam!
Bericht über die Jubiläumstagung vom 1. bis 3. März 2023 in Bad Nauheim
Respekt und Anerkennung. Das trifft es vermutlich am besten.
Vom 1. bis zum 3. März 2023 fand die 30. Tagung des Arbeitskreises Einsatzmedizin der chirurgisch tätigen Sanitätsoffiziere (ARCHIS) statt. 1993 gegründet, weist die ARCHIS nunmehr eine mehr als traditionsreiche 30-jährige Geschichte auf. Sie steht für Diskussion und Diskurs, Forschung und Fortschritt, Anspruch und Ansage, vor allem aber für die chirurgische Gemeinschaft im Sanitätsdienst der Bundeswehr.
Gemeinsam! So sollte die 30-jährige Jubiläumstagung ein Highlight im Kongresskalender der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. (DGWMP) und für die chirurgische „Community“ werden.
Wahl des Durchführungsortes
Traditionell findet die jährliche ARCHIS Tagung, die lediglich einmalig in Folge der Corona-Krise ausgesetzt werden musste, im unmittelbaren Umfeld des ausrichtenden Bundeswehrkrankenhauses (Bw(Z)Krhs) statt. Ein adäquater Veranstaltungsort war jedoch im noch durch die Pandemie gezeichneten lokalen Umfeld des ausrichtenden BwZKrhs Koblenz weder terminlich noch zu vernünftigen Bedingungen realisierbar. So fiel die Wahl in gemeinsamer Absprache auf das Tagungshotel Dolce in Bad Nauheim.
Der Tatsache geschuldet, dass der Tagungsort nicht in Nähe des Koblenzer Krankenhauses lag, wurde der sog. „DSC-Contest“, in dem sich chirurgische Teams der Krankenhäuser einer Übung ähnlich in einem Parcours fachlich, militärisch und sportlich miteinander messen, in diesem Jahr ausgesetzt. Am grundsätzlichen DCS-Wettstreit der Kliniken wird jedoch festgehalten, denn er soll dauerhaft als Highlight in den ARCHIS Auftakt integriert bleiben.
Schlussendlich konnten der Tagungsort, wie auch die dort von der DGWMP organisierten Rahmenbedingungen sehr überzeugen. Es wurde dabei mehr gehalten, als es zuvor versprochen war.
Workshops und mehr zum Auftakt
Die Tagung begann am Mittwoch, den 1. März 2023, mit den im Vorprogramm ausgeschriebenen aktiven Workshops. Insgesamt konnten drei interaktive Kurse stattfinden, die jeweils durch hohe Teilnehmerzahlen gewürdigt wurden.
Abb. 1: Ausbildung in der REBOA-Kathetertechnik
Wundbehandlung, Simulation und Ballon-Okklusion der Aorta
Ein interaktiver Workshop befasste sich mit der Wundbehandlung durch kaltes Plasma bzw. spezielle Wundauflagen. Hier wurden theoretische Inhalte und praktische Versorgungsprinzipien von chronischen Wunden ausführlich und anschaulich nahegebracht.
Im zweiten Workshop wurden die theoretischen Hintergründe des Lernens durch Simulation im Rahmen der Einweisung in einen der modernsten Simulatoren auf dem Gebiet der minimalinvasiven Chirurgie ermöglicht. Den Hauptanteil stellte dabei das eigene praktische Üben am Simulator durch Manöver zur Auge-Hand-Koordination bis hin zu komplexeren, minimal invasiven Operationsabläufen (laparoskopische Cholezystektomie).
Erfreulicherweise ließ sich zudem ein weiterer Kurs durchführen, in dem es um die Anwendung des aktuellsten Ballonkatheters für die Unterbrechung des intraabdominellen aortalen Blutflusses (REBOA-Verfahren, Resuscitative Endovascular Balloon Occlusion of the Aorta) bei unkontrollierbaren Blutungen ging. Die Kursteilnehmenden konnten am Modell die Ballonokklusion selbst durchführen. Die Einweisung in das Kathetersystem mit den theoretischen Hintergründen erfolgte durch erfahrene Tutoren aus den USA.
Die Gestaltung und Planung der Workshops ermöglichte es, dass die frühzeitig angereisten Teilnehmenden durch alle angebotenen Kurse rotieren konnten, was zu einem abwechslungsreichen, informativen und aktiven Nachmittag führte.
Industrieausstellung und Get-together
Am frühen Abend des ersten Tages wurde die begleitende Industrieausstellung der ARCHIS-Tagung mit dem Auftakt in das traditionelle „Get-together“ vom Bundesgeschäftsführer der DGWMP, Peter Katzmarek, eröffnet. Hier war bereits erkennbar, die „chirurgische Community“ ist im besten Sinn eine Besondere. Ausführliche Gespräche, Diskussionen und ein kollegiales und freundschaftliches Wiedersehen standen dabei unter sehr angenehmen Bedingungen im Vordergrund. In dieser Atmosphäre und mit hohem persönlichen Engagement der Teilnehmenden ging die ursprünglich bis 21.00 Uhr angesetzte Einführungsveranstaltung auch in diesem Jahr wieder über die geplante Zeit hinaus.
Abb. 2: Simulation im Bereich der Laparoskopischen Chirurgie mit modernster Technik
Wissenschaftliches Programm
Die Tagung selbst war mit vier übergeordneten Themenbereichen konzipiert worden. Zunächst standen authentische Berichte aus dem Krieg in der Ukraine im Focus. Vorgesehen waren Informationen zur aktuellen und allgemeinen Lage sowie zur Situation der sanitätsdienstlichen Versorgung der ukrainischen Verletzten. Die präklinische und innerklinische notärztliche bzw. chirurgische Versorgung sollten ebenso thematisiert werden, wie die Verteilung und Weiterversorgung der Verwundeten über die Grenzen der Ukraine hinaus nach Westeuropa.
Abb. 3: Nahezu volles Haus bei der Eröffnung der Tagung
Als relevantes Schwerpunktthema war ebenfalls die Vorstellung der Arbeitsgruppenergebnisse zur neuen chirurgischen Weiterbildungsordnung (WBO 2020), die in Kooperation mit dem Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (Kdo SanDstBw) und der Konsiliargruppe Chirurgie erarbeitet wurden, vorgesehen. Ein Muss bestand zudem aus der Vorstellung wissenschaftlicher Studien- und Forschungsergebnisse der chirurgischen Kliniken, speziell auch im traditionellen jungen Forum. Die wissenschaftlichen Sitzungen hatten die „Verletzung, Kontamination und Rekonstruktion von Kriegsverletzungen“ als übergeordnetes Thema.
Die aktuelle Situation und mögliche Verbesserungsoptionen des chirurgisch organisatorischen Arbeitsalltags bildeten einen vierten thematischen Schwerpunkt.
Das geplante Tagungsprogramm war damit sehr aktuell, informativ, wissenschaftlich hochkarätig und besonders im zeitlichen Ablauf sehr ambitioniert geplant.
Donnerstag, 2. März 2023
Die Tagung wurde pünktlich mit den Gruß- und Eröffnungsworten des Sprechers des Arbeitskreises ARCHIS, Oberstarzt Dr. Christoph Güsgen, auch im Namen seiner Stellvertreter Oberfeldarzt Dr. Thorsten Hauer und Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Christian Beltzer, begonnen. In Vertretung des Präsidenten der DGWMP, Generaloberstabsarzt Dr. Stefan Schoeps, fand Generalarzt a. D. Prof. Dr. Horst Peter Becker als Vizepräsident motivierende und äußerst anerkennende Worte für die chirurgische Community. Als Gründungsmitglied des Arbeitskreises ARCHIS zog er ein bewegendes Resümee über die vergangenen 30 Jahre und wies bereits die Richtung für die Weiterentwicklung des AK. Weitere Grußworte durch den stellvertretenden Kommandeur des BwZKrhs Koblenz, Oberstarzt Dr. Rainer Volb, welches sich für die inhaltliche und thematische Gestaltung der Tagung verantwortlich zeigte, folgten. Der Inspekteur des Sanitätsdienstes musste – trotz festem Willen zur Teilnahme – dem Berliner Termindruck nachgeben und wurde von Generalarzt Dr. Johannes Backus sowohl beim Grußwort als auch über die gesamte Tagung würdig vertreten.
Entwicklung in der Ukraine
Abb. 4: Posterpreissitzung mit Prof. Dr. Tim Pohlemann und GenArzt a. D. Prof Dr. Horst Peter Becker
Der erste Themenblock startete mit den aktuellen sanitätsdienstlichen Entwicklungen in der Ukraine. Die ursprüngliche Zusage der Inspekteurin des ukrainischen Sanitätsdienstes, Generalmajor Tetiana Ostashchenko, eine Darstellung der aktuellen Situation des Sanitätsdienstes in der Ukraine zu geben, ließ sich aufgrund ihrer aktuellen Aufgaben vor Ort auch nicht als Video-Zuschaltung realisieren. Ihr Vortrag wurde von Oberstarzt Dr. Dominique Mayer, Section Head Medical/IMS Medical Advisor (NATO), im Original übernommen und dankenswerterweise aufgrund eigener Kenntnis vorgetragen. Auch der Transport der Verwundeten sowie die Verlegung in westeuropäische Kliniken wurde von ihm in sehr anschaulicher Weise nachvollziehbar gemacht. Oberstarzt Dr. Mayer gebührt nicht nur für die Übernahme der Vorträge, sondern auch für die Gestaltung und Realisierung der Sitzung im Vorfeld ausdrücklicher Dank. In einer Live-Video Übertragung wurde die „Hospital Clinical Care of War Casualties in Ukraine“ durch den ukrainischen Militärchirurgen Oberst Prof. Dr. Y. Yarmoljuk auf eindrucksvolle und zugleich bedrückende Weise dargestellt. Die komplexen Verletzungsmuster moderner Kriege erreichen, wie erkennbar wurde, eine neue und traurige Dimension. Umso beeindruckender wurden die verschiedenen Therapiestrategien nahegebracht. Durch die Live-Übertragung aus dem Kiewer Hospital wurde zudem die anschließende Diskussion ermöglicht.
Die Gesellschaft realisierte auch die aktive Teilnahme von Dr. J. Quinn, einem in London lebenden Notfallmediziner, der über seine eindrucksvollen Erfahrungen in der präklinischen Versorgung von Kriegsverletzten und Verwundeten von 2014 bis heute berichtete.
Die Sitzung ließ bereits zum Beginn der Tagung deutlich über den Tellerrand hinausschauen.
Einsatzchirurgie
In der Thematik bleibend schloss sich die erste wissenschaftliche Sitzung mit dem Thema der Einsatzchirurgie an. Zu Beginn berichtete Oberarzt Prof. Dr. Uwe Max Mauer, Direktor der Klinik für Neurochirurgie am BwKrhs Ulm, über die Notwendigkeit und Projektierung einer Leitlinie zur Versorgung von Schädel-Hirn-Traumen (SHT) und Wirbelsäulenverletzungen. Oberfeldazt Priv.-Doz. Dr. Chris Schulz aus seiner Klinik ergänzte die Ausführungen durch Studienergebnisse zur Anlage einer Ventrikeldrainge beim schweren SHT. Ebenfalls aus dem Ulmer BwKrhs präsentierte Oberfeldart Priv.-Doz. Dr. Christian R. Beltzer die Evidenz zur Clamshell-Thorakotomie. Besonderes „Augenmerk“ wurde dann auf die Augenverletzungen in kriegerischen Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund der aktuellen Zahlen aus dem Ukraine-Krieg und den Herausforderungen von LV/BV-Szenarien von Oberstarzt Dr. Frank Weinand, dem klinischen Direktor der Augenklinik im BwZKrhs, vorgestellt. Die aktuellen Zahlen erreichen dort eine bisher nicht gekannte hohe Inzidenz. Die in der Bundeswehr standardisiert zur Einsatzausrüstung gehörende Schutzbrille drängt sich hier als unterstützende Schutzausstattung für die ukrainischen Streitkräfte auf. Die Thematik dieses „augenöffnenden“ Vortrags wurde diskutiert und zur Prüfung in die Entscheidungsebene durch den Vertreter des Inspekteurs des Sanitätsdienstes aufgegriffen1. Antworten von Flottenarzt Dr. Falk von Lübken auf die Frage zur „Evidenz der Damage Control Orthopedics“ schlossen die Sitzung ab.
Verletzung, Kontamination und chirurgische Rekonstruktion
Straff dem Zeitplan folgend folgte die wissenschaftliche Sitzung zur Thematik „Verletzung, Kontamination und chirurgische Rekonstruktion“. Im Rahmen eines Übersichtsvortrags berichtete Oberfeldarzt Dr. Frieder Fuchs als Mikrobiologe aus Koblenz – im „Kleinsten“ beginnend – zum Status quo der klinischen Mikrobiologie im Einsatz, in der Klinik und in der Lehre. Zur Versorgung von Verwundeten aus der Ukraine und dem Irak trug Oberstarzt Matthias Johann, Direktor der unfallchirurgischen Klinik am BwKrhs Hamburg, vor1. Dr. Vinzent Forstmeier berichtete im Anschluss aus Ulmer Erfahrungen über das mikrobiologische Keimspektrum der dort versorgten ukrainischen Patienten. Die klinische Direktorin der Klinik für Nuklearmedizin im BwZKrhs Koblenz, Oberfeldarzt Dr. Birte Diekmeyer, stellte den Umgang mit radioaktiv kontaminierten Wunden aus nuklarmedizinischer Sicht auf den Prüfstand und gab nützliche Hinweise zum persönlichen Schutz und optimierten Behandlungsverfahren.
Oberstarzt Prof. Dr. Christian Willy aus Berlin konnte einen beeindruckenden Einblick in seine jahrzehntelange Forschung zur vakuum-assistierten Wundbehandlung geben. Er ist federführend in der Leitlinienentwicklung zur Vakuumtherapie. In seinem zweigeteilten Vortrag ging er auf den aktuellen Stand der Wissenschaft zur phagentherapeutischen Behandlung komplexer Infektionen ein. Von ihm wurde hochdosierte Information als beeindruckende Essenz jahrelanger Forschungsarbeit präsentiert.
Neue Weiterbildungsordnung
Am späteren Nachmittag wurden im Rahmen einer eigenen Sitzung die bisherigen Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Neukonzeption des einsatz-/militärchirurgischen Kompetenzerwerbs und -erhalts“ präsentiert. Im Kontext der neuen Musterweiterbildungsordnung (MWBO) 2018 erfolgte im letzten Jahr die Empfehlung der Konsiliargruppe Chirurgie, nicht mehr flächendeckend am bisher obligaten Standard des DUO-Facharzt-Konzeptes festzuhalten und grundsätzlich die frühzeitige Einsteuerung der chirurgischen Weiterbildungsassistentinnen und -assistenten in die militärchirurgischen Kernfächer zu ermöglichen. Mit enger Zeitlinie erarbeitete die Arbeitsgemeinschaft aus allen chirurgischen Kliniken der Bundeswehr um Oberfeldarzt Leif Wagner, Oberarzt der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie am Krankenhaus in Koblenz und dem Konsiliargruppenvorsitzenden, Flottenarzt Dr. Wilm Rost, eine entsprechende Konzeption. Hieraus konnte in der Folge bereits zusammen mit dem Bundesamt für das Personalmanagement und dem Kommando Sanitätsdienstes der Bundeswehr Werdegangsmodelle abgestimmt werden; den entsprechenden gemeinsamen Vorschlag finden Sie als Leit-Artikel in diesem Heft.
Den Auftakt zu dieser Sitzung machte Flottenarzt Dr. Rost, in dem er aufzeigte, wie dem Bedarf der Bundeswehr im Sinne des Status quo zur derzeitigen Ausbildungsplanung unserer jungen „chirurgischen“ Sanitätsstabsoffiziere demonstriert wurde. Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Dan Bieler und Oberfeldarzt Dr. Joachim Sahm (beide BwZKrhs Koblenz) stellten dann die Herleitung der Umsetzungskonzeption vor, indem sie sowohl die wissenschaftlichen Grundlagen der Anforderungen an den Einsatzchirurgen in der Literatur als auch die tatsächlichen personellen Anforderungen für die jeweiligen Einsatzszenarien zusammenfassten. Oberfeldarzt Wagner schloss die Sitzung mit der Vorstellung des Konzeptentwurfs zur zukünftigen Umsetzung in der Ausbildungssteuerung. Mit lebendiger und konstruktiver Diskussion konnte der erste, äußerst intensive und informative Tag der Tagung in den Abend übergeleitet werden.
Posterwettbewerb
Unmittelbar an die Sitzung schloss sich die Begehung der eingereichten wissenschaftlichen Poster an. Einen echten Dank auch an alle Teilnehmenden, die einen Posterbeitrag erstellt hatten und sich der angeregten Diskussion hinsichtlich ihrer Ergebnisse stellten. Die Bewertung der Poster wurde neben dem Vizepräsidenten der DGWMP auch von Flottenarzt d. R. Univ.-Prof. Dr. Tim Pohlemann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie der Universität Homburg, vorgenommen.
Die Gewinner des Posterpreises der DGWMP 2023 hießen:
- Stabsarzt Katja Schneider, BwKrhs Berlin: Mesenchymal und mobil, das Leiomyom als seltene Differentialdiagnose eines soliden Tumors des Dünndarmmesenteriums,
- Oberstabsarzt Dr. Nina Kühler, BwZKrhs Koblenz: Retrospektive Evaluation von gastrointestinalen Stoffwechselerhöhungen im PET-CT und Korrelation mit den histologischen Ergebnissen,
- Oberfelddarzt Priv.-Doz. Dr. Dan Bieler, BwZKrhs Koblenz: Bildgebende Diagnostik im Schockraum – ein Algorithmus.
Festabend
Der sich anschließende Festabend führte zur ganzheitlichen Stärkung der Gemeinschaft und ließ die chirurgische Community zur Hochform auflaufen. Wünsche blieben kaum offen und der Festabend konnte an beste Zeiten aus der Geschichte der ARCHIS anknüpfen. Gemeinsam!
Freitag, 3. März 2023
KIS, PEP, G-CAP III
Der Auftakt am frühen Morgen des zweiten Tages war von den Rahmenbedingungen der chirurgischen Arbeitsbedingungen in den Kliniken geprägt. Oberfeldarzt Dr. Simon Mayer stellte mit seinem beeindruckenden Vortrag zur „RPA – eine zukunftsfähige Lösungsoption gegen die administrative Sinnkrise“ echte Lösungsansätze zur Effizienzsteigerung und Arbeitserleichterung in der klinischen, digitalen Dokumentation und Auswertung vor. Als Leiter Controlling des Zentralen Klinischen Managements am BwKrhs Ulm zeigte er auf, was softwareunterstützt möglich sein könnte, wenn man es tatsächlich umsetzen würde – ein wahrhaft visionärer Vortrag mit viel Potenzial, Erleichterungen der Dokumentationsarbeit durch digitale Hilfe zu ermöglichen. Diese Thematik wurde ebenfalls in die Entscheidungsebenen des Kdo SanDstBw zur Prüfung auf Umsetzbarkeit mitgenommen. Oberfeldarzt Sebastian Klinger konnte im Anschluss als leitender KIS2-Koordinator der Bundeswehrkrankenhäuser und Sachgebietsleiter der IT-Unterstützung in der Gesundheitsversorgung perspektivische Verbesserung des aktuellen KIS in Aussicht stellen. In einem zweiten Anteil seiner Ausführungen bezog er sich auf die Umsetzung des PEP3-Moduls und die damit verbundenen Änderungen in der Arbeitszeiterfassung.
Das G-CAP III4 modulare Containersystem zur sanitätsdienstlichen Versorgung im Einsatzgebiet wurde detailliert von Oberfeldarzt Dr. Andreas Jocksch, Kdo SanDstBw, vorgestellt – ein Vorgeschmack und die Perspektive auf zukünftige chirurgische Arbeitsbedingungen im Einsatz?
Forum des chirurgischen Nachwuchses
Es schlossen sich zwei weitere intensive und wissenschaftliche Sitzungen an, in denen v. a. die jungen chirurgischen Kollegen eindrucksvoll unter Beweis stellten, dass sie den an sie gestellten Anforderungen auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung gewachsen sind.
Während Oberstabsarzt Dr. Lena Herrmann (Westerstede) die Ergebnisse und Auswirkungen von Handgelenksarthroskopien bei Soldaten auf die Dienst- und Verwendungsfähigkeiten vorstellte, zeigten die handchirurgischen Kollegen aus dem BwKrhs Ulm eine Serie von erfolgreich therapierten Patienten durch die Variante der Kallusdistraktion an kleinen Knochen (Hand/Fuss). Die Auswertung behandelter proximaler Tibiafrakturen am BwKrhs Hamburg durch Oberstabsarzt Dr. Tors-Henrik Lüer beeindruckte ebenso, wie die Vorstellung der präoperativen Anämie-Diagnostik im Rahmen des Patient-Blood-Management von Oberstabsarzt Katja Schneider aus Berlin.
Oberstabsarzt Dr. Patricia Gerlach aus Koblenz präsentierte die LIBOD (Sonderforschung) Studienergebnisse (der Liquid Biopsy of Organ Damage). Über die Anwendung von nichtinvasivem Plasma (NIPP) in einem in-vitro Gewebemodell der Hernienchirurgie berichtete Oberstabsarzt Alexander Abazid aus Berlin. Oberfeldarzt Dr. Sebastian Schaaf aus Koblenz stellte die perspektivisch als im Systemverbund multizentrisch geplante Studie PROMSO-TRIAL vor, welche die prophylaktische Netzeinlage beim Bauchdeckenverschluss zur Verringerung der Narbenhernienrate überprüft.
Verletzung, Kontamination, Rekonstruktion (Teil 2)
Anknüpfend an den ersten Tag der ARCHIS Tagung schloss das wissenschaftliche Programm mit dem zweiten Teil der „Verletzung, Kontamination und Rekonstruktions-Sitzung“. Aus dem Bereich der plastischen Chirurgie stellte Oberfeldarzt Dr. Katrin Ettmüller aus der unfallchirurgischen Klinik am BwZKrhs Koblenz Möglichkeiten der Weichteilsanierung und -rekonstruktion bei höchst komplexen Verletzungen vor. Zwei Vorträge, die sich ergänzten bezogen sich auf die verschiedenen Optionen der Kallusdistraktion am langen Röhrenknochen. Oberfeldarzt Dr. Dennis Vogt aus Berlin fokussierte sich auf die Differenzierung von bewährten und innovativen Verfahren, während Oberfeldarzt Dr. Florian Pavlu aus Koblenz verschiedene innere und äußere Verfahren zur Distraktion demonstrierte. Als Zusammenfassung langjähriger Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Laparostomabehandlung stellte in Vertretung für Flottillenarzt Priv.-Doz. Dr. Arnulf Willms (Hamburg) Oberfeldarzt Dr. Schaaf (Koblenz) den evidenzbasierten Versorgungsalgorithmus bei schwersten abdominellen Infektsituationen vor. Stellvertretend für die Fachgebiete der Thorax- und Herzchirurgie berichtete Oberfeldarzt Dr. Christian Eckermann (Koblenz) über thorakale Verletzungen und die differenzierte Behandlung des Thoraxempyems unter einsatzchirurgischer Sicht.
Ehrung für Prof. Dr. Tim Pohlemann
Nach Abschluss der letzten Sitzung erfolgte die Ehrung von Fottenarzt d. R. Prof. Dr. Pohlemann als langjährigen Freund und unermüdlichen Unterstützer der DGWMP und der Wehrmedizin durch den Vizepräsidenten der Gesellschaft, Generalarzt a. D. Prof. Dr. Becker. Mit Danksagungen und abschließenden Worten wurde die Tagung beendet.
Fazit und Ausblick
Der Arbeitskreis Einsatzmedizin der DGWMP und die Tagung ARCHIS sind lebendig! Die chirurgische Community und der AK benötigen die DGWMP ebenso wie die DGWMP „ihre“ Chirurgen.
Es hat sich einiges getan. Zu danken gilt es der besonders gelungenen Kongressorganisation und der Schaffung von guten Rahmenbedingungen durch die Gesellschaft. Der Blick auf vermeintlich „kleine“ aber auszuzeichnende Dinge durch die Organisation war merklich. So wurde beispielsweise eigens für die Ukraine Sitzung der Vortragssaal zusätzlich mit der ukrainischen Flagge ausgestattet. Auch bei den Aufmerksamkeiten, die den Referenten als Dank zu kam, handelte es sich um einen sehr ausgewählten, hochwertigen Wein von einem durch die Flutkatastrophe im Ahrtal schwer betroffenen Winzers. Die unkomplizierte Teilnahme von Kolleginnen und Kollegen befreundeter Streitkräfte, wie aber auch die Ermöglichung von Gastreferenten aus Europa durch die DGWMP soll nicht ohne Dank bleiben. Die wissenschaftlichen Sitzungen katapultierten die Tagung auf 22 Fortbildungspunkte, mehr ist hier nicht hinzuzufügen.
Die Militärchirurgen waren GEMEINSAM!
In der Erwartung des Austauschs und Dialogs wäre sowohl eine über die Community hinausgehende Beteiligung von Angehörigen benachbarter Fachdisziplinen als auch von Entscheidungsträgern aus dem Bereich der Führung des Sanitätsdienstes für die Zukunft mehr als wünschenswert. Die chirurgische Community freut sich darauf.
Die ARCHIS-Tagung wird zur besseren und frühzeitigeren Planung ab 2025 wieder auf das letzte Wochenende im Januar festgelegt werden. Die nächste Tagung wird 2024 in Westerstede stattfinden. Oberstarzt Prof. Dr. Axel Franke, der den wissenschaftlichen Teil der Tagung mit konzipierte und leider nicht persönlich teilnehmen konnte, sei an dieser Stelle ebenfalls herzlich gedankt.
Mit einem nochmaligen ausdrücklichen Dank an alle Referenten, Vorsitzenden und Teilnehmer, v. a. aber an die DGWMP, erlaube ich mir zu sagen:
Auf die nächsten 30 Jahre – Gemeinsam!
Verfasser
Oberstarzt Dr. Christoph Güsgen
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Sprecher der ARCHIS
1 Die Vorträge von Mauer, Beltzer, Schulz, Weinand und Johann werden als Artikel in dieser bzw. der folgenden Ausgabe der WMM abgedruckt.
2 KIS = Krankenhausinformationssystem
3 PEP = Personaleinsatzplanung
4 G-CAP III = “German Armed Forces – Contractor Augmentation Program”; Vertragswerk zur Sicherstellung adäquater Einsatzunterstützung. Siehe auch < https://www.bundeswehr.de/de/organisation/infrastruktur-umweltschutz-und-dienstleistungen/aktuelles/erfolgsmodell-wird-fortgesetzt-5054922>