Schädel-Hirn-Verletzungen unter den zukünftigen Bedingungen der Landes- und
Bündnisverteidigung – ein Aufruf zur gemeinsamen Leitlinienarbeit
Uwe Max Mauera, Chris Schulza
a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik XII – Neurochirurgie
Hintergrund
Die Erfahrung aus den Kriegen der vergangenen fast einhundert Jahre zeigt, dass das Verletzungsmuster der verwundeten Soldaten sich über die Zeit verändert hat. So waren im Zweiten Weltkrieg etwa 21 % der Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich zu finden [1], im Korea-Krieg waren es dann schon mehr als 21 % [9] und bei der Operation Enduring Freedom (2001) 30 % [8]. Diese Entwicklung wird im aktuellen Krieg in der Ukraine bestätigt. Nach der uns bekannten Verteilung sind hier 35 % der verletzten Soldaten während der ersten Kriegsphase wegen Verletzungen im Kopf-Hals-Bereich ausgefallen (persönliche Mitteilung). Dies ergibt sich aus der verbesserten persönlichen Schutzausrüstung für den Körperstamm und den verstärkten Panzerungen der Fahrzeuge.
Eine neurochirurgische fachärztliche Expertise wird nicht auf jeder Versorgungsebene vorgehalten werden können, und nicht immer wird ein sofortiger qualifizierter Lufttransport möglich sein. Daraus resultiert die Notwendigkeit, dass Patienten mit Schädel-Hirn-Traumata unter den Bedingungen der Landes- und Bündnisverteidiung (LV/BV) auch von Nicht-Neurochirurgen versorgt werden – das heißt jedoch nicht immer, dass sie operiert werden müssen. Neurochirurgen sind sicher ab der Versorgungsebene Role 3 anzutreffen und davor unter Umständen nur in Enrichtungen der Role 2E.
Verletzungsmuster
Da die Expertise in der Therapie von Schädel-Hirn-Traumen in Deutschland faktisch nuraus Erfahrungen unter Friedensbedingungen besteht, ergeben sich auch bei Neurochirurgen Unsicherheiten unter LV/BV-Bedingungen. Schädel-Hirn-Traumen unter Kriegsbedingungen unterscheiden sich aber erheblich von den Verletzungen im Frieden. Penetrierende Fragmentverletzungen begleitet von Explosionsüberdruck, sogenannter „Blast“, sind der vorherrschende Traumamechanismus (beispielhaft Abbildung 1) [2]. Zivile Schussverletzungen des Gehirns sind meist aus nächster Nähe und sehr gezielt abgegebene Verletzungen, die in 90 % nicht überlebt werden [10]. Auch die bisherigen Erfahrungen aus den internationalen Kriseninterventionseinsätzen ist recht gering [11]. Vor diesem Hintergrund liegt es auch in der Verantwortung der neurochirurgischen Konsiliargruppe sicherzustellen, dass die eingesetzten Soldaten die bestmögliche Versorgung durch nicht-neurochirurgische Ärztinnen und Ärzte erhalten.
Abb. 1: Offenes SHT nach Detonation eines IED in Afghanistan (Bild: Bundeswehr)
Leitlinien
Aktueller Stand
Zur Versorgung des Schädel-Hirn-Traumas gibt es in Deutschland die noch gültige S2k-Leitlinie „Schädelhirntrauma“ im Erwachsenenalter [5]. Eine Aktualisierung ist in Bearbeitung. Daneben existieren in den USA die Guidelines zum Prehospital Management of Traumatic Brain Injury [3] und die Guidelines for Field Management of Combat Related Headtrauma [4]. Diese sind jedoch einerseits relativ alt und andererseits können die Empfehlungen nicht vollständig auf deutsche Verhältnisse übertragen werden. Zusätzlich sind die Empfehlungen recht oberflächlich und lassen viel Interpretationsspielraum offen. Auch die amerikanischen Militärneurochirurgen sehen aus den gleichen Gründen den Bedarf einer Aktualisierung bzw. Anpassung der für Einsätze anwendbaren Leitlinien (z. B. für penetrierende SHT) und haben bereits methodische Vorschläge zum möglichen Vorgehen bei der Erstellung solcher Leitlinien gemacht [6].
Daneben gibt es natürlich noch die aktuellen NATO-Vorgaben. Auch diese sind im Hinblick auf die Versorgung des Schädel-Hirn-Traumas nicht sehr detailliert. Am ehesten sind die Clinical Practice Guidelines (published by the Joint Trauma System (JTS), the Department of Defense Center of Excellence for Trauma) der US-Streitkräfte sehr nahe an der Praxis und entsprechen unseren Vorgaben; sie sind aber auch recht unspezifisch.
Klinische LV/BV-Praxis-Leitlinie erforderlich
Aus dem Gesagten ergibt sich die Notwendigkeit, eine eindeutige, wissenschaftlich basierte, kurz und klar formulierte sowie gut verständliche Leitlinie zur Versorgung des Schädelhirntraumas unter LV/BV-Bedingungen zu erarbeiten. Ziel dieser zu entwickelnden klinischen Praxisleitlinie ist es, spezifische und maßgeschneiderte Richtlinien für die Versorgung von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma und insbesondere für die Durchführung kranialer Eingriffe durch Nicht-Neurochirurgen bereitzustellen. Hierzu ist die Formulierung von klinisch relevanten Fragestellungen zu einem frühen Zeitpunkt für die Planung von Recherchen unerlässlich. Eine Beschränkung auf einen sinnvollen, inhaltlich bearbeitbaren Rahmen ist wichtig.
Wesentliche offene Fragen
Mit einer derartigen Leitlinie sollen vor allem folgende Fragen adressiert werden:
- Gibt es eine Indikation zur Kraniotomie ohne Schnittbildgebung (Computertomografie)?
- Soll die Kraniotomie stets als osteoklastische Kraniotomie durchgeführt werden?
- Wann sollen die Maßnahmen aufgrund einer infausten Prognose beziehungsweise bereits erfolgtem Eintritt des Hirntodes beendet werden?
- Wann und wie soll der Hirndruck gemessen werden?
- Gibt es eine therapeutische Option für eine Liquordrainage unter LV/BV-Bedingungen?
Aufruf zur Leitlinienerstellung
Die vorstehend genannten Fragen und die Notwendigkeit einer „Leitlinie zur Versorgung des Schädelhirntraumas unter LV/BV-Bedingungen“ wurden auf der ARCHIS-Tagung 2023 der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. (DGWMP) in Bad Nauheim vorgestellt. Mit diesem Beitrag erfolgt nun der Aufruf an die beteiligten Konsiliargruppen, Delegierte zur Erarbeitung dieser Leitlinie zu entsenden.
Die Leitlinie soll nach wissenschaftlichen Grundsätzen entsprechend der Vorgaben der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) erfolgen und könnte dann auch in das Register der AWMF aufgenommen werden. Bei der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie ist sie bereits angemeldet. Geplant sind, eine Videokonferenz sowie eine Präsenzveranstaltung zur Erarbeitung dieser Leitlinie mit allen Delegierten vor dem Oktober 2023 durchzuführen, um diese dann auf der Jahrestagung 2023 der DGWMP in Ulm zu verabschieden. Im nächsten Schritt sollte angestrebt werden, auf dem Boden der erarbeiteten Empfehlungen einen NATO-weiten Konsens zu erzielen und eine entsprechende international anzuwendende Leitlinie zu erstellen.
Nächster Fokus: Wirbelsäule
Ein chirurgisch relevantes Wirbelsäulentrauma ist im Rahmen derartiger Bedingungen weitaus seltener. Dennoch gibt es gerade auch in der Versorgung der Wirbelsäulenverletzung unter LV/BV-Bedingungen viele Unsicherheiten bei den versorgenden Ärzten. Deshalb sollte im nächsten Schritt eine Leitlinie zur Versorgung von Wirbelsäulenverletzungen unter LV/BV-Bedingungen erstellt werden.
Literatur
- Beebe GW, DeBakey ME: Location of hits and wounds. In: Springfield IL, Charles CT: Battle Casualties 1952; 165–205.
- Bell SB, Mossop CM, Dirks MS et al.: Early decompressive craniectomy for severe penetrating and closed head injury during wartime. Neurosurg Focus 2010; 28(5): E1. mehr lesen
- Brain Trauma Foundation. Guidelines for prehospital Management of traumatic brain injury. 2 nd Edition. Vol 12 (2007) Suppl 1. mehr lesen
- Brain Trauma Foundation. Guidelines for field management of combat-related head injury. 2005. mehr lesen
- Firsching R, Rickels E, Mauer UM et al.: Guidelines for the treatment of head injury in adults. J Neurol Surg A Cent Eur Neurosurg 2017; 78: 478 - 487. mehr lesen
- Hawryluk GWJ, Selph S, Lumba-Brown A, et al.: Rationale and Methods for Updated Guidelines for the Management of Penetrating Traumatic Brain Injury. Neurotrauma Rep 2022; 3(1): 240-247. mehr lesen
- Mauer UM, Kunz U: Management of neurotrauma by surgeons and orthopedists in a military operational setting. Neurosurg Focus 2010; 28: E10. mehr lesen
- Owens BD, Kragh JF, Wenke JC et al.: Combat wounds in operation iraqi freedom and operation enduring freedom. J Trauma 2008; 64: 295 – 299. mehr lesen
- Reister FA: Battle Casualties and Medical Statistics: U.S. Army Experience in the Korean War. Washington, DC: The Surgeon General, Department of the Army; 1973. mehr lesen
- Schulz C, Kunz U, Mauer UM: Primäre chirurgische Behandlungsstrategien bei Kopfschussverletzungen. WMM 2012; 55: 125 – 129. mehr lesen
- Schulz C, Kunz U, Mauer UM: Three years of neurosurgical experience in a multinational field hospital in northern Afghanistan. Acta Neurochir 2012; 154: 135- 140. mehr lesen
Kontaktdaten
Oberstarzt Prof. Dr. med. Uwe Max Mauer
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik XII – Neurochirurgie
Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm
E-Mail: uwemaxmauer@bundeswehr.org