Perforierende Augenverletzungen – Update: Nach wie vor ist die schnelle Versorgung indiziert!
Frank Weinanda
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik IV – Augenheilkunde
Hintergrund und Historie
Auch und gerade in der Augenheilkunde lernen wir aus der Vergangenheit für das Heute und für die Zukunft. Vor dem Hintergrund der Re-Fokussierung von Bundeswehr und NATO auf die Landes- und Bündnisverteidigung ist es äußerst lohnenswert, die Erfahrungen der Flächenkriege des vergangenen Jahrhunderts bis in die Gegenwart neu zu betrachten.
Erster Weltkrieg
Wissenschaftlich fundierte Berichte zum Thema Augenverletzungen gab es bereits aus dem ersten Weltkrieg. Prof. Dr. Theodor Axenfeld, Ordinarius der Universitäts-Augenklinik Freiburg stellte in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift seine Erfahrungen aus dem Jahr 1914 dar [1]. Seine Sanitätseinrichtung war wegen der Nähe zur Vogesenfront „einem unablässigen Zustrom“ von Augenverletzten ausgesetzt. Prof. Axenfeld forderte damals eine Organisations- und Führungsebene, die sich um die Patientenströme kümmern sollte und hier besonders um die schnelle Verbringung der Augenverletzten in eine spezialisierte stationäre Behandlung. Hinter dem „vorrückenden Heere“ sollten in Feldlazaretten zusätzlich spezialisierte Abteilungen für die Erstversorgung zuständig sein.
Zweiter Weltkrieg
Im Zweiten Weltkrieg gab es als Konsequenz aus den Erfahrungen aus der Vergangenheit schon die „beratenden Chirurgen im Einsatz“, die dem heutigen Leitenden Sanitätsoffizier entsprechen [3]. Wegen der zeitkritischen Behandlung Augenverletzter wurde postuliert:
„Das Schicksal eines verletzten Auges hängt im Wesentlichen von der ersten fachmäßigen Versorgung ab, welche innerhalb der ersten 12 Stunden erfolgen soll.“ [6]
Auch beim Verwundetentransport hatten in beiden Weltkriegen Augenverletze bereits die Priorität „1“.
Ballistischer Augenschutz ist unverzichtbar
Auswertungen der Literatur zeigen, dass sich die Inzidenz von Combat Ocular Injuries seit dem ersten Weltkrieg praktisch nicht mehr verändert hat. Sie bewegt sich zwischen 8 % und 12 % aller Verletzungen [10]. Dabei ist die Eröffnung des Augapfels (Open Globe Injury (OGI)) die schwerste und prognostisch ungünstigste Verletzung. Die OGI kann durch das Tragen eines ballistischen Splitterschutzes effektiv verhindert werden. Seit 2008 wurden zunächst Soldaten der Bundeswehr im Einsatz und nachfolgend jeder Soldat mit dem System Revision Sawfly (Revision Military®) ausgestattet. Dieser hocheffektive Augenschutz widersteht z. B. einem Schrotschuss aus 5 m Entfernung und beweist dadurch seinen hervorragenden Splitterschutz. Die Schutzbrille wird mit drei Wechseleinsätzen ausgeliefert (Klar, Blaulichtfilter, Sonnenschutz) und kostet auf dem Markt etwa 113 US-Dollar.
In Konflikten, bei dem die Soldaten keinen spezifischen Augenschutz trugen, lag die OGI-Inzidenz bei bis zu 65 % [2][9]. Demgegenüber hatten die US-Streitkräfte zwischen 2001 und 2007 (Operation Enduring Freedom) nur eine Inzidenz von 18 % offener Augapfelverletzungen. Die US-amerikanischen Soldaten hatten damals bereits eine MCEP (Military Combat Eye Protection) getragen [10].
Durch den völkerrechtswidrigen Einsatz von Streumunition im aktuellen Krieg in der Ukraine kam es zu einer weiteren Erhöhung der Inzidenz von den Augapfel eröffnenden Verletzungen auf 71,9 %, davon 43,8 % mit einem intraokularen Fremdkörper. Keine OGI wurden in einer vorläufigen Auswertung festgestellt, wenn ein ballistischer Augen-Splitterschutz getragen wurde [5][11] .
Folgerungen und Empfehlungen
Schutzbrille für ukrainische Soldaten
Ukrainische Soldaten, die sich derzeit und zukünftig zur Ausbildung in Deutschland befinden, werden hier eingekleidet und erhalten für die Dauer der Ausbildung auch einen persönlichen ballistischen Augenschutz. Unter Bezug auf die aktuellen Berichte zu Augenverletzungen im Ukraine-Krieg [5][11] bleibt festzustellen, dass die Ausstattung der im Kampfeinsatz befindlichen ukrainischen Streitkräfte mit ballistischem Augenschutz notwendig erscheint.
Sicherstellen frühzeitiger Behandlung von OGI
Berichte aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigen deutlich, dass der frühzeitigen richtigen Erstbehandlung von perforierenden Augenverletzungen unmittelbar nach dem Ereignis eine zentrale Bedeutung für den weiteren Verlauf zukommt. Die Lehre um die Notfallversorung und das elementare Wissen um Augenverletzungen sollte daher in allen zukünftigen Planungen neu bewertet werden und eine starke Berücksichtigung finden.
Abb. 1: Brand- und Schmauchspuren im Gesicht nach Explosion bei durch die Wirkung der Schutzbrille unverletzter Augenregion; die Schutzbrille wurde durch die Hitze zerstört. (aus: Spanagel D: Ballistischer Splitterschutz der Augen. WMM 2015; 59(4): 126-128)
Abb. 2: Bergung eines intraokularen Fremdkörpers (Bild: Bundeswehr/Weinand)
Hierzu sollte der in der über viele Jahre bewährte Unterricht über die präklinische Versorgung Augenverletzter nach dem „Shield and Ship“-Prinzip im Rahmen des einsatzvorbereitenden Trainings unbedingt wieder aufgegriffen werden. Die Konsiliargruppe Augenheilkunde sieht sich in der Lage und ist willens, hier den wichtigen Einblick in die Verletzungsmuster zu gewähren. Im entsprechenden Kursformat können die wenigen zeitkritischen Verletzungen (Verätzungen/Verbrennungen, das okuläre Kompartmentsyndrom) und ihre für den weiteren Verlauf weichenstellende Frühbehandlung dargestellt werden. Dabei wird auch erklärt, wie beim Patiententransport weiterer Schaden verhindert werden kann. Die adäquate Unterrichtung und das entsprechende Wissen um die frühzeitige richtige Behandlung perforierender Augenverletzungen sollte elementarer Bestandteil jeglicher Notfallausbildung im Bereich des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sein. Es geht darum, die Bedeutung der richtigen Frühbehandlung für das Augenlicht unserer Soldatinnen und Soldaten zu erkennen und neu zu bewerten.
Literatur
- Axenfeld T: Kriegsophthalmologische und organisatorische Erfahrungen. Freiburger kriegsärztliche Vereinigung. Deutsche medizinische Wochenschrift 1914; 39: 1779-1781.
- Boiko EV, Churashov SV, Haritonova NN, Budko AA: Vitreoretinal surgery in the management of war-related open-globe injuries. Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 2013; 251(3): 637-644. mehr lesen
- Fischer H: Aus den Erfahrungsberichten der Beratenden Chirurgien im Krieg 1939-1945. Darmstadt, Wehr und Wissen Verlagsgesellschaf 1963.
- He Y, Zhang L, Wang F, Zhu M, et al.: TIMING INFLUENCE ON OUTCOMES OF VITRECTOMY FOR OPEN-GLOBE INJURY: A Prospective Randomized Comparative Study. Retina 2020; 40(4): 725-734. mehr lesen
- Lytvynchuk L: Behandeln unter Kriegsbedingungen: Zur Lage der Augenkliniken in der Urkraine. Statement bei der virtuellen Pressekonferenz zur DOG 2022, 22. September 2022. mehr lesen
- Pillat A: Kurze Kriegsaugenheilkunde. Wien, Springer-Verlag 1944.
- Reynolds ME, Hoover C, Riesberg JC, et al. Evaluation and Treatment of Ocular Injuries and Vision-Threatening Conditions in Prolonged Field Care. J Spec Oper Med 2017; 17(4):115-126. mehr lesen
- Schrader WF, Viestenz A:[Severe open globe injury. New treatment concepts]. Ophthalmologe 2008; 105(10): 965-975. mehr lesen
- Shakarchy-Kaminsky N, Megreli J, Kaminsky D, et al.: Combat-related ocular injuries in the Israel Defense Forces during the years 2013 to 2019. J Trauma Acute Care Surg 2021; 91 (2S Suppl 2): S241-S246. mehr lesen
- Weichel ED, Colyer MH, Ludlow SE, et al.: Combat ocular trauma visual outcomes during operations iraqi and enduring freedom. Ophthalmology. 2008; 115(12): 2235-2245. mehr lesen
- Zupan BB, Badyuk MI: Ophthalmological assistance to servicemen of the Defense Forces of Ukraine in conditions of armed conflicts: methodical recommendations. Kyiv, SPD Chalchynska N.V. 2018.
Manuskript nach einem Vortrag auf der 30. ARCHIS-Jahrestagung am 3. März 2023
Verfasser
Oberstarzt Dr. Frank Weinand
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz,
Klinik IV – Augenheilkunde
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz,
E-Mail: frankweinand@bundeswehr.org