Kallusdistraktion einmal anders – ein Verfahren auch für kleine Knochen
Callus Distraction Somewhat Different – a Procedure for Small Bones as well
Falk von Lübkena, Marina Karraschb, Roland Geuea
a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik XIV – Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie, Sporttraumatologie
b Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik II – Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie
Zusammenfassung
Die Kallusdistraktion ist ein bewährtes Verfahren der knöchernen Rekonstruktion vor allem an langen Röhrenknochen. Es ist aber auch an kleinen Knochen der Hand und des Fußes etabliert und ein gutes Verfahren zur Verbesserung der Funktion bei angeborenen Fehlstellungen oder Verletzungen.
Der Fixateur externe ist für die Kallusdistraktion an der Hand und am Fuß der Standard. In den letzten Jahren haben sich aber auch hier interne Distraktoren etabliert. In dieser Arbeit werden anhand von eigenen Fällen die Möglichkeiten, aber auch die Risiken dieser Technik dargestellt und abschließend anhand der Literatur diskutiert.
Schlüsselworte: Kallusdistraktion, interner Distraktor, Daumenrekonstruktion
Summary
Callus distraction is a proven method of bony reconstruction, especially on long tubular bones. However, it is well established in small bones of the hand and foot too. It is an accepted procedure to improve function in congenital deformities or after injuries. The external fixator is the standard for callus distraction in hand and foot. In recent years, however, internal distractors have also came into use here. In this paper, opportunities but even challenges of this technique are discussed by presenting own cases and comparing them based on publications
Keywords: callus distraction; internal distractor; reconstruction of small bones
Hintergrund
Die Kallusdistraktion ist ein lange bekanntes und sehr etabliertes Verfahren, insbesondere an den langen Röhrenknochen, zur Rekonstruktion nach traumabedingter Verkürzung, aber auch zur Verlängerung bei angeboren zu kurz angelegten Extremitäten. Bereits 1921 veröffentlichte Putti eine Arbeit, in der er bei mehreren Patienten eine Femurverlängerung durchgeführt hatte [18]. Gerade durch die Entwicklung intramedullärer Systeme hat dieses Verfahren in den letzten Jahren wieder erheblich an Aktualität gewonnen [7].
Deutlich weniger bekannt ist die Nutzung der Kallusdistraktion an kleinen Knochen von Hand und Fuß, um angeborene Fehlanlagen zu korrigieren oder aber die Funktion nach Verletzungen zu verbessern. Gerade vor dem Hintergrund der wieder neu entfachten militärischen Konflikte in Europa ist dieses Verfahren für die Einsatzchirurgie sehr interessant, um die Funktion vor allem nach Verletzungen an Händen und/oder Füßen wieder herzustellen bzw. zu optimieren, wenn zum Beispiel eine Replantation nach traumatischer Amputation nicht mehr möglich ist.
Wir möchten vor diesem Hintergrund drei Fälle vorstellen, bei der wir ein Implantat zur Kallusdistraktion an der Hand bzw. am Fuß verwendet haben, welches gegenüber der Standardversorgung mit einem Fixateur externe eine deutlich höhere Patientenakzeptanz bieten sollte. Nach Darstellung der Fälle werden wir die Thematik abschließend anhand aktueller Publikationen diskutieren.
Fallbeschreibungen
Fall 1
Die 60-jährige Patientin erlitt zwischen einem durchlaufenden Seil und der Umlenkrolle eines Flaschenzugs eine traumatische Amputation des linken Daumens. Es erfolgte zunächst der Versuch einer Replantation. Im Verlauf kam es jedoch zu einer Nekrose des replantierten Daumens, so dass eine Amputation auf der Grundgliedbasis erfolgen musste. Die radiologische Situation ist in Abbildung 1 dargestellt. In dieser Situation bestanden reizlose Wundverhältnisse und die Patientin wies eine intakte Sensibilität am Amputationsstumpf auf. Allerdings war die Funktion durch die starke Verkürzung des 1. Strahls in erheblichem Maße eingeschränkt.
Abb. 1: Knöcherne Situation nach Amputation des zunächst replantierten linken Daumens (Quelle: BwKrhs Ulm)
Wir entschlossen uns, bei der Patientin eine Kallusdistraktion am Os metacarpale I links durchzuführen. Hierzu verwendeten wir den internen Genos Mini Distraktor (KLS Martin, Freiburg). Dieses Implantat weist den Vorteil einer Lage unter der Haut mit einer perkutanen Ausleitung der Aktivatorstange auf (Abbildung 2). Ab dem 5. postoperativen Tag führte die Patientin selbstständig die Distraktion mit je 0,25 mm morgens und abends durch.
Abb. 2: Röntgenaufnahmen des 1. Strahls der linken Hand nach Implantation des Genos Mini Distraktors vor Einleiten der Distraktion (Quelle: BwKrhs Ulm)
Nach einer vollständigen Distraktion von 22 mm erfolgte zunächst die Entfernung der Distraktionsstange. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits im Röntgenbild ein leichter Kallus im Distraktionsbereich zu erkennen (Abbildung 3). Weitere 9 Wochen später zeigte sich eine Perforation des Distraktors, so dass dieser entfernt und das Os metacarpale I mittels winkelstabiler Platte versorgt wurde (Abbildung 4).
Abb. 3: Knöcherne Situation nach Abschluss der Distraktion: Es ist ein leichter Kallus zu erkennen. (Quelle: BwKrhs Ulm)
Abb. 4: Röntgenaufnahme nach Explantation des Distraktors und Überbrückung der Distraktion mit einer winkelstabilen Platte (Quelle: BwKrhs Ulm)
Der weitere Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Die eingebrachte Platte konnte neun Monate später entfernt werden. Zusätzlich erfolgte in diesem Eingriff die Exzision eines Neurinoms sowie die Vertiefung der Furche zwischen erstem und zweitem Strahl mittels Z-Plastik. Die radiologischen sowie klinischen Endbefunde sind in Abbildung 5 dargestellt. Die Patientin kann nun wieder greifen. Die Funktion der Hand ist relevant verbessert. Zwischen Implantation des Distraktors und Durchführung der Plattenentfernung und der Z-Plastik vergingen knapp 2 Jahre.
Abb. 5: Fall 1: Klinischer Befund nach Abschluss der Distraktionsbehandlung vor (A) und nach (B) Metallentfernung und vertiefender Z-Plastik; (C) korrespondierender Röntgenbefund nach Metallentfernung (Quelle: Bundeswehr/Geue)
Fall 2
Ein 24-jähriger Mann fasste in eine Industriewalze und zog sich dabei eine Amputation im Endglied am linken Daumen zu. Nach primärer Wundversorgung erfolgte zur Defektdeckung die Transplantation eines Insellappens (Foucherlappen), um am Amputationsstumpf eine intakte Sensibilität zu erreichen. Auch wenn durch die Amputation des Endglieds im Vergleich zum ersten Fall ein deutlich längerer erster Strahl verblieb (Abbildung 6), so war die Funktion dennoch erheblich eingeschränkt.
Abb. 6: Fall 2: (A) Radiologisches Bild nach traumatischer Amputation am 1. Strahl der linken Hand und Deckung mittels Foucherlappen; (B und C) klinischer Befund vor der Extraktions-Behandlung (Quelle; Bundeswehr/Geue)
Wir entschieden uns auch in diesem Fall zur Kallusdistraktion, allerdings für eine etwas langsamere Distraktion mit zunächst 3 x 0,125 mm und später 4 x 0,125 mm pro Tag, die ebenfalls am 5. Tag nach Implantation des Distraktors begann. Abbildung 7 zeigt das klinische und radiologische Bild nach Anlage des internen Distraktorsystems mit perkutaner Ausleitung des Aktivators.
Abbildung 7: Radiologisches und klinisches Bild nach Implantation des internen Kallusdistraktors (Quelle: Bundeswehr/Geue)
10 Wochen später erfolgte die Entfernung des Aktivators bei putrider Sekretion über die perkutane Ausleitung. Auf den Röntgenaufnahmen zeigt sich bereits ein recht starker Kallus im Distraktionsbereich (Abbildung 8). Aufgrund eines persistierenden Infekts erfolgte nach einer weiteren Woche die vollständige Entfernung des Distraktors und die Überbrückung der Kallusdistraktion mit einem Fixateur externe. Nach weiteren 6 Wochen konnte der Fixateur entfernt werden. In diesem Fall erreichten wir eine Distraktion von 16 mm; zwischen Implantation und vollständiger Materialentfernung lagen genau 4 Monate.
Abb. 8: Radiologisches Bild in zwei Ebenen 10 Wochen nach Implantation des Distraktors (Quelle: BwKrhs Ulm)
Fall 3
Ein 28-jähriger Soldat stellte sich in unserer Sprechstunde für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie vor. Er beklagt deutliche Schmerzen am rechten Fuß im Bereich der Metatarsaliaköpfchen, medial betont. Bereits gut 10 Jahre zuvor war bei ihm eine Hallux valgus Korrektur rechts durchgeführt worden. Allerdings hätten sich seine damaligen Beschwerden nicht wirklich reduziert. Klinisch zeigte sich eine verkürzte 2. Zehe beidseits. Den radiologischen Befund (dorsoplantar) zeigt Abbildung 9.
Abb. 9: Dorsoplantare Röntgenaufnahme des rechten Fußes von Patient 3 unter Belastung (Quelle: BwKrhs Ulm)
Auch auf der besseren linken Seite zeigte sich ein angeboren zu kurzes Os metatarsale II im Sinne einer Brachymetatarsie. In einer auswärtigen Spezialklinik für Fußchirurgie wurde zu einer Arthrodese des linken Großzehengrundgelenks sowie zu einer Verkürzung des 3. und 4 Strahls mittels Weil-Osteotomie geraten. Der Patient stellte sich nun bei uns zur Einholung einer Zweitmeinung vor. Die verschiedenen Behandlungsoptionen wurden mit ihm ausführlich durchgesprochen. Wir entschieden uns gemeinsam für eine Kallusdistraktion des Metatarsale II rechts, um eine physiologische Maestrolinie – die harmonische, durch die Metatarsaliaköpfchen leicht geschwungen verlaufende Linie auf dem dorsoplantaren Röntgenbild – zu erreichen und somit die Belastung der Metatarsaliaköpfchen insgesamt zu normalisieren. Es erfolgte die Implantation des internen Distraktors mit perkutaner Ausleitung des Aktivators wie in den beiden bereits geschilderten Fällen an der Hand (Abbildung 10).
Abb. 10: Radiologisches und klinisches Bild nach Implantation des Distraktors und perkutaner Ausleitung des Aktivators (Quelle: Bundeswehr/von Lübken)
Ab dem 5. postoperativen Tag erfolgte die Distraktion mit 4 x 0,25 mm pro Tag. Der Patient stellte sich nachfolgend in regelmäßigen Abständen in unserer Sprechstunde vor. Nach einer Distraktion um 13 mm mit einer schönen Wiederherstellung der Maestrolinie (relative Längen der einzelnen Metatarsalia und deren Verhältnis zueinander) und einem kleinen Weichteilinfekt erfolgte 3 Wochen nach Implantation die Entfernung des Aktivators mit einer Wundreinigung und einem Wundverschluss (Abbildung 11).
Abb. 11: Radiologischer Befund zum Zeitpunkt der Beendigung der Distraktion vor Entfernung des Distraktors (Quelle: BwKrhs Ulm)
Im weiteren Verlauf erklärte der Patient, dass er den rechten Fuss voll im Verbandschuh belasten würde und er noch keine Physiotherapie erhalten hätte. Die zweite Zehe wies nun eine zunehmende Plantarflexion auf. Bei der nächsten Kontrolle des Distraktionskallus 14 Wochen nach Entfernung des Aktivators zeigte sich leider ein Implantatbruch mit Längenverlust am Os metatarsale II (Abbildung 12).
Abb. 12: Radiologisches und klinisches Bild nach Bruch-Versagen des Implantats (Quelle: Bundeswehr/Geue)
Es erfolgte nun die Entfernung des Implantats, das Einbringen eines kortikospongiösen Spans und die überbrückende Plattenosteosynthese. Eine vollständige Wiederherstellung der zwischenzeitlich erreichten Länge des Os metatarsale II war intraoperativ leider nicht mehr möglich (Abbildung 14).
Abb. 13: Radiologisches Bild des rechten Fußes in zwei Ebenen nach Implantatentfernung, Einbringen eines kortikospongiösen Spans und überbrückender Plattenosteosynthese (Quelle: BwKrhs Ulm)
Diskussion
Externer versus interner Distraktor
Die Kallusdistraktion zur Verlängerung des Os metacarpale I wurde erstmals 1967 durch Matev auf einem Symposium präsentiert und in den Jahrzehnten danach immer wieder publiziert [12–17]. Diese Methode wurde von vielen anderen Chirurgen aufgegriffen und als gute Möglichkeit beschrieben, um die Funktion der Hand nach Daumenamputation zu verbessern [1][5][8]. Bei der Durchsicht der Literatur sowohl für die Kallusdistraktion am Daumen als auch an den Metatarsalia fällt die hohe Spannbreite der empfohlenen Distraktionsgeschwindigkeit auf. Diese reicht von 0,3 mm bis 7,5 mm pro Tag, wobei eine Mehrzahl der Autoren eine Distraktion mit 1,0 mm pro Tag durchführt [1][3–6][8–10][19].
Während in den meisten Publikation von einer Distraktion mittels eines externen Fixateurs berichtet wird, findet sich die Beschreibung interner Distraktoren nur vereinzelt, aber zunehmend häufiger [2][10][21][22]. Diese scheinen besonders am Fuß ihren Einsatz zu finden, da die Patienten Socken und teilweise auch Schuhe tragen können, was bei Anwendung eines Fixateur externe nicht möglich ist [10]. In einer retrospektiven Studie zum Vergleich der Kallusdistraktion mittels Fixateur externe und internen Distraktor am Fuß zeigte sich eine signifikant kürzere Durchleuchtungszeit bei der Applikation des internen Distraktors und umgekehrt eine signifikant kürzere Zeit für die Entfernung des Fixateur externe gegenüber dem internen Distraktor [21]. Die Zeit zur Implantation war ohne signifikante Unterschiede.
Operationstechnik
Wir führten die Osteotomie in unseren drei Fällen stets mit einer Säge durch. In der Literatur finden sich neben der Osteotomie mittels Säge [6] noch die Möglichkeit der perkutanen Osteotomie über multiple Bohrungen mittels Kirschnerdraht [1] sowie Ahle oder Meißel [13]. Ein entscheidender Unterschied zwischen diesen Methoden im Ergebnis lässt sich in der Literatur nicht finden.
Einige Autoren raten bei der Verlängerung des Os metacarpale I bei zusätzlich ganz oder teilweise bestehender Grundphalanx zur Fixierung der Grundphalanx am Os metacarpale I mit einem Kirschnerdraht, um Beugekontrakturen zu vermeiden [6][13]. Dies haben wir bei unserem 2. Fall nicht getan, hatten aber dennoch ebenfalls keine Probleme mit einer anschließenden Fehlstellung. Auch am Fuß wird ein entsprechendes Vorgehen von Yamada et al. beschrieben [22]. Eventuell hätte diese Technik die zu beobachtende zunehmende Flexionsstellung an der zweiten Zehe in unserem dritten Fall verhindern können. Allerdings bestand dieses Problem bei uns auch nur temporär.
Komplikationsrate
Auf den ersten Blick sehr überraschend ist die doch recht hohe Komplikationsrate mit Infekten und Implantatbrüchen, obwohl dieser im vorgestellten Fall 3 sicher auch teilweise auf die geringe Compliance des Patienten zurückzuführen sein könnte. Die Infekte waren in zwei Fällen sehr überschaubar an der perkutanen Durchtrittstelle des Aktivators, in einem Fall führte der Infekt jedoch auch zur Notwendigkeit eines Wechsels vom internen Distraktor zu einem Fixateur externe. Obwohl der interne Distraktor sehr klein und zart wirkt, kam es doch in einem unserer Fälle im Verlauf zu einer Perforation mit freiliegendem Implantat. Der Blick in die Literatur relativiert jedoch die scheinbar hohe Komplikationsrate in unseren drei Fällen. So finden sich in der Literatur zahlreiche Beschreibungen von Pin-Infektionen, Auslockerung von Fixateurpins, Frakturen des distrahierten Kallus, Fehlstellungen des distrahierten Knochens, Gelenksteifigkeit und Wundinfektionen [2][4][6][11][13][14][20]. U. a. berichten Houshian und Ipsen von Infektionen bei 5 von 12 Fällen [8], während Kömürcü et al. eine Infektionsquote von 58,3 % in ihrem Patientengut mit 12 männlichen Patienten beschreiben [11].
Die von uns in einem Fall durchgeführte Z-Plastik zur Vertiefung der Furche zwischen den Os metacarpalia I und II wird auch von anderen Autoren als häufig angewandte Technik zur Verbesserung von Funktion und Ästhetik beschrieben [6][13].
Patientenalter
In der Literatur wird auch sehr intensiv und kontrovers über das Alter der Patienten für die Anwendung dieses Verfahrens diskutiert. So sieht Matev bei Patienten über 20 Jahren und einer Distraktion von über 30 mm ein hohes Risiko für eine unzureichende Kallusbildung und rät in diesen Fällen zur primären Versorgung mit einem kortikospongiösen Span [17], während andere Autoren eine ausreichende Kallusbildung auch bei älteren Patienten sehen [4][6]. Die Kallusbildung war auch bei unserer 60-jährigen Patientin kein Problem, wenngleich unsere Distraktionsstrecken stets unter 30 mm lagen.
Fazit
Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Kallusdistraktion auch an kleinen Knochen eine wertvolle Technik ist, die oft der interdisziplinären Zusammenarbeit aus den Fächern Unfallchirurgie, Hand- bzw. Fußchirurgie und Plastischer Chirurgie bedarf, wie sie mit den entsprechenden Sektionen im BwKrhs Ulm vor einigen Jahren grundlegend geschaffen wurden. Zudem bietet diese Technik die Möglichkeit, sowohl die Ästhetik als auch die Funktion der Hand nach Fingeramputation und ggf. auch nach erfolgloser Replantation zu verbessern.
Die große wehrmedizinische Relevanz belegt insbesondere eine Arbeit von Kömürcü et al., der die Kallusdistraktion bei Patienten mit Verlust des Daumens nach Schussverletzung anwandte [11]. Der interne Distraktor weist dabei einen deutlich höheren Komfort und eine größere Akzeptanz der Patienten gegenüber dem Fixateur externe auf, wenn gleich die Komplikationsrate nicht niedriger zu sein scheint als beim Fixateur externe.
Literatur
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Von Lübken F, Karrasch M, Geue R: Kallusdistraktion einmal anders – ein Verfahren auch für kleine Knochen. WMM 2023; 67(5): 201-207.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-135
Für die Verfasser
Flottenarzt Dr. Falk von Lübken
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik XIV – Unfallchirurgie und Orthopädie, Rekonstruktive und Septische Chirurgie
Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm
E-Mail: falkvonluebken@bundeswehr.org
Manuscript data
Citation
Von Luebken F, Karrasch M, Geue R: [Callus Distraction Somewhat Different – a Procedure for Small Bones as well]. WMM 2023; 67(5): 201-207.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-135
For the Authors
Captain (Navy MC) Falk von Lübken, MD
Bundeswehr Hospital Ulm
Department XIV – Trauma Sugery and Orthopedics
Oberer Eselsberg 40, D-89081 Ulm
E-Mail: falkvonluebken@bundeswehr.org
Laparostoma 2023 – Evidenzbasierter
Versorgungsalgorithmus schwerster abdomineller Pathologien
Laparostomy 2023 – Evidence-based Treatment Algorithm of Most Severe Abdominal Pathologies
Arnulf G. Willmsa, Sebastian Schaafb, Christoph Güsgenb, Robert Schwabb
a Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie
b Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Thoraxchirurgie
Zusammenfassung
Die offene Abdominalbehandlung (Laparostoma) ist eine elementare Therapiestrategie in der Behandlung schwerster abdomineller Pathologien und der Damage-Control-Surgery. Somit kommt der standardisierten Technik auch große militärchirurgische Bedeutung zu. Da die Anlage eines Laparostomas jedoch mit potenziell schwerwiegenden Komplikationen assoziiert sein kann, deren Vermeidung unmittelbar nach dem initialen Ziel des Überlebens des Patienten im Zentrum des Handelns stehen sollte, ist ein evidenzbasiertes Vorgehen essenziell.
Es werden hier ein standardisierter und kontinuierlich weiterentwickelter Versorgungsalgorithmus (Koblenzer Algorithmus 3.0) und die diesem zugrundeliegende wissenschaftliche Datenlage vorgestellt.
Schlüsselwörter: Offene Abdominalbehandlung, Laparostoma, Narbenhernie, enteroatmosphärische Fistel, prophylaktisches Netz
Summary
Open abdomen therapy, commonly known as laparostomy, is a crucial surgical approach for managing severe intraabdominal pathologies and is serving as a damage control surgery tool. Thus, this standardized technique is of great importance for military surgeons. However, laparostomy can be associated with potentially serious complications that can prove detrimental to the patient’s well-being. Therefore, the primary objective of this therapy is not only to ensure patient survival but also to prevent complications. To achieve this goal, an evidence-based treatment algorithm is mandatory.
We present the Koblenz algorithm 3.0, which is an efficacious algorithm backed by reliable literature.
Key words: open abdomen therapy; laparostomy; incisional hernia; enteroatmospheric fistula; prophylactic mesh
Problem und Hintergrund
Die offene Abdominalbehandlung (Laparostoma) ist ein selten indiziertes Verfahren, das jedoch mittlerweile einen festen Stellenwert bei der Behandlung schwerstkranker viszeralchirurgischer Patienten hat [1][16]. Die Hauptindikationen umfassen die sekundäre Peritonitis, das abdominelle Kompartmentsyndrom und das schwerste abdominelle Trauma [35]. Im Rahmen der Traumaversorgung ist die offene Abdominalbehandlung auch ein Element der Damage-Control-Surgery und so ein essenzieller Bestandteil einsatz-/militärchirurgischen Managements [17][33].
Neben den Vorteilen des Verfahrens, wie z. B. Druckentlastung des Abdomens mit Verbesserung der Perfusion im Splanchnicus-Gebiet, Erleichterung der Beatmung und leichterer Zugänglichkeit für Revisionen und Lavagen, birgt das Verfahren auch einige mögliche Risiken [1][8][25][26][29].
So stellt es eine gewisse Herausforderung dar, das Abdomen nach pathophysiologischer Restitution und dem Ende der offenen Abdominalbehandlung wieder anatomisch und spannungsfrei zu verschließen [16]. Auch gilt es, schwerwiegende Komplikationen wie die Entwicklung enteroatmosphärischer Fisteln oder gigantischer ventraler Hernien zu vermeiden, da diese mit einer deutlich erhöhten Morbidität und Mortalität einhergehen, den stationären Aufenthalt verlängern und weitere operative Eingriffe erfordern [2][16][35].
Trotz der weitgehenden Akzeptanz und Anwendung der offenen Abdominalbehandlung fehlt es überwiegend an einer rechtfertigenden Datengrundlage, um evidenzbasierte Empfehlungen zur Versorgung geben zu können [16]. So zeigen auch die Daten aus dem EHS Open Abdomen Registry („Laparostomaregister“), dass nur wenige Zentren standardisierte Versorgungsalgorithmen oder Protokolle etabliert haben, wann eine offene Abdominalbehandlung initiiert wird, wie sie ausgeführt wird und wann sie wieder beendet werden kann [32].
Ein grundsätzliches Problem besteht neben den selbst in großen Zentren geringen Fallzahlen der offenen Abdominalbehandlung in der ausgeprägten Heterogenität sowohl der Patientenkollektive als auch der Versorgungsstrategien. Die überwiegende Mehrzahl der publizierten Kohortenstudien ist somit nur schwer vergleichbar und die Ergebnisse sind nur mit Vorsicht zu interpretieren. Hinzu kommt, dass sich die Durchführung multizentrischer, prospektiv-randomisierter Studien im Notfallsetting per se schwierig darstellt. Ein Weg, dieses Dilemma aufzulösen und ausreichende Fallzahlen zu generieren, sind schlussendlich nur Registerdatenbanken. Im Folgenden stellen wir eines der beiden weltweit größten Open-Abdomen-Register näher vor.
Das Register: EHS Open Abdomen Registry
Aufgrund der relativen Seltenheit des Verfahrens ist eine multizentrische Datenerfassung alternativlos, um das Vorgehen weiter zu optimieren und sein Risikopotential zu senken. Daher hat die Arbeitsgruppe um Robert Schwab und Arnulf Willms in Zusammenarbeit mit der EHS (European Hernia Society) und der CAMIN (Arbeitsgemeinschaft für Militär- und Notfallchirurgie) der DGAV (Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie) eine Registerdatenbank zur offenen Abdominalbehandlung unter der Schirmherrschaft der European Hernia Society (EHS) auf den Weg gebracht [32].
Zielsetzungen
Das Register verfolgt hierbei verschiedene miteinander verknüpfte Zielsetzungen. Kernziel ist es, Evidenz auf der Basis einer prospektiven multizentrischen, standardisierten und multinationalen Datenbasis zu generieren. Dies dient als Grundlage für prospektive und retrospektive Studien, der Verfahrensoptimierung und schließlich der Senkung der Morbidität und Mortalität sowie der Effizienzsteigerung des Verfahrens der offenen Abdominalbehandlung.
Die wesentlichen mit der Therapie verknüpften Faktoren können so im Hinblick auf ihren Zusammenhang mit dem Ergebnis untersucht werden. Chirurgisch beeinflussbare Faktoren können so verbessert und der Erfolg der Optimierung reevaluiert werden. Wegen der schwachen Datenbasis zur offenen Abdominalbehandlung, der Vielzahl an gegenwärtigen Versorgungsstrategien und schwer vergleichbaren Patientenkollektiven gibt es aktuell wenig einheitliche Standards und Empfehlungen, die eine evidenzbasierte Handreichung für die Praxis bilden. Damit bietet das Register einen wesentlichen Bestandteil zur Lösung dieser Problematik.
Entwicklung
Vom 1. Mai 2015 bis zum 31. Dezember 2020 fand man das Register unter dem Dach des EuraHS Registers (Hernienregister der EHS) als „Open Abdomen Route“. In diesen Jahren wurden 913 Fälle aus 29 Kliniken aus acht europäischen Ländern eingegeben [35]. Das Register lebt förmlich den europäischen Gedanken und bildet so einen der größten Datensätze weltweit zur offenen Abdominalbehandlung. Aus diesen Datensätzen sind bislang mehrere Publikationen erwachsen. Im Jahr 2021 wurde dann für alle Register der EuraHS-Plattform der Umzug auf eine neue Domain unter Berücksichtigung der neuen europäischen Datenschutzgrundverordnung realisiert. In dem Zusammenhang wurden die Abfrageitems des Datensatzes grundsätzlich optimiert, aktualisiert und letztlich so vereinfacht, dass nun die Eingabe eines Patienten in circa 15 min erfolgen kann.
Das neue Register findet sich unter www.ehs-openabdomen.com (Abbildung 1). Nach einer kurzen Registrierung und Vergabe eines Passwortes kann die Eingabe des ersten Falls erfolgen. Im Register werden die Fälle pseudonymisiert erfasst und jeder Fall erhält zu Beginn einen vierstelligen Buchstabencode, den nur die eingebende Klinik dem Patienten zuordnen kann. Die Einwilligung zur Registerteilnahme wird von der eingebenden Klinik vom Patienten bzw. dessen legitimierten Vertreter eingeholt. Entsprechende Dokumente (Patienteninformation, Einwilligung und ein Tutorial zur Registerhandhabung) werden auf der Webseite bereitgestellt.
Abb. 1: Das EHS Open Abdomen Registry kann über die abgebildete URL erreicht werden (Eigene Abbildung).
Datenbankkategorien
Das Register gliedert sich in die folgenden neun Datenkategorien:
1. Informationen zum Krankenhaus,
2. Patienteninformationen,
3. Nebenerkrankungen,
4. Risikofaktoren,
5. Grunderkrankung,
6. Behandlung des offenen Abdomens,
7. Verschluss des Abdomens,
8. Entlassung,
9. Follow-up nach drei Monaten, einem Jahr und nach zwei Jahren.
Insbesondere die Erfassung des individuellen operativen Verfahrens war bislang detailreich und vielschichtig. Im Rahmen des Registerupdates 2021 wurde dies deutlich benutzerfreundlicher gestaltet und die Eingabe wird durch drei Kernfragen strukturiert:
1. Welches Material hat Darmkontakt?
2. Was machen Sie mit der Faszie?
3. Wird Sog verwendet?
Auswertemöglichkeiten
Neben der kontinuierlichen Pflege und Weiterentwicklung des Registers sollen wissenschaftliche Datenauswertungen dazu beitragen, die unbeantworteten Fragen im Management des offenen Abdomens zu beleuchten. Besonderes Merkmal des Registers ist die Möglichkeit, eigene Auswertungen auf Grundlage der eigenen eingegebenen Daten durchzuführen: „Ihre Daten bleiben Ihre Daten“.
Darüberhinaus können aber auch durch Anfrage bei den Registerkoordinatoren (Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Willms, Oberstarzt Prof. Dr. Schwab, Oberfeldarzt Dr. Schaaf) Auswertungen auf Grundlage der gesamten Registerdaten initiiert werden. Zudem besteht die Möglichkeit der aktiven Mitarbeit bei laufenden und geplanten Auswertungen und somit die Option auf Co-Autorenschaft. Um den Beitrag aller Registerteilnehmenden zu würdigen, ist es beabsichtigt, zukünftig einen Vertreter bzw. eine Vertreterin jeder teilnehmenden Klinik als sog. Contributor in den zukünftigen Publikationen aufzuführen.
Laufende Auswertungsgegenstände sind u. a.:
- Offene Abdominalbehandlung beim Trauma,
- Offene Abdominalbehandlung der Älteren sowie
- Identifikation von Einflussfaktoren auf die Mortalität.
Das Register eignet sich jedoch auch als Plattform und Datengrundlage für neue prospektive Registerstudien zur Evaluierung neuer Behandlungsstrategien (z. B. vertikale Faszientraktion und prophylaktische Netzimplantation zur Narbenhernienprophylaxe).
Ergebnisse
Applikation einer Viszeralschutzfolie zur Prävention enteroatmosphärischer Fisteln
Eine schwerwiegende Komplikation der offenen Abdominalbehandlung ist die Entwicklung einer enteroatmosphärischen Fistel. Da diese mit einer erheblichen Morbidität und Mortalität assoziiert und die Versorgung nach wie vor schwierig ist, sollte deren Entwicklung unter allen Umständen vermieden werden [2]. Diesem Umstand wird auch dadurch Rechnung getragen, dass die Klassifikation des offenen Abdomens nach Björck [4] eine vorliegende Fistel als schwierigstes Stadium aufführt (Tabelle 1).
Tab. 1: Klassifikation des intraoperativen Situs bei offener Abdominalbehandlung nach Björck et al. [4]
Die Schwierigkeit im Management der enteroatmosphärischen Fisteln liegt unter anderem darin, dass nur etwa 20–60 % mittels konservativer Maßnahmen adäquat versorgt werden können [5][27][28]. Die negativen Effekte für die Rekonvaleszenz sind erheblich, und häufig besteht ein funktionelles Kurzdarmsyndrom in Abhängigkeit der Lokalisation und Fördermenge des Darmsekrets [14][22].
Verschiedene Risikofaktoren der Fistelentstehung sind beschrieben worden. Patienten-assoziierte Aspekte wie eine Darmischämie oder eine maligne Grunderkrankung, jedoch auch operative Faktoren wie eine ausgedehnte Darmresektion, der nicht erreichte Faszienverschluss oder aber schlicht die (zu) lange offene Abdominalbehandlung [9][10][13][19][29]. Die Rolle der intraabdominellen Vakuumtherapie wurde diesbezüglich zwar kontrovers diskutiert [12][19][21], neuere Daten weisen jedoch zweifelsohne nach, dass die Anwendung im Rahmen einer zeitgemäßen Technik (bspw. VAWCM, s.u.) jedoch als sicher gilt [1][16].
Entscheidend scheint neben einer die Serosa unter allen Umständen schonenden Operationsweise im Rahmen der Revisionen und abdominellen Verbandwechsel die Applikation einer inerten Viszeralschutzfolie zu sein [15][25][30]. Um diesen Effekt zu überprüfen, wurde eine bizentrische, propensity-score-gematchte Fall-Kontroll-Studie vom BwZKrhs Koblenz und dem Universitätsklinikum Bonn durchgeführt. In einem Kollektiv von Laparostomapatienten infolge einer sekundären Peritonitis zeigte sich eine relative Risiko-Reduktion der enteroatmosphärischen Fistelrate von 89 % bei Verwendung einer Viszeralschutzfolie (2,9 % vs. 26,5 %, p = .00; OR: 0.08; CI: 0.01–0.71, p = .02) [34].
Die Daten des EHS-Registers zeichnen ein ähnliches Bild. So konnte der Effekt in der aktuellen Registeranalyse von 1009 Laparostoma-Fällen über alle Indikationen bestätigt werden (OR: 0.34; CI: 0.21–0.60; p = .00). Das Manuskript befindet sich derzeit im Review-Prozess.
Faszientraktion und -verschluss
Die Dauer der offenen Abdominalbehandlung richtet sich natürlich nach dem Zustand des Patienten und der Restitution der zugrundeliegenden Indikation. Es gilt das Prinzip „so lange wie nötig, so kurz wie möglich“, da die Komplikationswahrscheinlichkeit mit zunehmender Dauer der offenen Abdominalbehandlung und der Anzahl der Wechsel zunimmt.
Bereits frühzeitig sollte in der offenen Abdominalbehandlung der Fokus auf das Therapieende gelegt werden und somit die Retraktion der Faszienränder vermieden werden. Auch hier spielt die Applikation einer Viszeralschutzfolie als Trennschicht zwischen Intestinum und lateraler Bauchwand eine wichtige Rolle, um Adhäsionen zu vermeiden, die einen medianen Faszienverschluss erschweren oder gar unmöglich machen können. Es ist daher wichtig, dass die Folie bei jedem Wechsel beidseits bis ganz nach dorsal in die parakolischen Rinnen platziert wird. Die Notwendigkeit, die Folien zuzuschneiden, sollte kritisch hinterfragt werden, da dies häufig nur bei bestehenden Hindernissen (bspw. Stomata) erforderlich ist.
Zur Faszientraktion sind viele verschiedene Techniken beschrieben (z. B. netz-basierte Faszientraktion, vertikale Faszientraktionsdevices, ABRA, dynamic retention sutures). Auf Grundlage valider Daten kann zwar keine definitive Empfehlung zur Anwendung einer einzelnen Technik gegeben werden, aus Sicht der Autoren ist aber die Nutzung der netz-basierten Faszientraktion am praktikabelsten und effektiv [30]. Die vertikale Faszientraktion bietet möglicherweise darüber hinaus, insbesondere in speziellen Situationen (bspw. ausgeprägtes abdominelles Kompartmentsyndrom mit massiver intestinaler Schwellung) Vorteile, die jedoch erst noch wissenschaftlich evaluiert werden müssen.
Welche Faktoren den Faszienverschluss bedingen, wurde auf Grundlage des EHS Open Abdomen Registry untersucht [35]. Insgesamt konnten dazu 510 Fälle aus dem Register eingeschlossen werden. Dabei zeigte sich die erhebliche Diversität der operativen Versorgung, da insgesamt 13 verschiedene operative Techniken registriert waren. Zusammengefasst zeigte sich aber für die Kernelemente der Therapie
- Viszeralschutz,
- Vakuum und
- Faszientraktion
die höchste Rate des erreichten Faszienverschlusses von 85,8 % (p = .00), wenn alle drei kombinierte Anwendung fanden, was sich auch in der Regressionsanalyse belegen ließ.
Vakuumtherapie und Sekretdrainage
Insbesondere in der septischen Situation ist die effektive Sekretdrainage ein Kernziel der Behandlung. Die Vakuumtherapie bietet hierfür ausgezeichnete Optionen, da neben einer suffizienten Drainage und dem validen Mengenmonitoring auch häufige, ressourcenintensive und verletzungsträchtige Verbandwechsel entfallen. Die effektive Wirkung der Vakuumtherapie wird bei einer Intensität von 75–100 mmHg angenommen, kann aber in speziellen Situationen (diffuse Blutungsneigung, DIC, Antikoagulation etc.) auf 50 oder 25 mmHg reduziert werden.
Exemplarisch für den Mangel an methodisch hochwertigen Studien kann das Ergebnis einer kürzlich erschienenen Cochrane-Analyse gelten. Dabei wurde der Effekt der Vakuumtherapie im Rahmen der offenen Abdominalbehandlung mit dem sog. Bogota-Bag (steriles Abdecken des offenen Abdomens durch Einnaht eines sterilen Infusionsbeutels) verglichen. Im Ergebnis konnte kein Benefit der Vakuumtherapie im Hinblick auf Faszienverschlussrate, Fistelentwicklung, Mortalität oder Krankenhausverweildauer gezeigt werden [8]. Zur Interpretation muss jedoch beachtet werden, dass die Cochrane-Prinzipien nur randomisiert-kontrollierte Studien zur Analyse zulassen. Integriert in einen etablierten Versorgungsalgorithmus ist die Anwendung auf der Grundlage aller verfügbaren Literatur jedoch erwiesenermaßen sicher und vorteilhaft [1][16][35].
Welche Probleme bleiben?
Trotz der kontinuierlichen Verbesserung der operativ-technischen Aspekte der offenen Abdominalbehandlung bleibt der Faszienverschluss in manchen Fällen eine Herausforderung. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse und der niedrigen Komplikationsraten der Botulinumtoxinanwendung in der Präkonditionierung der lateralen Bauchwand vor Rekonstruktion großer Bauchwandhernien (W3 nach EHS-Klassifikation, über 10 cm horizontale Fasziendehiszenz) [18][24] liegt eine Anwendung auch im Rahmen der offenen Abdominalbehandlung nahe [20].
Auch nach erfolgtem Faszienverschluss zeigen sich hohe Narbenhernienraten nach offener Abdominalbehandlung von 35–66 % [3][6][16][31]. Diese Rate ist deutlich höher als jene nach elektiven Laparotomien von ca. 3–20 % [7]. Nicht nur die komplexe sekundäre Narbenhernienrekonstruktion ist ein Problem, sondern auch die Beschwerden, die Arbeits-/Dienstunfähigkeit und die nachweislich reduzierte Lebensqualität [31]. Der Prävention der Narbenhernien kommt also insbesondere nach offener Abdominalbehandlung große Bedeutung zu. Für elektive Laparotomien liegen mittlerweile recht gute Daten vor, sodass die prophylaktische Netzimplantation bei Hochrisikopatienten zumindest zu einer „Kann“-Empfehlung in den Leitlinien geführt hat [11]. Risikofaktoren werden u. a. für Nebenerkrankungen wie Aortenaneurysma, COPD und Kortikoidbehandlung, Diabetes mellitus und Adipositas angenommen. Die individuelle genetische Disposition eines Hernienleidens, z. B. im Sinne einer Kollagenstoffwechselstörung, kommt hinzu.
Die pathophysiologischen Rahmenbedingungen der offenen Abdominalbehandlung und die repetitive mechanische Belastung der Faszie bewirken per se eine schwere Beeinträchtigung der Faszienheilungspotenz. Die o.g. unabhängigen Risikofaktoren kommen ggf. hinzu, sodass der Faszienverschluss nach offener Abdominalbehandlung nach Auffassung der Autoren eine besondere Risikosituation darstellt und eine prophylaktische Netzimplantation zur Narbenhernienprophylaxe gerechtfertigt erscheint (Abbildung 2). In einer eigenen kleinen Pilotstudie wurde das Verfahren evaluiert und es zeigten sich keine interventionspflichtigen netz-assoziierten Komplikationen und keine Narbenhernien im Follow-Up-Intervall [23]. Als Implantationsebene ist die Onlay-Position empfehlenswert, da die Netzlagerpräparation einfach und wenig traumatisch ist. Der prinzipiell erhöhten Seromrate sollte nach Auffassung der Autoren durch eine epifasziale Vakuumtherapie bis zur vollständigen Granulation des Netzes (i.d. R. zwei Zyklen à 3–4 Tage bis zum Sekundärverschluss) begegnet werden [23].
Abb. 2: Der Abschluss der offenen Abdominalbehandlung (oben links) ist ein elementarer Therapieschritt. Nach Faszienverschluss (oben rechts) sollte nach Ansicht der Autoren eine prophylaktische Netzimplantation in Onlay-Position erwogen werden (unten links). Zur Verhinderung von Seromen, die häufig bei Netzimplantation in Onlay-Position auftreten können, empfiehlt sich die anschließende epifasziale Vakuumtherapie (unten rechts) bis zur vollständigen Netzgranulation und dann ein sekundärer Wundverschluss. (Quelle; Willms)
Zur weiterführenden Evaluation ist eine randomisiert-kontrollierte Fall-Kontrollstudie im Systemverbund der BwKrhs in Vorbereitung und die Implantation eines prophylaktischen Netzes wird im EHS Open Abdomen Registry erfasst.
Der Algorithmus
Der „Koblenzer Algorithmus“ wurde 2015 evaluiert und publiziert. Die drei Therapiemodalitäten des VAWCM-Konzeptes (vacuum-assisted wound closure and mesh-mediated fascial traction) beinhalten die Verwendung einer Viszeralschutzfolie, die Applikation einer Faszientraktion ab dem ersten Verbandwechsel, sofern kein Faszienverschluss erfolgen kann, und der Verwendung der Vakuumtherapie (Abbildung 3) [30].
Abb. 3: Die drei evidenzbasierten Therapiesäulen der offenen Abdominalbehandlung (Quelle: Willms)
In den folgenden Jahren wurde der Algorithmus um die prophylaktische Onlay-Netzimplantation erweitert (Koblenzer Algorithmus 2.0) [34].
Aufgrund der guten Ergebnisse der Botulinumtoxinanwendung vor Rekonstruktion großer Narbenhernien (W3 n. EHS), wurde dies auf die Situation des schwierigen Faszienverschlusses bei offener Abdominalbehandlung übertragen (Koblenzer Algorithmus 3.0, siehe Abbildung 4).
Abb. 4: Die Versorgung gliedert sich in eine akute Phase (rot), eine postakute Phase (gelb) und die Endphase der offenen Abdominalbehandlung (grün). Wenn die Indikation zur offenen Abdominalbehandlung gestellt wird, wird ein kommerzielles Abdominal-Vakuum-Verbandsystem appliziert und ein second look nach i.d. R. 48–72 h durchgeführt. Kann die offene Abdominalbehandlung beendet werden, erfolgt der leitliniengerechte Faszienverschluss. Wenn die offene Abdominalbehandlung jedoch fortgeführt werden muss, wird eine netz-basierte Faszientraktion durch Einnähen eines nicht resorbierbaren Netzes als Inlay initiiert und die weiteren Wechsel erfolgen in Abhängigkeit des Befundes. Bei jedem Wechsel wird eine Einengung des Netzes durch mediane Raffnaht angestrebt, um so schnell wie möglich die Situation adaptionsfähiger Faszienränder herbeizuführen. Sofern nach 2 Wechseln kein Faszienverschluss aufgrund der Dehiszenz möglich oder unmittelbar absehbar ist oder aber die Dehiszenz nun >10 cm beträgt, erfolgt die Injektion von Botulinumtoxin A sonografisch gesteuert in die laterale Bauchwand. Sobald der Faszienverschluss möglich ist, erfolgt dieser in o.g. Weise mit zusätzlicher Augmentation durch Implantation eines Onlay-Netzes (befundabhängig als langzeitresorbierbares oder nicht resorbierbares Produkt). Sofern ein Faszienverschluss dennoch unmöglich ist, wird eine planned ventral hernia etabliert und eine möglichst schnelle Deckung des Intestinums durch Spalthaut- oder Lappenplastik angestrebt. Die sekundäre Bauchwandrekonstruktion erfolgt frühestens nach 12 Monaten und ggf. unter erneuter Botulinumtoxin-Präkonditionierung.
Abkürzungen
NPWT – Vakuumtherapie, VPL – Viszeralschutzfolie, DCT – dynamic closure technique/Faszientraktion. (Quelle: Willms)
Kernaussagen
- Trotz aller Verbesserungen und der technischen Evolution bleibt die offene Abdominalbehandlung eine maximal invasive Therapieform und die Indikation muss streng gestellt werden. Es gilt prinzipiell: Das geschlossene Abdomen ist das beste Abdomen!
- Wenn die offene Abdominalbehandlung initiiert wurde, ist neben der Fokussanierung der rasche Verschluss der Abdominalfaszie essenzielles Therapieziel zur Vermeidung potenziell schwerwiegender Komplikationen.
- Um dies zu erreichen, ist ein standardisiertes Vorgehen unter Nutzung der Therapiemodalitäten Faszientraktion, Viszeralschutzfolie und Vakuumtherapie zu wählen.
- Zur Vermeidung hoher Narbenhernienraten sollte die Implantation eines prophylaktischen Onlay-Netzes erwogen werden.
- In schwierigen Fällen können die frühzeitige Botulinumtoxininjektion in die laterale Bauchwand oder die Anwendung der vertikalen Faszientraktion erfolgreich sein.
- Zur Verbesserung der spärlichen Empfehlungslage zur offenen Abdominalbehandlung sollte die Datengrundlage durch Teilnahme am EHS Open Abdomen Registry verbessert werden.
Literatur
Manuskriptdaten
Zitierweise
Willms AG, Schaaf S, Güsgen C, Schwab R: Laparostoma 2023 – Evidenzbasierter Versorgungsalgorithmus schwerster abdomineller Pathologien. WMM 2023; 208-215.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-132
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Arnulf G. Willms
Bundeswehrkrankenhaus Hamburg
Klinik II – Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie
Lesserstr. 180, 22049 Hamburg
E-Mail: arnulfwillms@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Willms AG, Schaaf S, Güsgen C, Schwab R: [Laparostomy 2023 - Evidence-based Treatment Algorithm of Most Severe Abdominal Pathologies]. WMM 2023; 67(5): 208-215.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-132
For the Authors
Lieutenant Colonel Associate Professor Arnulf G. Willms, MD
Bundeswehr Hospital Hamburg
Department II – of General, Visceral and Vascular Surgery
Lesserstr. 180, D-22049 Hamburg
E-Mail: arnulfwillms@bundeswehr.org