Lungengewebeschnitte in der wehrmedizinischen Toxikologie:
Vom „Lungengummibärchen“ zum hochfunktionellen Präzisionslungenschnitt
Lung Tissue Sections in Military Medical Toxicology: from “Lung Gummy Bears” to Highly Functional Precision-Cut Lung Slices
Fee Gölitz a,b, Julia Herbertc, Franz Woreka, Timo Willea
aInstitut für Pharmakologie and Toxikologie der Bundeswehr, München
b Walther-Straub-Institute für Pharmakologie and Toxikologie, Ludwig-Maximilians-Universtät, München
c Department of Pharmacology and Toxicology, Ernest Mario School of Pharmacy, Rutgers University, Piscataway, NJ, USA
Zusammenfassung
Expositionen mit Organophosphat-Nervenkampfstoffen (OP-NK) sind eine reale Gefahr für Soldaten und Soldatinnen sowie die Zivilbevölkerung. OP-NK hemmen die Acetylcholinesterase (AChE) und führen zu einem Acetylcholin (ACh)-Überschuss. Dies kann eine cholinerge Krise mit Bronchokonstriktion und Atemnot auslösen und bis zum Tod führen. Trotz der seit Jahrzehnten bestehenden Behandlungsmöglichkeit durch eine Triple-Therapie bestehend aus Oximen, Atropin und Benzodiazepinen bleibt insbesondere die Wirksamkeit der AChE-Reaktivatoren begrenzt. Um neue therapeutische Ansätze zu erforschen, wurden Präzisionslungenschnitte (Precision-Cut Lung Slices, PCLS) als Modell eingesetzt, welche Experimente auf molekularer und funktioneller Ebene erlauben.
In dieser Arbeit wurde erstmals die AChE-Aktivität in intaktem Lungengewebe mittels eines enzymatischen, kolorimetrischen Assay (modifizierter Ellman-Assay) bestimmt. Zudem wurden die Auswirkungen von OP-NK und AChE-Reaktivatoren auf die Atemwege mittels Videomikroskopie untersucht. Die Ergebnisse zeigen eine starke Korrelation zwischen der Wiederherstellung der AChE-Aktivität und der funktionellen Verbesserung der Atemwege. Dies macht PCLS zu einem vielversprechenden Modell, mit dessen Hilfe neue, wirksamere Reaktivatoren entwickelt werden können, außerdem kann die Verwendung von PCLS Tierversuche reduzieren.
Schlüsselwörter: Organophosphat-Nervenkampfstoffe, Acetylcholinesterase, Präzisionslungenschnitte, Oxime, Ellman-Assay
Summary
Exposure to organophosphate nerve agents (OPNA) poses a danger to soldiers and civilians. OPNA inhibit acetylcholinesterase (AChE), leading to bronchoconstriction, respiratory distress, a cholinergic crisis, and even death due to the resulting acetylcholine (ACh) overflow. Despite the treatment option of triple therapy with oximes, atropine, and benzodiazepines, which have been available for decades, the efficacy of AChE reactivators remains limited. Precision-cut lung slices (PCLS) were used to explore new therapeutic approaches as a model that allows experiments at the molecular and functional levels [4].
In this study, AChE activity in intact lung tissue was determined for the first time using an enzymatic, colorimetric assay (modified Ellman assay). In addition, the effects of OPNA and AChE reactivators on the airways were investigated using video microscopy. The results show a strong correlation between the restoration of AChE activity and the functional improvement of the airways. This makes PCLS a promising model for the development of new, effective reactivators and leads to a reduction of animal testing.
Keywords: organophosphate nerve agents; acetylcholinesterase; precision-cut lung slices; oxime; Ellam-assay
Einleitung
Organophosphat-Nervenkampfstoffe (OP-NK) sind eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und Sicherheit von Soldaten und Soldatinnen sowie der Zivilbevölkerung – Giftgas-Attacken und Anschläge der letzten Jahre in Syrien, Großbritannien und Russland unterstreichen dies [2][9][11]. Die toxische Wirkung der OP-NK beruht auf der Hemmung der AChE, was zu einem Überschuss an Acetylcholin (ACh) führt [1][6]. Eine daraus resultierende cholinerge Krise kann unbehandelt tödlich verlaufen [5]. Die Behandlung erfolgt derzeit mit einer Kombination aus Oximen (AChE-Reaktivatoren), Atropin (muskarinerger Antagonist) und Diazepam (antikonvulsives Benzodiazepin) [7]. Diese Triple-Therapie ist jedoch nicht für alle OP-NK ausreichend wirksam. Vor allem die verwendeten AChE-Reaktivatoren sind nicht immer effektiv genug (Spektrum der OP-NK und Geschwindigkeit der Reaktivierung). Ferner gibt es immer neue OP-NK, die zum Teil auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz entwickelt werden [10]. Dies zwingt die therapeutische Forschung, neue effektivere Breitspektrum-AChE-Reaktivatoren zu entwickeln. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind innovative Lungen-Testmodelle erforderlich. PCLS bieten als ex vivo-Modell eine vielversprechende Möglichkeit, potenzielle Reaktivatoren effizient und ethisch vertretbar zu untersuchen (Abbildung 1).
Abb. 1: Schematischer Überblick in 5 Stufen: Die Stufen 1–4 reichen von der Ratte zum Präzisionslungenschnitt (Precision-Cut Lung Slice, PCLS). Ab Stufe 5 können sowohl die AChE-Aktivität als auch die Atemwegsfunktionalität bestimmt werden. (Diese Abbildung wurde mit BioRender erstellt.)
Methodik
PCLS-Präparation
Nach der Entnahme der Rattenlunge wird diese über die Trachea mit einer Agarose-Lösung befüllt und anschließend gekühlt gelagert, sodass die Agarose aushärtet. Aus der Lunge werden anschließend Stanzen mit einem Durchmesser von 8 mm präpariert. Diese werden mit einem Krumdieck-Tissue-Slicer in 250 µm dünne PCLS geschnitten, die nach mehreren Wasch- und Inkubationsschritten am Folgetag für Experimente bereit sind. Aus einer Rattenlunge können dabei bis zu 200 PCLS gewonnen werden.
Bestimmung der AChE-Aktivität
Ein modifizierter Ellman-Assay wurde erstmals eingesetzt, um die AChE-Aktivität in intaktem Gewebe zu bestimmen [3][13]. Je 4 PCLS pro Messung wurden erst verschiedenen OP-NK (Sarin, Cyclosarin und VX; je 1 µM) ausgesetzt und dann mit 3 Reaktivatoren behandelt: den Oximen Obidoxim und HI-6 (je 30 µM) sowie dem experimentellen Nicht-Oxim NOX-6 (100 µM). Es erfolgten sowohl kontinuierliche als auch diskontinuierliche Messungen, um die AChE-Aktivität nach den verschiedenen Behandlungen zu bestimmen. Die Farbumschläge wurden photometrisch bei 37°C und 436 nm Wellenlänge über mehr als 30 min quantifiziert, um so die AChE-Aktivität zu messen. Je stärker der Farbumschlag war, desto höher war auch die AChE-Aktivität.
Funktionelle Analyse der Atemwege
Die Auswirkungen von Sarin und Cyclosarin (je 1 µM) sowie der anschließenden Behandlung mit Obidoxim (30 µM) auf die Atemwegsbereiche wurden mittels Videomikroskopie dokumentiert und quantifiziert. Die Messbedingungen wurden analog zu denen der AChE-Aktivitätsbestimmungen gewählt. Änderungen der Atemwegsfläche vor und nach der Exposition sowie nach der Behandlung wurden über mehr als 30 min gemessen und miteinander verglichen.
Ergebnisse
Molekulare Ebene: AChE-Aktivität
Die AChE-Aktivität wurde durch die OP-NK-Exposition stark gehemmt (≤12 ± 2 %). Die Reaktivierung variierte je nach OP-NK und Reaktivator:
- Sarin (GB): Obidoxim 83,0 ± 6,5 %, HI-6 64,4 ± 0,7 %
- VX: Obidoxim 70,7 ± 2,5 %, NOX-6 53,3 ± 3,7 %, HI-6 50,7 ± 1,2 %
- Cyclosarin (GF): Obidoxim 12,0 ± 2,4 %, HI-6 15,4 ± 2,7 %
Die Ergebnisse stehen im Einklang mit bereits veröffentlichten Daten zu isolierter AChE [12]. Dies unterstreicht die Vertrauenswürdigkeit von PCLS als neue Plattform für das Screening von Reaktivatoren.
Funktionelle Ebene: Atemwegsveränderungen
Videomikroskopie-Untersuchungen zeigten nach Exposition der PCLS mit Sarin und Cyclosarin signifikante Verengungen der Atemwege (≤ 13 ± 4 %). Nach Obidoxim-Behandlung öffneten sich die Atemwege, und zwar unterschiedlich stark, je nach OP-NK-Exposition. Beispielsweise wurden Sarin-exponierte Atemwege durch Obidoxim deutlich erweitert (73.6 ± 6.5 %), während Cyclosarin-exponierte Atemwege sich nicht regenerierten.
Korrelation zwischen molekularer und funktioneller Ebene
Die Vergleiche der über 30 min gemessenen Ergebnisse auf molekularer (AChE-Aktivität) und funktioneller (Veränderung der Atemwegsflächen) Ebene wiesen eine starke Korrelation auf, was die Aussagekraft des Modells unterstreicht.
Steigung % der prozentualen AChE-Aktivität:
- Sarin (GB)/Obidoxim (OBI) = 2,8
- Cyclosarin (GF)/Obidoxim (OBI) = 0,3
Steigung % der ursprünglichen Atemwegsfläche:
- Sarin (GB)/Obidoxim (OBI) = 1,9
- Cyclosarin (GF)/Obidoxim (OBI) = 0
Diskussion
Die Ergebnisse zeigen, dass PCLS ein robustes und vielseitiges Modell für die Untersuchung von AChE-Reaktivatoren sind. Der Einsatz von PCLS ermöglicht eine präzisere Untersuchung sowohl auf molekularer als auch auf funktioneller Ebene und reduziert die Anzahl an Tierversuchen. Die Daten bestätigen die Robustheit des Systems. PCLS bieten die Möglichkeit, neue Reaktivatoren effektiv und zuverlässig zu evaluieren. In Zukunft sollte die Nutzung von humanen PCLS (hPCLS) erwogen werden, um zu evaluieren, ob es speziesbezogene Unterschiede gibt; mit hPCLS ließe sich die Anzahl der Tierversuche noch weiter reduzieren.
Fazit
Präzisionslungengewebeschnitte sind ein vielversprechendes Lungen-Modell zur Untersuchung von AChE-Reaktivatoren und tragen zur Reduktion von Tierversuchen bei. Eine besondere Rolle spielt hier das 3R-Prinzip (Reduction, Refinement, Replacement) [8]. Die beobachtete Korrelation zwischen der AChE-Aktivität und der Reaktion der Atemwege legt nahe, dass neben muskarinergen Antagonisten auch Reaktivatoren eine potenzielle Rolle bei der Behandlung der lebensbedrohlichen Atemwegsverengung infolge von OP-NK-Expositionen spielen könnten.
Finanzierung und Förderung
Diese Arbeit wurde unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (GRK 2338, Targets in Toxicology); Projekt P02 (an T.W. und F.W.); F.G. erhielt ein Promotionsstipendium im GRK 2338.
Literatur
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Gölitz F, Herbert J, Worek F, Wille T: Lungengewebeschnitte in der Wehrmedizinischen Toxikologie: Vom „Lungengummibärchen“ zum hochfunktionellen Präzisionslungenschnitt. WMM 2025; 69(1–2): 13-15.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-389
Für die Verfasser
Oberstarzt Prof. Timo Wille
Sanitätsakademie der Bundeswehr
Abteilung Medizinischer ABC-Schutz
Neuherbergstr. 11, 80937 München
E-Mail: timowille@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Gölitz F, Herbert J, Worek F, Wille T: [Lung Tissue Sections in Military Medical Toxicology: from “Lung Gummy Bears” to Highly Functional Precision-Cut Lung Slices] WMM 2025; 69(1–2): 13-15.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-389
For the Authors
Colonel (MC) Prof. Dr. Timo Wille, MD
Bundeswehr Medical Academy
Department for Medical NBC Protection
Neuherbergstr. 11, D-80937 München
E-Mail: timowille@bundeswehr.org
Praktikabilitätstestung der Bakteriophagentherapie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Practicality Assessment of Bacteriophage Therapy at the Bundeswehr Hospital Berlin
Melanie Häfnera, Imke Korfb, Kai Halamac, Werner Wenzeld, Christian Willya
a Bundeswehrkrankenhaus Berlin – Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie
b Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin, ITEM
c Bundeswehrkrankenhaus Berlin – Krankenhausapotheke
d Bundeswehrkrankenhaus Berlin – Abteilung für Mikrobiologie
Zusammenfassung
Am Bundeswehrkrankenhaus Berlin wurde die Praktikabilität der therapeutischen Anwendung von Bakteriophagen im Rahmen individueller Heilversuche getestet. Dazu standen 3 Phagen gegen Pseudomonas aeruginosa zur Verfügung. Vor Behandlungsbeginn wurden Patientenisolate mittels Phagogramm auf Suszeptibilität gegenüber den Phagen getestet. Eine patientenindividuelle Formulierung erfolgte durch die Krankenhausapotheke. Es wurden zehn individuelle Heilversuche durchgeführt. In fünf Fällen konnten mikrobiologische Erfolge verzeichnet werden, wobei es auch zu Rezidiven kam.
Schlüsselwörter: Bakteriophagen, magistrale Herstellung, individueller Heilversuch, Fallserie
Summary
The practicability of the therapeutic use of bacteriophages was tested at the Bundeswehr Hospital in Berlin as part of individual treatment trials. For this purpose 3 phages against Pseudomonas aeruginosa were available. Before starting treatment, patient isolates were tested for susceptibility to the phages using a phagogram. The hospital pharmacy prepared a patient-specific formulation. Ten individual treatment trials were carried out. Microbiological success was recorded in five cases, although recurrences also occurred.
Keywords: bacteriophages; magistral production; individual treatment trial; case series
Einleitung
Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien als ihren Wirt zur Vermehrung nutzen und diese durch Lyse gezielt töten können (lytische Bakteriophagen). Die Bakteriophagentherapie wurde erstmals 1919 klinisch angewendet und erlebte in den 1920er und 1930er Jahren ihre Blütezeit, bevor sie durch Qualitätsprobleme und die Entdeckung von Antibiotika wie Penicillin in der westlichen Welt stark an Bedeutung verlor [3]. In der Sowjetunion hingegen wurde sie insbesondere während des Zweiten Weltkrieges weiterentwickelt und in Ländern wie Georgien und Russland bleibt sie bis heute eine anerkannte Therapieform [1]. In Deutschland konnte sich die Therapie nicht durchsetzen, obwohl es während des Zweiten Weltkrieges und in der DDR Phagenanwendungen gab [4]. Erst seit den 1990er Jahren und intensiver ab 2015 wird die Therapie in Einzelfällen, etwa bei chronischen Infektionen und Infektionen mit multiresistenten Erregern, genutzt. Die Anzahl der Publikationen erfolgreicher Einzelfallbehandlungen mit Bakteriophagen nimmt weltweit stetig zu. Dennoch hat sich die Bakteriophagentherapie in Deutschland noch nicht etabliert, da wichtige regulatorische Hürden bezüglich der Zulassung nicht abschließend geklärt sind.
Auch in der modernen Militärmedizin gewinnen Bakteriophagen zunehmend an Bedeutung, insbesondere im Kontext von Infektionen durch multiresistente Erreger [2]. Soldatinnen und Soldaten sind während Einsätzen häufig in Umgebungen tätig, die ein erhöhtes Risiko für Verletzungen und Infektionen mit sich bringen. Dies ist besonders relevant bei der Behandlung von Schuss- und Explosionsverletzungen, da die Wunden sich in solchen Szenarien leicht mit in den meisten Einsatzgebieten höher prävalenten multiresistenten Bakterien infizieren, gegen die herkömmliche Antibiotika oft nicht mehr wirksam sind [5][6]. Diese Herausforderung zeigte sich in jüngster Vergangenheit auch bei der Behandlung ukrainischer Soldaten im Bundeswehrkrankenhaus Berlin.
Ein wesentlicher Vorteil der Bakteriophagentherapie liegt in ihrer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, da Bakteriophagen gezielt bakterielle Pathogene angreifen und dadurch eine vielversprechende Ergänzung zu bestehenden Behandlungsmöglichkeiten bieten. Durch die patientenspezifische Herstellung von Phagenzubereitungen können Infektionen gezielt behandelt werden. Der gezielte Einsatz kann helfen, Infektionen dort zu bekämpfen, wo Antibiotika versagen, und somit die Genesung fördern sowie die Einsatzbereitschaft wiederherstellen bzw. erhalten. Erste Einzelfall-Anwendungen zeigen, dass Bakteriophagen erfolgreich bei schwierig zu behandelnden Infektionen eingesetzt werden können [7]. Die Nutzung dieser Therapieform erfordert jedoch eine enge Zusammenarbeit zwischen mikrobiologischen Laboren, Krankenhausapotheken und behandelnden Ärztinnen und Ärzten.
Ziel des Forschungsprojektes PhagoFlow war die Untersuchung der Praktikabilität der Bakteriophagenherstellung und -therapie unter den in Deutschland vorhandenen infrastrukturellen Bedingungen unter Einhaltung der aktuellen gesetzlichen Vorgaben. Mittels der Durchführung einer klinischen Fallserie von individuellen Heilversuchen sollten mögliche Hürden identifiziert und Lösungsvorschläge erarbeitet werden. Es handelt sich folglich um keine Studie, in welcher die Sicherheit/Verträglichkeit und Wirksamkeit der Phagen unter Heranziehung einer Vergleichsgruppe getestet wird, sondern um eine Erprobung von Prozessen und der Umsetzbarkeit.
Methodik
Im Rahmen des Konsortialprojektes zwischen dem Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen), dem Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (Fraunhofer ITEM) und dem Bundeswehrkrankenhaus Berlin wurden die in Abbildung 1 vereinfacht dargestellten Prozesse entwickelt und erprobt.
Abb. 1: Übersicht der Projektstruktur des Konsortialprojektes zwischen Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen), Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (Fraunhofer ITEM) und dem Bundeswehrkrankenhaus Berlin (Konsortialführung).
Nach Isolierung, Charakterisierung und Auswahl von Phagen und bakteriellen Wirten durch die DSMZ wurden Phagenwirkstoffe (API) gemäß der mit den Behörden festgelegten Qualitätsstandards durch das Fraunhofer ITEM hergestellt. Es wurden GMP-konforme Freigabetests durchgeführt, um die Identität, Reinheit und den Gehalt der Wirkstoffe zu überprüfen.
Im Bundeswehrkrankenhaus Berlin wurden potenzielle Patientinnen und Patienten auf Eignung für eine Bakteriophagentherapie im Rahmen individueller Heilversuche geprüft. Neben dem Erregerspektrum der Patientenisolate, der Art der Infektion und den bereits erfolgten indikationsgerechten Behandlungsversuchen mussten dabei auch organisatorische Aspekte wie bspw. die Transportfähigkeit der Patienten beachtet werden, um eine Behandlung im Bundeswehrkrankenhaus Berlin zu ermöglichen. Bei Eignung eines Patienten für die Bakteriophagentherapie wurden Erregerproben in domo entnommen oder von extern eingesendet. Je nach Indikation handelte es sich dabei um Abstriche, Gewebe-, Sputum- oder Urinproben. Durch die Abteilung Mikrobiologie erfolgte die Durchführung einer Empfindlichkeitstestung von Patientenisolaten sowohl auf Antibiotika (Antibiogramm) als auch auf die Phagen (Phagogramm). Bei letzterem handelt es sich um ein Plaque-Assay-Verfahren, bei dem eine Phagen-Verdünnungsreihe erstellt und auf eine Agarplatte mit der Bakterienkultur aufgetragen wird. Diese Methode wurde erprobt, standardisiert und etabliert. Sofern mindestens einer der Phagen in vitro eine ausreichende Wirksamkeit zeigte, wurde nach Identifikation der individuellen Anwendungsmöglichkeiten einer Bakteriophagentherapie durch Fachärzte der verschiedenen Fachkliniken gemeinsam mit den Patienten über die Umsetzung der Bakteriophagentherapie entschieden.
Für die magistrale (patientenindividuelle) Formulierung der geeigneten Phagen durch die Krankenhausapotheke wurde ein spezieller Reinraum eingerichtet, der den Anforderungen zur Herstellung steriler Arzneimittel entspricht. Dafür wurden strenge Hygiene- und Dokumentationsmaßnahmen sowie Schulungen und Prüfungen des pharmazeutischen Personals durchgeführt und spezifische Herstellungsanweisungen sowie ein Herstellungsprotokoll entwickelt. Die Zubereitungen als Flüssiglösung wurden individuell für jeden Patienten auf ärztliche Anforderung angefertigt.
Die Applikationsart, -dosis, -häufigkeit und -dauer wurde für jeden Patienten indikationsabhängig, individuell und unter Prüfung der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse gewählt. Es wurde eine Mindestanwendungsdauer von 10 Tagen angestrebt, um Resistenzbildungen zu vermeiden. Der Behandlungserfolg wurde anhand klinischer und mikrobiologischer Aspekte qualitativ bewertet. Eine Vergleichbarkeit zwischen den einzelnen Anwendungen ist nicht möglich.
Ergebnisse
Durch die DSMZ wurden aus 140 Phagen gegen Pseudomonas aeruginosa basierend auf der Analyse des Wirtsspektrums, der genetischen Eigenschaften und der Lysewirksamkeit 3 Phagen für die Produktion ausgewählt. Für die Phagen-APIs wurde durch das Fraunhofer ITEM ein Herstellungsprozess und eine Freigabeanalytik entwickelt, die Anforderungen mit den zuständigen Behörden abgestimmt und die Phagen-APIs nach Herstellung und Freigabe an das Bundeswehrkrankenhaus Berlin ausgeliefert.
Für die Umsetzung der klinischen Fallserie wurden zunächst im Sinne der Praktikabilitätstestung sämtliche unter Methodik beschriebenen Prozesse erprobt, standardisiert und etabliert. Im Zeitraum April 2023 bis September 2024 wurden insgesamt 308 Patientenanfragen bearbeitet. Eine Übersicht der Fallzahlen bietet Abbildung 2.
Abb. 2: Übersicht Fallzahlen der durchgeführten Behandlungsserie:
* 1 Patient wies 2 Infektionslokalisationen aus unterschiedlichen Fachbereichen auf; daher ergibt die Summe nach Fachbereichen aufgeführt 11.
Bei knapp 20 % der Anfragen handelte es sich um Infektionen u. a. mit dem Erreger P. aeruginosa. Auf Basis der Aktenlage und nach Rücksprache mit zuvor behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den betroffenen Patientinnen und Patienten eigneten sich 33 Personen potenziell für eine Bakteriophagenbehandlung im Rahmen eines individuellen Heilversuchs. Es handelte sich ausnahmslos um hochkomplexe klinische Fälle, bei denen überwiegend bereits mehrere erfolglose Therapieversuche unternommen wurden. Für die Patientenisolate der Betroffenen wurden Phagogramme für den Erreger P. aeruginosa durchgeführt. In 18 Fällen zeigte keiner der 3 Phagen eine ausreichende in vitro-Wirksamkeit. Nach festgestellter in vitro-Wirksamkeit von mindestens einem der Phagen konnten zehn Patienten durch vier verschiedene Fachabteilungen des Bundeswehrkrankenhauses Berlin behandelt werden. Dazu wurden durch die Krankenhausapotheke individuell Phagenzubereitungen entsprechend der zuvor im Phagogramm ermittelten Wirktiter formuliert. In 5 Fällen konnte nach der Behandlung mikrobiologisch der Zielerreger nicht mehr nachgewiesen werden, wobei im Verlauf in einigen Fällen Rezidive auftraten. In einem Fall konnte nachhaltig (Follow-Up über 9 Monate) sowohl eine mikrobiologische als auch eine klinische Heilung erzielt werden.
Diskussion
Die Bakteriophagentherapie bietet eine vielversprechende Möglichkeit, im Falle von Antibiotikaresistenzen oder bei schwer therapierbaren Infektionen bakterielle Infektionen gezielt zu behandeln. Sie steht jedoch vor zahlreichen Herausforderungen, die ihre breite Anwendung im klinischen Alltag bisher erschweren.
Die bisherigen klinischen Erfahrungen zeigen, dass die Bakteriophagentherapie gute Ergebnisse bei einzelnen Patienten erzielen konnte. Einige der Behandlungserfolge können direkt auf die Phagenanwendung zurückgeführt werden, während in anderen Fällen der klinische Erfolg durch zusätzliche Maßnahmen unterstützt wurde. Dennoch blieb der mikrobiologische Erfolg insgesamt hinter den Erwartungen zurück. Gründe hierfür liegen möglicherweise in der Darreichungsform der Phagen als Flüssigmedium, das insbesondere bei chronischen Wunden eine kürzere Kontaktzeit mit den Bakterien bietet. Auch die Anwendungsdauer könnte in einigen Fällen zu kurz gewesen sein, um eine nachhaltige Keimreduktion zu erreichen. Komplexe anatomische Gegebenheiten bei bestimmten Patienten, wie Blasendivertikel, sorgten für erschwerte Anwendungsbedingungen. Zudem handelte es sich bei allen eingeschlossenen Patienten um komplexe Fälle, bei denen überwiegend bereits mehrere erfolglose konventionelle Therapieversuche unternommen worden waren. In einigen Fällen bestand nach Therapieende keine in vitro-Suszeptibilität mehr, was eine Resistenzbildung vermuten lässt. Dennoch ist hervorzuheben, dass keine Nebenwirkungen oder Komplikationen im Zusammenhang mit der Phagenanwendung beobachtet wurden.
Die derzeitigen Anforderungen an die Herstellung von Phagen erfordern einen zeitaufwändigen Prozess, was zu einem Mangel an verfügbaren Phagen in diesem Projekt geführt hat. Um die Phagentherapie vielen Patienten zugänglich zu machen, müssen die Produktions- und Sensitivitätsprüfungskapazitäten erweitert werden. Die Phagenherstellung ist derzeit stark von projektgebundener Finanzierung abhängig und es fehlen nachhaltige Finanzierungsmodelle, da in Apotheken hergestellte magistrale Phagenpräparate nicht kommerziell vertrieben werden dürfen. Eine entscheidende Maßnahme wäre daher eine klare gesundheitspolitische Einordnung dieser Therapieform, einschließlich einer Vergütung der Herstellung über Zusatzentgelte im sogenannten NUB-Verfahren. Zudem sollten Regierung und Gesundheitseinrichtungen die Forschung finanziell unterstützen, standardisierte Herstellungs- und Anwendungsprotokolle entwickeln und klinische Studien fördern.
Die bestehenden Phagensammlungen, Produktionsbetriebe und die Anzahl der durchführbaren Phagogramme pro Zeiteinheit reichen derzeit nicht aus, um die Bakteriophagentherapie in eine Regelversorgung zu überführen. Ein Ausbau der Infrastruktur sowie die Schaffung klarer regulatorischer Rahmenbedingungen sind entscheidend. Pharmazeutische Unternehmen oder Krankenhausapotheken müssten in der Lage sein, Phagen herzustellen und diese mit den Krankenkassen abzurechnen, um die Finanzierung nachhaltig zu sichern.
Ein wesentlicher Engpass besteht in den infrastrukturellen und personellen klinischen Ressourcen. Die klinische Behandlungsplanung und -durchführung erfordert aufgrund der Komplexität der Patientenfälle zusätzliches geschultes Personal in klinischen Einrichtungen. Die Administration und Koordination zahlreicher Patientenanfragen sowie klinikinterner Abläufe erfordern spezialisiertes Personal, das derzeit nicht ausreichend zur Verfügung steht. Im Projektzeitraum konnte kein Therapieansatz innerhalb von zwei Wochen nach der ersten Probenentnahme – wie ursprünglich angestrebt – realisiert werden. Verzögerungen entstehen vor allem durch die aufwendige Suszeptibilitätstestung der Bakterienisolate (Phagogramm), die essenziell für die Therapie ist und ebenfalls geschulte Kräfte benötigt, sowie logistische Hürden im Klinikbetrieb. Erst nach Koordinationsanpassungen war ein Beginn der Therapie innerhalb von ca. zwei bis vier Wochen möglich. Um diese Prozesse zu beschleunigen, wären eine bessere Integration der Bakteriophagentherapie in die mikrobiologische Routine, der Zugang zu fertigen Phagencocktails sowie eine zentrale Koordination der Isolierung und Charakterisierung von Phagen erforderlich. Eine zentrale Anlaufstelle zur Koordination und Kommunikation zwischen den beteiligten Institutionen ist notwendig, um den Prozess effizient zu gestalten.
Fazit
Bei derzeitiger Beurteilung zeigt die Bakteriophagentherapie großes Potenzial als zusätzliche Behandlungsmethode im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen und könnte in Zukunft insbesondere bei schwer behandelbaren Infektionen eine bedeutende Rolle im deutschen Gesundheitswesen spielen. Dafür sind jedoch erhebliche gesundheitspolitische Anstrengungen erforderlich, die Forschung, Entwicklung und klinische Anwendung gleichermaßen fördern. Eine koordinierte Strategie, die auf den Ausbau der Produktionskapazitäten, die Einführung standardisierter Verfahren und die Schulung medizinischen Personals setzt, ist notwendig, um diese Therapieform flächendeckend verfügbar zu machen und ihr Potenzial vollständig auszuschöpfen. Nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft und Gesundheitseinrichtungen kann die Bakteriophagentherapie zu einer festen Säule im Kampf gegen multiresistente Keime werden.
Literatur
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Förderung
Teile dieser Arbeit wurden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (Fördernummer 01VSF18049) gefördert.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Häfner M, Korf I, Halama K, Wenzel W, Willy C: Praktikabilitätstestung der Bakteriophagentherapie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin. WMM 2025; 69(1–2): 16-19.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-391
Für die Verfasser
Lt (SanOA) Melanie Häfner, M.Sc.
Bundeswehrkrankenhaus Berlin
Klinik XIV – Unfallchirurgie und Orthopädie
Scharnhorststr. 13, 10115 Berlin
E-Mail: melaniehaefner@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Häfner M, Korf I, Halama K, Wenzel W, Willy C: [Practicality Assessment of Bacteriophage Therapy at the Bundeswehr Hospital Berlin] WMM 2025; 69(1–2): 16-19.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-391
For the Authors
Lieutenant (MC) Melanie Häfner, M.Sc.
Bundeswehr Hospital Berlin
Department of Trauma Surgery and Orthopedics
Scharnhorststr. 13, D-10115 Berlin
E-Mail: melaniehaefner@bundeswehr.org