Sachstand zur Entwicklung des Near Real Time Surveillance-Tool des NATO Military Medicine Centre of Excellence
Status of the Development of the NATO Military Medicine Centre of Excellence Near Real Time Surveillance Tool
Silke Ruhla, Mate Tótha, Claudia Biendla
a NATO Military Medicine Centre of Excellence, Force Health Protection Branch, München
Zusammenfassung
Die Force Health Protection Branch (FHPB) des NATO Military Medicine Centre of Excellence und andere Subject Matter Experts (SMEs) haben in den letzten Jahren eine technische Lösung für das Sammeln „aktueller Krankheitsüberwachungsdaten in Echtzeit“, sog. „Near Real Time Surveillance (NRTS)“ für alle NATO-Einsätze entwickelt. Die Fähigkeit einer Früherkennung von Krankheitsausbrüchen und damit die Eindämmung der Weiterverbreitung von Infektionskrankheiten bei eingesetztem Personal fehlt der NATO bislang.
Das Aufgabenfeld ist in der Allied Medical Publication – 4.1 (AMedP-4.1), Deployment Health Surveillance (STANAG 2535, neueste Version: Edition A Version 2) verankert. Der Prototyp des Systems wurde erstmals im Jahr 2020 auf einer COMEDS (Committee of the Chiefs of Military Medical Services) -Sitzung vorgestellt und anschließend bei mehreren Übungen wie der „Coalition Warrior Interoperability Exercise“ (CWIX 2021–2024) und der „Clean Care Übung“ (2022) getestet, wo es gute Ergebnisse erzielte. Seitdem hat das NRTS-Tool diverse weitere Entwicklungsphasen durchlaufen.
Auch die Nutzung des Tools während der kombinierten Übung „Vigorous Warrior Exercise“ und „Clean Care Exercise“ im Mai 2024 verspricht weitere Erfolge. Bei dieser Übung handelt es sich um die größte medizinische Übung innerhalb der NATO. Durch die Kombination mit der parallel stattfindenden Clean Care Exercise können bei dieser Übung somit auch Anschläge durch ABC-Kampfstoffe identifiziert und untersucht werden. Die Erfahrungen der vorangegangenen Übungen und die daraus resultierenden Entwicklungen ermöglichten den Einsatz des NRTS-Tools als Live-Pilot im KFOR-Einsatz der NATO von November 2022 bis April 2023, wobei der JMED/Präventivmedizin-Offizier bei der Halbzeitevaluierung nach zweimonatigem Einsatz des Tools die Ausweitung des Projekts auf die Gesundheitseinrichtungen des gesamten Einsatzgebiets beantragte. Das Programm wurde anschließend auch in der Ausbildungsmission der Europäischen Union in Somalia (EUTM SOMALIA) von Juni bis Dezember 2023 getestet. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass das NRTS-Tool wie beabsichtigt funktioniert und somit den JMED/Präventivmedizin-Offizieren ein bisher unerreichtes Situationsbewusstsein über die Gesundheitstrends in den Einsätzen bietet, um informierte Entscheidungen zu treffen und einen effektiven Gesundheitsschutz zu ermöglichen.
Schlüsselwörter: Near Real Time Surveillance, Ausbruchsfrüherkennung, Situationsbewusstsein, technische Lösung, Entwicklung
Summary
NATO´s Centre for Excellence for Military Medicine, Force Health Protection Branch (FHPB), and other subject matter experts (SMEs) have developed a technical solution for NATO’s long-missing requirement of collecting up-to-date disease surveillance data in deployment, as this task is clearly defined in AMedP-4.1, Deployment Health Surveillance (STANAG 2535, most recent version: Edition A Version 2) as one belonging to the FHPB. The tool has gone through many development phases, with a prototype version debuting on the winter session of COMEDS, in 2020 and performing well on the Coalition Warrior Interoperability Exercise (CWIX) on multiple occasions and the Clean Care 2022 Exercise as well. Based on these experiences and resulting development, the tool has been running as a live pilot in deployment in NATO’s KFOR mission from November 2022 for six months, where at the half-time evaluation, after 2 months of using the tool, the JMED/Preventive Medicine Officer has requested the extension of the project to cover practically the entire mission. The tool was also tested in the European Union’s Training Mission in Somalia (EUTM Somalia) in June 2023 for seven months. The findings during the pilots indicate that the tool performs as intended and offers unprecedented situational awareness to the JMED/Preventive Medicine SO level.
Keywords: near real time surveillance; outbreak prevention; situational awareness; technical solution; development
Hintergrund
Auf dem NATO-Gipfel 2002 in Prag wurde der akute Bedarf an einer Fähigkeit zur stationären Gesundheitsüberwachung und insbesondere einer NATO-weiten Fähigkeit zur medizinischen Überwachung von Krankheitsausbrüchen nahezu in Echtzeit (Near Real Time) festgestellt [4]. In den folgenden Jahren wurden mehrere Tests und Experimente mit verschiedenen nationalen Systemen (wie PRISM (GBR) oder ASTER (FRA)) durchgeführt [1][3]. Absicht war es, diese Systeme in die vorhandenen oder geplanten Informationssysteme der NATO zu integrieren. In Anbetracht der erfolgreichen Durchführung der Near Real Time-Überwachungs-Experimentreihe 2006–2010 unterstützte das Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO (COMEDS) die Implementierung einer Deployment Health Surveillance Capability (DHSC) für die NATO in München. Diese Institution hat den klaren Auftrag, Überwachungssysteme (z. B. ein NATO-weites Near Real Time Surveillance System) zu entwickeln. Die Deployment Health Surveillance Capability (seit 2019 umbenannt in Force Health Protection Branch) wurde zunächst als Außenstelle innerhalb der Abteilung Präventivmedizin im Sanitätsamt der Bundeswehr geschaffen, um 2011 als Außenstelle in das NATO Military Medicine Centre of Excellence, Budapest, integriert zu werden. Dennoch geriet die Entwicklung und Integration des NATO-weiten Near Real Time Surveillance-Systems ins Stocken, weil die allumfassenden medizinischen Informationssysteme des Bündnisses in Entwicklungszyklen steckengeblieben sind. Das jüngste Projekt mit der Bezeichnung „Enablement Support Services (ESS) MEDSUITE“ wird derzeit durch Allied Command Transformation (ACT) weiterentwickelt und in den nächsten Jahren ausgebaut. Wann genau die Entwicklung bzw. Einführung des im ESS MEDSUITE geplanten Surveillance-Tools geplant ist, kann derzeit noch nicht genau benannt werden.
Als Überbrückung wurde deshalb im Jahr 2020 die Entwicklung eines NATO Surveillance-Systems (Near Real Time Surveillance-Tool; NRTS) durch das NATO Centre of Excellence for Military Medicine (NATO MilMed CoE, welches auch das einzige in der NATO mandatierte Health Surveillance-Tool EpiNATO-2 betreibt, wiederbelebt [2]. Dies war unter anderem eine Reaktion auf die Feststellung, dass EpiNATO-2 aufgrund seines wöchentlichen Meldeintervalls nicht schnell genug ist, um einen Ausbruch oder das Vorliegen einer Infektionskrankheit bzw. die vorsätzliche Freisetzung eines infektiösen Pathogens zu erkennen. Seit den letzten Experimenten zur Einführung eines Near Real Time Surveillance-Tools im Jahre 2010 gab es außerdem erhebliche Verbesserungen bei den Softwareanwendungen, die die Entwicklung eines Near Real Time Surveillance-Tools einfacher machten als die früheren Versionen ähnlicher Tools. Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die Entwicklung des Near Real Time Surveillance-Tools des NATO MilMed CoE vorzustellen und einen Überblick der aktuellen Situation und zukünftig geplante Nutzung zu geben.
Kurzer Überblick über das Near Real Time Surveillance-Tool
Das System ist in der Lage, Gesundheitsdaten standardisiert zu empfangen oder sich mit ihnen direkt zu verbinden (z. B. über Application Programming Interfaces, API). Die Tests dazu wurden während den Coalition Warrior Interoperability Exercise (CWIX) -Übungen 2021, 2022 und 2023 durchgeführt. Unter anderem wurde dabei auch die Verbindung zu nationalen Patientenmanagementsystemen (im NATO-eigenen SENSOR-Nachrichtenformat) getestet.
Die Near Real Time Surveillance-App ist das Dateneingabeelement des NRTS-Tools. Es läuft auf jedem internetfähigen Gerät, wie einem Smartphone, Tablet oder Computer. Die App erfragt lediglich die ID der medizinischen Behandlungseinrichtung, Uhrzeit/Datum sowie Symptome und Anzeichen, die mit einer Infektion/vorsätzlicher Freisetzung von Kampfstoffen in Zusammenhang stehen. Dazu werden die aktuellen Symptome aus einer systemseitig vorgegebenen Liste von 40 Symptomen ausgewählt (Tabelle 1).
Tab. 1: Symptom-Liste des NATO Near Real Time Surveillance-Tool
Die Daten werden von dem Arzt, der den Patienten zuerst untersucht, in die App eingegeben. Dabei wählt der Arzt die Hauptsymptome des Patienten in der App aus. (Abbildung 1). Die in der medizinischen Behandlungseinrichtung gesammelten Symptome werden erfasst und eventuelle Muster erkannt. Wenn bestimmte Symptommuster detektiert werden, kann eine systemseitige Alarmierung generiert werden, die es dem medizinischen Team ermöglicht, frühzeitig Untersuchungen oder Präventivmaßnahmen einzuleiten. Dadurch kann ein möglicher Infektionsausbruch schnell erkannt, eingedämmt oder sogar verhindert werden.
Abb. 1: Screenshot des NATO Near Real Time Surveillance-Eingabetool mit Symptomen und integrierter EpiNATO-2-Eingabe
Die Analyse steht allen medizinischen Behandlungseinrichtungen und dem JMED-Team im Einsatz sowie der Force Health Protection Branch des NATO MilMed CoE zur Verfügung, welches in diesem Fall eine Aufsichts- und Koordinierungsfunktion hat. Das Auswertetool verfügt über verschiedene Analyseebenen, von einfachen Zählungen bis hin zu umfassenderen Informationen, z. B. Daten aus anderen Quellen wie zivilen globalen Gesundheitsüberwachungsdatenbanken (Abbildungen 2 und 3).
Abb. 2: Screenshot NATO Near Real Time Surveillance-Analysetool
Abb. 3: NATO Near Real Time Surveillance-Analysetool für integrierte EpiNATO-2-Daten
In der App werden keine patientenidentifizierbaren Informationen erfasst. Die einzigen gesammelten Informationen sind die ID der medizinischen Behandlungseinrichtung, die Uhrzeit und das Datum sowie alle Symptome/Anzeichen, mit denen der Patient vorstellig wurde.
Das Tool hat bereits mehrere Entwicklungsphasen durchlaufen, wobei eine Prototypversion in der Wintersitzung von COMEDS im Jahr 2020 debütierte und bei der Coalition Warrior Interoperability Exercise (CWIX) 2021–2024 sowie auch in der Live Exercise bei der Clean Care Exercise 2022 gut abgeschnitten hat. Basierend auf diesen Erfahrungen und der daraus resultierenden Weiterentwicklung wurde das Tool von November 2022 bis Mai 2023 als Live-Pilot im Einsatz in der KFOR-Mission der NATO getestet. Der JMED/Präventivmedizin-Offizier beantragte bei der Halbzeitevaluierung, bereits zwei Monate nach der Nutzung des Tools, die Ausweitung des Projekts auf das gesamte KFOR-Einsatzgebiet und bat um eine dreimonatige Verlängerung der Nutzung.
Die Evaluierung im Kosovo wurde zu zwei Zeitpunkten durchgeführt und bestand jeweils aus einer Datenanalyse und halbqualitativen Interviews mit Schlüsselinformanten aus jeder teilnehmenden medizinischen Behandlungseinrichtung und des JMED-Teams [2].
Die Evaluierung ergab, dass die App nutzerfreundlich und einfach zu bedienen war. Die systemseitige Symptomliste wurde als umfassend und ausreichend beschrieben. Das Analysetool dagegen wurde von den medizinischen Behandlungseinrichtungen nicht regelmäßig angesehen oder verwendet, wohingegen das JMED-Team es häufig nutzte. Die Alarmierungen zum Vorliegen eines potenziellen Ausbruchs einer Infektionskrankheit wurden sowohl von den medizinischen Behandlungseinrichtungen als auch vom JMED-Team als äußerst wichtig erachtet.
Weiterhin wurde erörtert, dass die App auch eine geeignete und einfache Möglichkeit zur Meldung von EpiNATO-2-Daten sei. Würde EpiNATO-2 zukünftig in die Datenerfassungs-App eingebunden werden, wäre es möglich, sowohl EpiNATO-2- als auch Near Real Time Surveillance-Daten an einem Ort zur selben Zeit zu sammeln. Damit würde dem Eingabepersonal ein Arbeitsschritt abgenommen werden.
Als Fazit lässt sich sagen, dass das KFOR-Pilotprojekt eine ausgezeichnete Gelegenheit bot, das Tool in einer NATO-Mission zu testen und mit den gewonnenen Erfahrungen für zukünftige Einsätze zu verbessern. Im Anschluss an die KFOR-Pilotphase wurde das Tool von Juni 2023 bis Januar 2024 im EUTM-Einsatz Somalia genutzt, wo es ebenfalls mit guten Ergebnissen überzeugen konnte.
Für die weitere Entwicklungsphase des Systems ist nun die Erprobung mit nationalen Systemen beabsichtigt. Dafür werden NATO-Nationen gesucht, die das System in ihren militärischen Gesundheitseinrichtungen testen. Die Dateneingabe kann separat über ein Tablet erfolgen oder durch direkte Einbindung in die nationale Patientendokumentation gewährleistet werden.
Aspekte der Datensicherheit
Die Software läuft in der Microsoft 365-Cloud, die die Authentifizierung und Verschlüsselung von der Dateneingabe bis zur Analyse übernimmt (derzeit OAuth2, Benutzername+Pass). Die Dateneingabe erfolgt über ein angepasstes PowerApps-Formular, das derzeit auf einem zentral verwalteten Tablet (Sophos Mobile) ausgeführt wird, das entweder sofort Daten sendet oder Einträge zwischenspeichert, bis eine kabelgebundene oder drahtlose Internetverbindung verfügbar ist. Das System kann auch auf bereits vorhandener Hardware ausgeführt werden, die die Sicherheitsanforderungen erfüllt.
Die Daten werden verschlüsselt an SharePoint übertragen, wo Listen als Fakten- und Dimensionstabellen verwendet werden. Der Power BI Online Service wird verwendet, um die Daten automatisch zu verarbeiten und zu analysieren.
Endnutzern wurden Tablets zur Dateneingabe zur Verfügung gestellt, auf denen sie eine eingeschränkte Sicht auf die Analyse der eigenen Daten sowie gemeldeten Daten im gleichen Camp haben. Diese Tablets verfügen über Sicherheitseinstellungen wie z. B. Sperrung durch Passwörter/PINs und der freien Internetnutzung, Update und Sperrung durch die Möglichkeit der Fernwartung.
Die Zugriffsrechte auf die dargestellten Daten in Power BI werden zentral durch das NATO Centre of Excellence for Medical Medicine gesteuert und verwaltet.
Der Datenschutz ist gewährleistet, da ausnahmslos klinische Daten der Patienten erfasst werden, keine personenbezogenen oder sonstigen sensiblen Daten.
Das Near Real Time Surveillance-System ähnelt seitens der Datenerhebung dem in der NATO eingeführten Surveillance System EpiNATO-2. Es werden dabei sogar weniger Informationen als bei EpiNATO-2 erhoben, weshalb es auch möglich ist, dieses System im „NATO UNCLASSIFIED“ System zu betreiben.
Der modulare Aufbau des Systems ermöglicht den Einsatz in mehreren Szenarien:
- Das gesamte System kann eigenständig verwendet werden, einschließlich Dateneingabe, -speicherung und -pflege, -analyse und -warnungen.
- Alternativ kann die Dateneingabe aus einem nationalen System erfolgen (z. B. digitale Patientendokumentation). Dann werden durch das NRTS nur die benötigten anonymisierten Daten erfasst und zur Auswertung übermittelt.
Bisherige Ergebnisse und Ausblick
Das Near Real Time Surveillance-Tool hat das Potenzial, die auf dem Prager Gipfel im Jahr 2002 formulierte Forderung nach einer Gesundheitsdatenüberwachung in nahezu Echtzeit zu erfüllen. Gegenwärtig kann diese Fähigkeit nur als Zusatz zu den Patientenaufzeichnungssystemen bereitgestellt werden, da viele Nationen immer noch nur über eine Papierdokumentation im Gesundheitswesen verfügen. Mit dem Aufkommen neuer elektronischer Patientenakten kann das Near Real Time Surveillance-Tool jedoch auch Daten aus der elektronischen Patientendokumentation (ePR-Systemen) empfangen, sodass keine zusätzliche Dateneingabe durch die medizinische Behandlungseinrichtung erforderlich ist. Dies wurde ebenfalls in den letzten drei Jahren bei NATO Coalition Warrior Interoperability Exercise (CWIX)-Übungen getestet und hat sich bewährt.
In der aktuellen überarbeiteten Version des Tools (2024) wurden bereits die EpiNATO-2-Meldungen integriert, sodass für alle Erstvorstellungen zuerst eine EpiNATO-2- Datenerfassung und anschließend die Eingabe der Symptome für das Near Real Time Surveillance-Tool erfolgt. Damit wurde die Dateneingabe für den Nutzer vereinfacht und die EpiNATO-2-Dateneingabe vollautomatisiert.
Es wird davon ausgegangen, dass das Near Real Time Surveillance-Tool nach weiteren Verbesserungen, insbesondere des Alarmsystems, in naher Zukunft voll einsatzfähig und im Deployment Health Surveillance-Tool EpiNATO-2 integriert sein wird. Dies ermöglicht der NATO, zeitnahe und längerfristige Planungsinformationen zur Verfügung zu stellen. Außerdem kann es den Befehlshabern mehr Sicherheit geben, medizinische Informationen zu nutzen, die für die Erkennung von Krankheitsausbrüchen nötig sind, um die eingesetzten Soldatinnen und Soldaten besser vor Erkrankungen zu schützen.
Die Bundeswehr plant langfristig, das Near Real Time Surveillance-Tool in der Brigade Litauen einzusetzen. Derzeit liegt bereits ein Antrag für eine Pilotierung während der Enhanced Forward Presence (eFP) in Litauen vor, um das Tool möglicherweise dann im Anschluss in der Brigade Litauen zu übernehmen. Die niederländische NATO-Partnernation wird das Near Real Time Surveillance-Tool in Litauen ab Mai dieses Jahres ebenfalls als Pilotprojekt einsetzen.
Kernaussagen
Das Near Real Time Surveillance-Tool
- ist das erste Near Real Time Surveillance-System, welches NATO Unclassified betrieben werden kann,
- zeichnet sich durch app-basierte Dateneingabe, einfache Handhabung und schnelle Datenübertragung aus,
- stellt ein Analysetool zur schnellen Identifikation und Verifizierung möglicher Krankheitsausbrüche zur Verfügung,
- ermöglicht eine automatische systemseitige Alarmgenerierung bei Überschreiten des gesetzten Schwellenwertes sowie
- die schnellstmögliche Einleitung von frühzeitigen Erhebungsuntersuchungen sowie Präventionsmaßnahmen.
Literatur
- Caserio-Schönemann C, Meynard JB: Ten years experience of syndromic surveillance for civil and military public health, France, 2004-2014. Eurosurveillance 2015; 20(19): 21126. mehr lesen
- Lindfield R, Biendl C, Tóth M, Ruhl S: Findings from a Pilot of a Near Real Time Disease Surveillance Tool on the NATO-Mission in Kosovo, Preprint Paper., letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
- Meynard JB, Chaudet H, Green AD, et al:: Proposal of a framework for evaluating military surveillance systems for early detection of outbreaks on duty areas. BMC Public Health 2008; 8: 146. mehr lesen
- NATO: Prague Summit Declaration. , letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
- Tóth M: NATO Near Real Time Surveillance Point Paper by the NATO Centre for Excellence for Medical Medicine. , letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Funding Statement
Diese Arbeit wurde in vollem Umfang von den NATO-Staaten finanziert, die im Steering Committee des NATO Military Medicine Centre of Excellence vertreten sind.
Bildquellennachweis
Alle Bilder wurden direkt aus dem Near Real Time-Eingabe- oder -Analysetool genommen und sind Eigentum des NATO MILMED COE.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Ruhl S, Tóth M, Biendl C: Sachstand zur Entwicklung des Near Real Time Surveillance-Tool des NATO Military Medicine Centre of Excellence. WMM 2024; 68 (06): 277-282.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-308
Für die Verfasser
Oberfeldveterinär Dr. Silke Ruhl, MSc PH
NATO Centre of Excellence for Military Medicine
Force Health Protection Branch
Dachauer Straße 128, 80536 München
E-Mail: silkeruhl@bundeswehr.org; Fhpb.bc@coemed.org">Fhpb.bc@coemed.org
Manuscript Data
Citation
Ruhl S, Tóth M, Biendl C: [Status of the Development of the NATO Military Medicine Centre of Excellence Near Real Time Surveillance Tool]. WMM 2024; 68(6): 277-282.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-308
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC,Vet) Dr. Silke Ruhl, MSc PH
NATO Centre of Excellence for Military Medicine
Force Health Protection Branch
Dachauer Straße 128, D-80536 München
E-Mail: silkeruhl@bundeswehr.org; Fhpb.bc@coemed.org">Fhpb.bc@coemed.org
Abwasserbasierte Infektionsepidemiologie – manchmal muss man für Innovationen auch im Trüben fischen
Wastewater Based Epidemiology (WBE) - Sometimes you have to Fish in Muddy Waters to Innovate
Dimitrios Frangoulidisb, Rudolf Markta, Daniela Barthb, Matthias Frankb, Gerd Großmannb, Alexander Zieglerb, Katalyn Roßmannb, Carsten Balczunc, Sebastian Albrechtb
a Fachhochschule Kärnten, Fachbereich Gesundheit und Soziales, Klagenfurth am Wörthersee, Österreich
b Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, Referat VI 2 – Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung, München
c Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Abteilung XXI – Mikrobiologie und Krankenhaushygiene
Zusammenfassung
Abwassermonitoring, eine Methodik, um die Zusammensetzung und Qualität von Abwasser zu analysieren, ist eine revolutionäre Methode, deren Ergebnisse es ermöglichen, Einblicke in die öffentliche Gesundheit und Umweltbelastungen auf Ebene einer Gemeinschaft (z. B. Stadt, Kaserne, Schiff) zu gewinnen, die durch herkömmliche Verfahren nicht möglich wären. Die COVID-19-Pandemie hat das Potenzial dieser Technik deutlich gemacht, indem sie eine kosteneffiziente, umfassende und zeitnahe Überwachung der Virusverbreitung ermöglichte. Trotz der Herausforderungen in Bezug auf Dateninterpretation, Spezifität und Ressourcenaufwand bietet das Abwassermonitoring eine vielversprechende Perspektive für die zukünftige Überwachung und Kontrolle von Infektionskrankheiten sowie für die Bewertung von Umweltbelastungen. Dies ist damit ganz im Sinne des sog. One Health-Ansatzes der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in dem verschiedene Sektoren zusammenarbeiten, um bessere Ergebnisse in Bezug auf die öffentliche Gesundheit zu erreichen.
Abgeleitet aus diesen Möglichkeiten im Bereich der zivilen Gesundheitsüberwachung zeigte sich auch, dass im militärischen Kontext von Einsätzen der Gesundheitsschutz aller Soldatinnen und Soldaten (sog. Force Health Protection (FHP)) enorm vom Abwassermonitoring bzw. der abwasserbasierten Infektionsüberwachung auf SARS-CoV-2 profitieren konnte und kann. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr – federführend durch das Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (KdoSanDstBw), Referat VI 2, Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung – hat seit 2020 auch im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit (ZMZ) in zahlreichen Projekten viele wertvolle Erfahrungen sammeln und die Bedeutung und Vorteile der Methode ständig weiterentwickeln und erweitern können. Die weltweit erstmalige Durchführung bzw. Anwendung eines SARS-CoV-2-Abwassermonitorings in einem Auslandseinsatz in einem Feldlager in Gao, Mali, von 2021 bis 2023 ist nur ein Beispiel dafür. Mittlerweile ist die Bundeswehr durch KdoSanDstBw VI 2 und ausgewählten Diagnostikeinrichtungen im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz (Abteilung XXIB) und des Instituts für Mikrobiologie der Bundeswehr (InstMikroBioBw), München, sowohl im Betrieb als auch bei der Weiterentwicklung der abwasserbasierten epidemiologischen Überwachung von Infektionserregern inhaltlich, fachlich und methodisch ein national und international anerkannter Partner. Damit verbunden ist auch eine wichtige konzeptionelle Weiterentwicklung der Fähigkeit Gesundheitsschutz/FHP in der Bundeswehr im Allgemeinen bzw. auch der sog. Zelle Gesundheitsschutz/FHP der zukünftig in Litauen stationierten deutschen Brigade (Brig LTU), die dann das Element des Abwassermonitorings von Beginn an enthalten soll.
Das abwasserbasierte Monitoring auf Infektionserreger hat somit die einzigartige Qualität Epidemiologie vorausschauend, regelmäßig, aktuell und populationsbezogen zu erfassen und damit sowohl präventiv als auch im Bereich der Bekämpfung bzw. Eindämmung von Geschehnissen im Rahmen des Ausbruchsmanagements eine neue Qualitätsebene des Gesundheitsschutzes/FHP unter Berücksichtigung des One Health-Ansatzes der WHO zu ermöglichen.
Schlüsselwörter: SARS-CoV-2 Abwassermonitoring, Epidemiologie, COVID-19, Ausbruchsfrüherkennung, Gesundheitsschutz/Force Health Protection (FHP), One Health
Summary
Wastewater monitoring, a methodology that allows the analyzation of composition and quality of wastewater, is a revolutionary method providing insights into public health and environmental pollution at the community level (e.g. city, barracks, ship) that would not be possible using conventional methods. The COVID-19 pandemic has highlighted the potential of this technology by enabling cost-effective, comprehensive and timely monitoring of the virus spread. Despite the challenges in terms of data interpretation, specificity and resource requirements, wastewater monitoring offers a promising perspective for the future surveillance and control of infectious diseases as well as for the assessment of environmental pollution. This is fully in line with the World Health Organization’s (WHO) One Health approach, in which different sectors work together to achieve better public health outcomes.
Derived from these possibilities in the field of civilian health monitoring, however, it has also been shown that in the military context of deployments, the health protection of all soldiers (Force Health Protection (FHP)) could and can benefit enormously from wastewater monitoring repectively wastewater based epidemiology (WBE) and surveillance on SARS-CoV-2.
Since 2020, the Bundeswehr Medical Service (under leadership of Bundeswehr Medical Service Headquarters, Branch VI 2 – Medical Intelligence and Information) could gain a wide spectrum of valuable experience in numerous projects, even within the framework of civil-military cooperation (CIMIC), and has been able to continuously develop and expand the importance and advantages of the method. The world’s first implementation respectively application of SARS-CoV-2 wastewater monitoring in a foreign assignment in a field camp in Gao, Mali, from 2021 to 2023, is just one example. The Bundeswehr is now a nationally and internationally recognized partner in terms of content, expertise and methodology in the operation and further development of WBE monitoring of infectious pathogens through Bundeswehr Medical Service Headquarters, Branch VI 2 and selected diagnostic facilities at the Bundeswehr Central Hospital Koblenz (Department XXIB) and the Bundeswehr Institute of Microbiology (BwIM) in Munich. This is also associated with an important conceptual development of the FHP capability in the Bundeswehr in general and in the future also in the Cell FHP of the German Brigade stationed in Lithuania (Brig LTU), which will include the element of wastewater monitoring from the outset. Taking into account the WHO’s One Health approach, wastewater-based monitoring for infectious agents has the unique quality of recording epidemiology in an anticipatory, regular, up-to-date and population-related manner, thus enabling a new quality level of health protection and FHP both preventively and in the area of combating or containing incidents as part of outbreak management.
Key Words: SARS-CoV-2 Wastewater Monitoring; Surveillance; Epidemiology; COVID-19; Outbreak prevention; Force Health Protection/FHP; One Health
Hintergrund
Prinzip des Abwassermonitorings
Das Prinzip des Abwassermonitorings basiert auf der systematischen und regelhaften Überwachung und der Analyse von Abwasserproben, um biologische oder chemische Markersubstanzen zu identifizieren und zu quantifizieren. Systematische Überwachung bedeutet hierbei, dass an definierten Punkten des Abwasserstroms, z. B. Kläranlagenzuläufen und/oder Abwassersträngen, an denen das Abwasser der zu überwachenden (Sub-)Population zusammenkommt, zeitlich wiederholt eine repräsentative Probe entnommen wird. Dabei hat sich die fraktionierte Probenentnahme aus dem Abwasser über vordefinierte Zeiträume (z. B. 24 h-Probe) mittels vollautomatischer Probennehmer mittlerweile etabliert, damit das Auftreten einer kurzzeitig in das Abwasser eingebrachten Menge der Markersubstanzen nicht unbemerkt bleibt [12]. Diese Marker können von menschlichen Metaboliten über Arzneimittelrückstände bis hin zu pathogenen Mikroorganismen reichen. Durch die Erfassung dieser Marker im Abwasser können Rückschlüsse auf die Gesundheit, den Konsum und weitere allgemeine Verhaltensweisen in der Bevölkerung gezogen werden [10].
Historische Entwicklung
Die Wurzeln des Abwassermonitorings lassen sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen, als erste Untersuchungen zur Verunreinigung von Wasserwegen durchgeführt wurden. Mit der zunehmenden Industrialisierung und Urbanisierung stieg die Notwendigkeit, die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Wasserqualität zu überwachen. Die große Bedeutung der Infektionserreger im Abwasser für die Gesundheit der Menschen wurde mit den wissenschaftlichen Entdeckungen im Bereich der Mikrobiologie u. a. durch Louis Pasteur und Robert Koch als in dieser Zeit herausragenden Akteuren ermöglicht. Durch Abwasser verunreinigtes Trinkwasser war schon immer eine sehr wichtige Ursache von Erkrankungen, aber erst durch die Aufklärungsarbeiten von John Snow in London und auch Max von Pettenkofer in München wurden diese Zusammenhänge wissenschaftlich aufgeklärt und detailliert analysiert. So bildeten ihre Erkenntnisse bei den damals grassierenden Choleraausbrüchen in den städtischen Ballungszentren die Grundlagen für die Entwicklung eines Kanalisationssystems und der anschließenden Klärung bzw. Aufarbeitung der Abwässer [8][17]. Beide Forscherpersönlichkeiten gelten als Begründer der Epidemiologie wie wir sie heute noch verstehen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die Methoden weiter, von einfachen chemischen Analysen bis hin zu komplexen molekularbiologischen Techniken, die besonders den Nachweis von Viren verbesserten. Diese Fortschritte ermöglichten es, spezifischere und sensitivere Marker im Abwasser zu identifizieren und zu quantifizieren.
Das Potenzial einer abwasserbasierten infektionsepidemiologischen Überwachung von ganzen Populationen wurde erstmals bei der durch die WHO initiierten weltweiten Ausrottung des Polioerregers umfassend genutzt. Um im Menschen ggf. noch zirkulierende Polioviren nachweisen zu können, führte die WHO 2003 ein weltweit anwendbares Konzept zur Untersuchung von Abwässern und sonstigen Wasserproben aus der Umwelt auf Polioviren ein [16]. Zusätzlich wurde sich hierbei die genomische Charakterisierung der detektierten Polioviren zu Nutze gemacht, um die besonders wichtige Unterscheidung von Impf- und Wildvirusformen durchführen zu können. Daraus ergibt sich im Hinblick auf die Infektionsepidemiologie bzw. aus infektionspräventiver Sichtweise die Möglichkeit Impfdurchbrüche bzw. -lücken zu identifizieren [7][9]. Folglich ist es den öffentlich-rechtlichen Gesundheitsschutz/-wesen (Public Health Protection) sehr leicht möglich zielführende präventivmedizinische Handlungen und Maßnahmen ableiten bzw. anordnen zu können, um die Bevölkerung zügig und adäquat zu schützen bzw. das Gesundheitsrisiko für die entsprechende (Sub-)Population deutlich zu senken.
Besondere Anwendung in der COVID-19-Pandemie
Während der COVID-19-Pandemie erlangte das Abwassermonitoring besondere Bedeutung als Instrument zur Überwachung der Verbreitung des SARS-CoV-2-Virus [6][11]. Nach den ersten Nachweisen im März 2020 entwickelte sich die Methodik und deren Ausbreitung ständig weiter. Durch die Analyse von SARS-CoV-2-RNA im Abwasser konnten Forscher so Infektionsherde identifizieren, noch bevor sie durch klinische Tests im Rahmen der Diagnostik beim Menschen bestätigt wurden. Diese Methode bot eine kosteneffiziente und flächendeckende Alternative bzw. Ergänzung zur Überwachung der Pandemie und ermöglichte es Gesundheitsbehörden, präventive Maßnahmen gezielter und zeitnah umzusetzen (Abbildung 1).
Abb. 1: Übersichtsgrafik Frühwarnsystem durch Abwassermonitoring
Diese Erfahrungen führten dazu, dass die Europäische Kommission bereits am 17. März 2021 eine Empfehlung an die Mitgliedsstaaten aussprach [3], die einen gemeinsamen Ansatz zur Einführung einer systematischen Überwachung von SARS-CoV-2 und seinen Varianten im Abwasser in der EU vorsieht. Diese Empfehlung beinhaltete ebenfalls die nachdrückliche Aufforderung an alle Mitgliedsländer, ein nationales Abwassermonitoring schnellstmöglich einzurichten. In Deutschland wurden hierbei verschiedene Forschungsvorhaben im nationalen Pilotprojekt ESI-CorA- einheitlicher koordiniert und besser vernetzt. Nach Ende der Projektförderung im März 2023 wurde nachfolgend auf das Pilotprojekt ESI-CorA ein zentral koordiniertes Folgeprojekt AMELAG (Abwassermonitoring für die epidemiologische Lagebewertung) unter gemeinsamer Führung des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), des Robert Koch-Instituts (RKI) und des Umweltbundesamtes (UBA) ins Leben gerufen, an dem auch der Sanitätsdienst der Bundeswehr beteiligt ist [13]. Im Rahmen des AMELAG-Projektes werden hierbei die Standorte zur Anwendung der abwasserbasierten Surveillance und somit die Möglichkeit einer zunehmenden flächendeckenden Trendbeobachtung bezüglich des Infektionsdruckes von SARS-CoV-2 in der Bevölkerung sukzessive auf bis zu 175 Kläranlagen im gesamten Bundesgebiet ausgeweitet (Abbildung 2).
Abb. 2: Übersichtskarte teilnehmender AMELAG-Standorte mit Trendanzeige für Erregerlast von SARS-CoV-2 im Abwasser, Stand: 12. KW 2024
Verwendung der Methode im Bereich der Bundeswehr
Abgeleitet aus den zuvor genannten Möglichkeiten im Bereich der zivilen Gesundheitsüberwachung zeigte sich schnell, dass auch im militärischen Kontext von Einsätzen der Gesundheitsschutz aller Soldatinnen und Soldaten (sog. Force Health Protection) enorm vom Abwassermonitoring auf SARS-CoV-2 profitieren konnte und kann. Der Sanitätsdienst der Bundeswehr – federführend durch das KdoSanDstBw VI 2 – hatte daher schon frühzeitig im Rahmen zivil-militärischer Kooperationen Pilotprojekte begleitet, entwickelt und unterstützt. So wurde das erste regionale funktionierende infektiologische Abwasserüberwachungssystem im Landkreis Berchtesgadener Land auch durch die gute und enge Zusammenarbeit mit KdoSanDstBw VI 2 ermöglicht [14][15]. In zwei weiteren kleineren Pilotprojekten in zwei Grundausbildungsstandorten in Bayern konnten Methodik und Verfahrensablauf zusammen mit der TU München und dem Karlsruhe Institute of Technology unter den Bedingungen einer militärischen Liegenschaft erprobt werden. Die gewonnenen Erfahrungen flossen dann auch in den Aufbau und Betrieb des weltweit ersten Abwassermonitorings auf Infektionserreger in einem militärischen Feldlager ein (Camp Castor, Gao, Mali)1. In der Zwischenzeit ist die Bundeswehr durch das KdoSanDstBw VI 2 im Verbund mit ausgewählten Diagnostikeinrichtungen im BwZKrhs Koblenz (Abteilung XXIB) und mit dem InstMikroBioBw in München sowohl im Betrieb als auch der Weiterentwicklung der abwasserbasierten epidemiologischen Überwachung von Infektionserregern inhaltlich, fachlich und methodisch ein national und international anerkannter Partner. So wurden nicht nur die einzigartigen Erfahrungen und Ergebnisse des Abwassermonitorings in Mali von 2021 bis 2023, sondern auch die Etablierung des Verfahrens an 4 Bundeswehrstandorten in Deutschland im Herbst 2023 sehr positiv in der Fachöffentlichkeit wahrgenommen und führten u. a. auch dazu, dass der Sanitätsdienst ein fester und verlässlicher Partner im oben bereits erwähnten nationalen Netzwerk zur Abwasser-Surveillance (AMELAG) geworden ist. Kläranlagenstandorte in den Bundesländern Hessen und Nordrhein-Westfalen werden hierbei durch Labordiagnostik unterstützt. Weiterhin engagiert sich KdoSanDstBw VI 2 aktiv im Global Consortium for Wastewater and Environmental Surveillance for Public Health (GLOWACON), welches auf Initiative des Joint Research Centre (JRC) und der European Health Emergency Response Authority (HERA) der Europäischen Kommission im März 2024 neu gegründet wurde [4].
Die Weiterentwicklung des Verfahrens des abwasserbasierten Infektionsmonitorings auf andere Infektionserreger (z. B. Influenzaviren, Respiratorisches Synzitial Virus/RSV) einschließlich der Überwachung und Bestimmung von Antibiotikaresistenzgenen und den Möglichkeiten einer Anwendung auf seegehenden Einheiten ist bereits geplant. Dies ist eine wichtige konzeptionelle Weiterentwicklung der Fähigkeit Gesundheitsschutz/FHP in der Bundeswehr. Erstmals wird diese neue Methodik von Anfang an als Bestandteil des im Aufbau befindlichen deutschen Stützpunktes einer deutschen Brigade in Litauen eingeplant und umgesetzt werden. Dadurch kann die von Beginn an dort agierende Zelle Gesundheitsschutz/FHP, im Besonderen der Leitende Hygieniker und Gesundheitsaufseher, in der infektionspräventiven Beratung bzw. der Risikoeinschätzung bezüglich des populationsbezogenen Infektionsdruckes der in Rukla und Rudninkai stationierten Soldaten auf ein „Infektionsüberwachungswerkzeug“ zurückgreifen, welches zur Sicherstellung der Auftragserfüllung der deutschen Kräfte in Litauen wertvolle Beiträge liefern kann [2].
Vor- und Nachteile der Methodik
Einer der wesentlichen Vorteile von Abwasseruntersuchungen besteht in einer deutlichen Kosteneffizienz. Durch die Abwassertestung entfällt der Aufwand individueller epidemiologischer Testungen. Klinisch diagnostische Untersuchungen können zielgerichteter und im Umfang daher deutlich geringer durchgeführt werden. Gleichzeitig ist die Anwendung nicht-invasiv und damit für die Menschen weniger belastend. Sie sichert somit auch den Schutz der individuellen Privatsphäre (Abbildung 1).
Zusätzlich gelingt es so schnell und aktuell die epidemiologische Situation einer gesamten Bevölkerung bzw. auch adaptiert, unter Einbezug verschiedener Faktoren und Informationen, die Situation für eine ausgewählte Subpopulation, z. B. Soldaten, welche in der militärischen Gemeinschaft leben, zu erfassen und fachlich lageangepasst zu bewerten. Beispielsweise kann man durch die in Abbildung 3 dargestellten und verglichenen Datensätze deutlich erkennen, wie die SARS-CoV-2-Konzentration im Abwasser in beiden militärischen Einrichtungen deutlich später als in der Allgemeinbevölkerung der Umgebung ansteigt. Zudem sinkt das Signal während der Weihnachtsfeiertage trotz laufender COVID-19-Welle nahezu auf null, da die militärischen Liegenschaften auftragsbedingt in der Zeit der Weihnachtsferien nur mit sehr wenig diensthabenden Personal besetzt sind. Zum Frühjahr hin sinkt das SARS-CoV-2-Signal im Abwasser sowohl in den militärischen Liegenschaften als auch dem urbanen Einzugsgebiet um die Liegenschaft sehr gleichmäßig und kontinuierlich mit dem Auslaufen der COVID-19-Saison ab.
Weiterhin kann das Abwassermonitoring auf eine Vielzahl von Substanzen und anderen Pathogenen eingesetzt werden und bietet somit eine große Breite an Anwendungsmöglichkeiten [16].
Diese letztgenannten Punkte bedingen jedoch einen enorm hohen Anspruch an die Dateninterpretation mit einer vielfältigen Komplexität. Es liegt in der Beschaffenheit des Abwassers, dass viele Einflussfaktoren vorhanden sind und eine Rolle bei der Bewertung der Ergebnisse spielen können. So erschweren u. a. Verdünnungseffekte, variable Abwasserflüsse und technische Besonderheiten der Abwassersysteme, aber auch viele chemische Substanzen die Dateninterpretation.
Durch die Vermischung von Infektionserregern einer ganzen Population wird die Spezifität der Methode naturgemäß herabgesetzt. So kann es z. B. schwierig sein, spezifische Infektionsherde innerhalb großer Bevölkerungsgruppen zu identifizieren.
Auch sind im Gegensatz zu individuell gewonnenen Proben vom Menschen keine demografischen Daten vorhanden, die spezifische epidemiologische Entwicklungen (z. B. Rückschlüsse auf Altersgruppen usw.) aus dem Abwasser ermöglichen könnten.
Ebenfalls ist die Einleitung eines funktionierenden und wirksamen personenbezogenen Screenings und das Durchbrechen von Infektionsketten aufgrund von auffälligen Werten im Abwasser nur möglich, wenn sehr nahe am „Ausscheider“ beprobt werden kann – salopp ausgedrückt: „Je näher an der Toilettenschüssel die Abwasserprobe gewonnen werden kann, desto effektiver können infektionspräventive Rückschlüsse auf den Infektionsdruck und Ableitung für den Gesundheitsschutz/FHP gezogen werden“.
Trotz der oben genannten Kosteneffizienz im Vergleich zur Individualtestung sind aber auch technische und finanzielle Herausforderungen zu bewältigen, da die Einrichtung und Aufrechterhaltung der Infrastruktur und entsprechenden Logistik für ein Abwassermonitoring erhebliche technische und finanzielle Ressourcen erfordert.
Bedeutung für die Dynamik des Infektionsgeschehens beim Menschen
Das Abwassermonitoring hat sich als wertvolles Instrument erwiesen, um die Dynamik von Infektionskrankheiten in der Bevölkerung zu verstehen [1][5][15][16]. Durch die frühzeitige Erkennung von Pathogenen im Abwasser können Ausbrüche antizipiert und Maßnahmen zur Eindämmung schneller eingeleitet werden (Abbildung 1). Dieses Monitoring bietet somit einen einzigartigen Einblick in die Verbreitung von Krankheiten auf einer Bevölkerungsebene und ermöglicht eine effektivere Reaktion auf öffentliche Gesundheitskrisen. Darüber hinaus liefert das Abwassermonitoring räumlich und zeitlich hoch aufgelöste unabhängige Daten. Dadurch werden Informationen zu Saisonalität und Regionalität für eine Vielzahl an Erregern zugänglich, auch für solche, welche im klinisch-diagnostischen Bereich weniger Beachtung finden (u. a. Polioviren und Affenpockenerreger). Ergänzend ist diese Methodik auch eine sinnvolle und wertvolle Ergänzung im Sinne des sog. One Health-Ansatzes der WHO. Dieser integrierte, vereinheitlichende Ansatz zielt darauf ab, die Gesundheit von Menschen, Tieren und Ökosystemen nachhaltig auszugleichen und zu optimieren. Dieser Ansatz erkennt an, dass die Gesundheit von Menschen, Haus- und Wildtieren, Pflanzen und der weiteren Umwelt (einschließlich Ökosystemen) eng miteinander verbunden und voneinander abhängig sind [18][19].
Fazit und Kernaussage
Das Abwassermonitoring im Sinne eines Populationsscreening auf ausgewählte Infektionserreger in Verbindung mit den dadurch früher eingeleiteten Präventionsmaßnahmen durch den öffentlichen Gesundheitsdienst sowie nachfolgend einer schnelleren und effizienteren Infektionsausbruchseindämmung bzw. möglichen Infektionsausbruchsverhinderung kann in der Gesamtheit den Kostendruck im öffentlichen Gesundheitswesen durch die ambulante und stationäre Versorgung potenziell deutlich senken und zu einer nachhaltigen Verbesserung der Gesundheit beitragen.
Es gilt festzuhalten:
- Die Analyse von Abwasser auf verschiedene Infektionserreger hat im historischen Gesamtkontext einen entscheidenden Beitrag zur Weiterentwicklung der Epidemiologie und Gesundheitsprävention geleistet.
- Das Abwassermonitoring hat sich in der COVID-19-Pandemie als wertvolles Instrument erwiesen, um die Dynamik dieser neuen Infektionskrankheit in der Bevölkerung zu verstehen.
- Das Abwassermonitoring hat sich als „Frühwarnsystem“ zur raschen und effizienten Ausbruchsverhinderung bzw. -eindämmung erwiesen.
- Durch die Ergebnisse eines kontinuierlichen Abwassermonitorings ist es möglich, entscheidende Präventivmaßnahmen ca. 24–72 h früher und zielgerichteter einzuleiten als bei konventionellem Monitoring.
- Die Nutzung des Abwassermonitorings als Populationsscreening in Verbindung mit so früher eingeleiteten Präventivmaßnahmen kann den Kostendruck im öffentlichen Gesundheitswesen reduzieren.
- Abwassermonitoring hat das Potenzial, in der Zukunft ein fester Methodenbestandteil der Zelle Gesundheitsschutz/Force Health Protection in Bundeswehr und NATO zu werden.
Literatur
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Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Bildquellennachweis
Abbildung 1: Im Auftrag KdoSanDstBw VI 2 erstellt durch Luphalia
Abbildung 2: Robert Koch Institut/AMELAG Wochenbericht vom 02. April 2024
Abbildung 3: FH Kärnten/Rudolf Markt
Manuskriptdaten
Zitierweise
Frangoulidis D, Markt R, Barth D, Frank M, Großmann D, Ziegler A, Roßmann K, Balczun C, Albrecht S: Abwasserbasierte Infektionsepidemiologie – manchmal muss man für Innovationen auch im Trüben fischen. WMM 2024; 68(6): 283-289.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-303
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Priv.-Doz. Dr. Dimitrios Frangoulidis
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Referat VI 2 – Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung
Dachauer Straße 128, 80637 München
E-Mail: dimitriosfrangoulidis@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Frangoulidis D, Markt R, Barth D, Frank M, Großmann D, Ziegler A, Roßmann K, Balczun C, Albrecht S: [Wastewater Based Epidemiology (WBE): Sometimes You Have to Fish in Muddy Waters to Innovate.] WMM 2024; 68(6): 283-289.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-303
For the Authors
Lieutenant Colonel (MC) Ass. Prof. Dr. Dimitrios Frangoulidis
Bundeswehr Medical Service Headqarter
Branch VI 2 – Medical Intelligence & Information + Surveillance
Dachauer Straße 128, D-80637 München
E-Mail: dimitriosfrangoulidis@bundeswehr.org
1 Der Beitrag von Albrecht S et al. in dieser Ausgabe stellt den Einsatz des Abwassermonitoring in Mali vor.