Das nächste Level im Bündnis:
Die Entwicklung des Force Health Protection-Hub für NATO-/EU- und Partnership for Peace-Nationen in München
Force Health Protection – Next Level in Alliance: Developing the Force Health Protection Hub for NATO-/EU- and Partnership for Peace-Nations in Munich
Katalyn Roßmanna, Dimitrios Frangoulidisa, Silke Ruhlb, Hans-Ulrich Holthermc
a Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, VI-2, Referat VI 2 - Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung München
b NATO Centre of Excellence for Military Medicine, Force Health Protection Branch, München
c Sanitätsakademie der Bundeswehr, München
Zusammenfassung
Aufgrund der sicherheitspolitischen Zeitenwende ergeben sich die Notwendigkeit sowie die Gelegenheit zur Etablierung eines Force Health Protection-Hub in München für NATO-/EU- und Partnership for Peace-Nationen, um in einem multilateralen Ansatz ein gemeinsames Lagebild zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und damit der Einsatzbereitschaft der alliierten Streitkräfte sicherzustellen. In dem hier vorliegenden Essay wird eine retrospektive deskriptive Analyse der Policy-Metaebene der aktuellen Force Health Protection-Hub-Entwicklung in Form theoretischer Health Policy-Modelle diskutiert.
Schlüsselwörter: Zeitenwende, NATO-/EU/PfP-Nationen, Advocacy Coalition Framework, Force Health Protection Hub, One Health Wissensmanagement, Punctuated Equilibrium Framework
Summary
Due to changing times in the international security framework, there are need and opportunity to develop the Force Health Protection Hub for NATO/EU and Partnership for Peace-nations to ensure a FHP Common Operational Picture (FHP COP) in a multilateral approach to improve health protection and thus the operational readiness of the Allied Forces. This study discusses a retrospective descriptive analysis of the policy meta-level of the current FHP Hub development in the form of theoretical health policy models.
Keywords: historic turning point; NATO-/EU/PfP-nations; advocacy coalition framework; force health protection hub; One Health knowledge management; punctuated equilibrium framework
Einleitung und Hintergrund
Mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 hat sich eine sicherheitspolitische Zeitenwende aufgetan, die die Rolle Deutschlands und der Bundeswehr fundamental verändert. Vom bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Land inmitten Europas wird Verantwortung erwartet – als Rückgrat der Abschreckung und kollektiven Verteidigung Europas. Die Landes- und Bündnisverteidigung umfasst neben der Wehrhaftigkeit sowohl die Bündnisfähigkeit als auch eine Drehscheibenfunktion als Anlehnpartner in Europa. Daher ist die Entwicklung eines gesamtstaatlichen wie ressortübergreifenden Lagebildes zwingend erforderlich [1][3].
Dem derzeitigen Bundesgesundheitsminister zufolge bedeutet dies auch eine Zeitenwende für das Gesundheitssystem [4]: „…Im Krisenfall muss jeder Arzt, jedes Krankenhaus, jedes Gesundheitsamt wissen, was zu tun ist.“ Daher sei Deutschland für Pandemien, große Katastrophen und eventuelle militärische Konflikte besser aufzustellen.
Für den Bereich Public Health in der NATO wird der umfassende Ansatz eines sogenannten Force Health Protection (FHP)-Lagebildes ebenso dringend notwendig. Die Grundlagen hierfür wurden seit vielen Jahren mit internationaler Beteiligung sowohl in der NATO-Expertengremienarbeit entwickelt als auch konkret in kleineren Projekten durch zahlreiche interdisziplinäre Fachexperten in München vorbereitet. Sie werden aktuell zusammengeführt. Derzeit entsteht als Anlehnpartner und in Netzwerkfunktion der sogenannte Force Health Protection- Hub (FHP-Hub) für NATO-/EU- und Partnership for Peace (PfP)-Nationen mit Deutschland als Host Nation. Diese Entwicklung findet in enger Partnerschaft von Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr VI-2 (Medical Intelligence & Information + Surveillance) mit dem NATO Military Medical Centre of Excellence, Force Health Protection Branch (FHPB), vormals der Deployment Health Surveillance Capability (DHSC), und der Sanitätsakademie der Bundeswehr statt. Der vorliegende Artikel hat zum Ziel, anhand zweier theoretischer Health Policy-Modelle die bisherige und aktuelle Entwicklung des FHP-Hub in einer retrospektiven wie deskriptiven Analyse zu diskutieren.
Methode
Das erfolgreiche oder gescheiterte Implementieren von komplexen Public Health-Interventionen oder gar die Entwicklung neuer Public Health-Fähigkeiten einer 32 Nationen umfassenden Allianz können i.d. R. eher retrospektiv anhand von etablierten theoretischen (Health) Policy-Modellen beschrieben und analysiert werden. Die aktuelle Entwicklung des FHP-Hub wurde und wird in zahlreichen Schritten der letzten 15 Jahre kontinuierlich vorangetrieben, was sich anhand des Advocacy Coalition Frameworks (ACF) sowie des „Punctuated Equilibriums“ chronologisch sowie methodisch darstellen, einordnen und diskutieren lässt. Dabei handelt es sich um eine sozial- wie politikwissenschaftliche Herangehensweise, um einerseits in einem netzwerkartigen Bündnis aus verschiedensten Akteuren mit einer gemeinsamen Vision letztere zu realisieren sowie andererseits die verzögernden oder katalysierenden soziopolitischen Kontextfaktoren zu analysieren. Beim Advocacy Coalition Framework treten top down- sowie bottom up-Herangehensweisen gleichermaßen auf [2][5][11][12].
Bereits 2010 wurde – zunächst als bilateraler Ansatz zwischen Deutschland und Frankreich – die Deployment Health Surveillance Capability (DHSC) im Sinne eines vernetzten Ansatzes der Expertenebene und den jeweiligen Verteidigungsministerien in München implementiert. Diese Anfangsbefähigung wurde in den Folgejahren als NATO-Einrichtung unter Beteiligung weiterer Nationen weiterentwickelt.
Nach den Erfahrungen aus dem Ebola-Ausbruch in Westafrika (2014–2016) wurden seitens der NATO zwei Smart Defence-Projekte als Machbarkeitsstudien zur Verbesserung sowohl von Medical Intelligence and Information (MI2) als auch zur Bio-Responsiveness aufgesetzt [9][10]. Wesentliche Erkenntnisse bestanden für das erste Smart Defence-Projekt in der Notwendigkeit, eine NATO-gemeinsame MI2-Fähigkeit zu entwickeln, da die NATO nicht über solche vernetzten Fähigkeiten verfügt und daher immer auf zeitlich verzögerte Abfragen bei den Nationen angewiesen ist. Für das zweite Smart Defence-Project wurde die Notwendigkeit einer engeren Verzahnung von Force Health Protection und medizinischem ABC-Schutz deutlich – und damit der Kohäsion von „Preparedness and Response“ von Erregern natürlicher wie artifizieller Genese. Das MI2-Smart Defence-Projekt wurde in einem Bottom Up-Ansatz durch Deutschland als federführende Gastnation und das Bio-Responsiveness-Smart Defence-Project unter Federführung der Committee of the Chiefs of Military Medical Services in NATO (NATO COMEDS) Combined Joint Chemical, Biological, Radiological and Nuclear Medical (CBRNMed) sowie Force Health Protection Working Group (FHP WG) mit jeweils zahlreichen weiteren Akteuren vorgeschlagen und dann wiederum in einem durch die NATO regelbasierten Procedere top down durchgeführt.
Basierend auf den COMEDS-Vorgaben wurde 2021 unter dem ersten validierten Eindruck der Corona-Pandemie der Auftrag für die FHP WG angepasst, sodass aus einem im Wesentlichen strategischen Standardisierungsgremium konkreter auch auf eine innovativ und operativ relevante Rolle im One Health-Ansatz zur FHP-Beratung der Entscheidungsträger erweitert wurde [8]. Dieses zur Grundlage nehmend erfolgt die aktuelle Entwicklung zum FHP-Hub für NATO-/EU- und PfP-Nationen im Sanitätsdienst national militärisch bottom up im Stabsgang zum Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr – insbesondere durch die Münchner Akteure des Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, Referat VI 2, der NATO MilMed CoE FHPB und der Sanitätsakademie der Bundeswehr. Allerdings wurden netzwerkartig international militärisch sowohl die COMEDS FHP Working Group und das MedIntel Panel als auch das NATO Allied Command Operations (ACO) sehr frühzeitig in den Entwicklungsprozess eingebunden. Bestehende zivile Experten-Netzwerke zum Robert Koch-Institut oder auch zu Universitäten sowie zahlreichen anderen Organisationen, Behörden oder Institutionen werden kurz- bis mittelfristig ebenfalls beteiligt werden.
Ergebnisse
Fachlich-inhaltliche Ergebnisse
Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass Infektionskrankheiten das Potenzial haben, das tägliche Leben und die Arbeit von Gesellschaften weltweit zu beeinträchtigen, Militäreinsätze einzuschränken und damit auch sicherheitspolitisch relevant zu sein. Dies kann jedoch auch bei vielen anderen (zoonotischen) Krankheiten (z. B. durch Insekten, Zecken oder auf andere Weise übertragen) jederzeit passieren. Der Klimawandel, die Globalisierung und sozio-ökonomische Faktoren sowie das damit einhergehende immer stärkere Vordringen menschlicher Siedlungen und wirtschaftlicher Aktivitäten in natürliche Lebensräume dürften zu weiteren Ereignissen dieser Art führen. Um solche neu auftretenden Krankheiten und Ausbrüche schnellstmöglich zu erkennen, ist ein koordiniertes und vernetztes One Health-Wissensmanagement erforderlich. Die neuen verteidigungspolitischen Bedrohungen für die NATO in Europa und die Notwendigkeit, große Truppenkörper schnell und effizient durch mehrere europäische Länder zu verlegen, sind auch eine große Herausforderung für den Gesundheitsschutz der Truppe, die Force Health Protection (FHP).
Ein solches Management basiert nach aktuellem Stand der Wissenschaft auf den „Essential Public Health Operations“ (EPHO), wie sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2012 definiert wurden. Für die Definition nachhaltiger Gesundheit und menschlichen Wohlergehens – und hier gesunder wie einsatzfähiger Streitkräfte – sind Surveillance, Monitoring sowie Medical Intelligence als Wissensgrundlage für die zentralen Ziele Gesundheitsschutz, Gesundheitsförderung und Krankheitsvorbeugung notwendig. Dabei sind die vorzugsweise laborgestützten Surveillance- bzw. Monitoring-Daten aus Human- wie Tiermedizin, Umwelt einschließlich Abwasser sowie Fauna und Vektoren, Lebensmittel- und Trinkwasserhygiene sowie aus der Arzneimittel-Logistik und aus dem Melde- wie Berichtswesen zusammenzuführen. Aus den Daten werden durch Darstellung und Analyse wiederum Informationen, die in Dashboards und georeferenzierten Darstellungen visualisiert werden. Letztere dienen dazu, das Wissen in abgeleiteten Kommunikationsprodukten für evidenz-informierte Public Health-Maßnahmen (z. B. Impf- und Prophylaxemaßnahmen) zur Verfügung stellen zu können [13].
Um ein solches One Health-Wissensmanagement für die NATO-/EU und PfP-Partner als gemeinsame Plattform i.S. von Schwarmintelligenz zur Verfügung zu stellen, wird aktuell der FHP-Hub der genannten Dienststellen in München entwickelt. Für ein gemeinsames FHP-Lagebild müssen Daten in einem sog. Content Management System systematisch, standardisiert und kategorisiert erhoben wie gespeichert und für eine gründliche, strukturiertere wie ebenfalls standardisierte Analyse aufbereitet werden (Abbildung 1). Eine etwas andere Darstellung der vorgenannten One Health-Inhalte ist in Abbildung 2 zu sehen: die „FHP-Brücke“.
Abb. 1: One Health-Wissensmanagement, in Anlehnung an WHO-Essential Public Health Operations – prozessuale Darstellung
Vertikal als Säulen dargestellt sollen insbesondere laborbasierte Surveillancedaten sowie solche aus Begehungs- oder anonymisierten Patientenbehandlungsberichten in ein zentrales digitales FHP-Lagebild („FHP Picture“) einfließen, z. B. aus der Hygiene in Gesundheitseinrichtungen, Daten zu Antibiotikaresistenzen, Umwelthygiene (wie Mücken-/Zecken- oder Nagermonitoring und Abwassermonitoring), Tierseuchen, Zoonosen, Tierschutz, Lebensmittel-/Trinkwasserhygiene, Lebensmittelsicherheit, Arzneimittel- und Medizinproduktesicherheit, Arbeitsmedizin oder auch Strahlenschutz sowie orale Gesundheit.
Ergänzt werden diese Daten zum Gesamtlagebild FHP durch solche aus der anonymisierten Patientendokumentation der Near Real Time Surveillance (NRTS, d. h. Echtzeit-Überwachung und -Übermittlung von Krankheitssymptomdaten) und Daten weltweiter gesundheitsrelevanter Erkenntnisse aus Medical Intelligence & Information (MI2).
Organisatorische Konzeption
1. WER sind die Akteure?
Deutschland wird als Host Nation des FHP-Hub dienen, in enger Kooperation mit der NATO MilMed CoE und mit Unterstützung, insbesondere für den Medizinischen ABC-Schutz, durch die Sanitätsakademie der Bundeswehr. Alle interessierten Nationen der NATO, EU und PfP tragen durch Daten und Informationen zum gemeinsamen FHP-Lagebild bei und werden durch die Experten der COMEDS FHP WG, dem MedIntel Panel und weiteren Panels bzw. Working Groups (z. B. CBRNMed WG, Health Care WG) auf strategischer Ebene beraten.
2. WAS ist das Ziel?
Ziel ist die Entwicklung eines operativen, zeitgerechten, digitalen FHP-Lagebildes im One Health-Wissensmanagement-Ansatz. Dazu kommen Koordination von Surveillance-/Berichtsdaten sowie MI2-Erkenntnissen beitragender Nationen, Sicherstellen des Zugangs aller Beteiligten zum FHP-Lagebild und Beibehaltung der bereits federführend durch die FHPB etablierten Serviceleistungen von MI2-/Surveillance-/Health Reporting/NRTS-Produkten.
3. WARUM? – Zweck des Ganzen
Durch Austausch und Zusammenführen von Expertenwissen soll eine Schwarmintelligenz-Fähigkeit zur Entwicklung evidenz-informierter/-basierter Health Policy-Entscheidungen für die Gesundheit und damit Einsatzbereitschaft der Streitkräfte entstehen.
4. WIE soll das FHP-Lagebild zur Verfügung gestellt werden?
Das FHP-Lagebeild soll IT-basiert im „Unclassified“-System für den humanitären, zivilmilitärischen Gebrauch auf Microsoft Power BI (als Content Management System) und mit ArcGIS (zur georeferenzierten Dashboard-Erstellung) sowie im „Classified“-System der NATO bereitgestellt werden.
Evaluierung und Monitoring
Zur unablässigen Verbesserung sind Evaluierung und Monitoring von Fähigkeiten unverzichtbar. Dabei wird, abgeleitet vom Prozess- wie Methoden-Evaluierungsansatz komplexer Public Health-Interventionen des Medical Research Council (MRC) Frameworks [7], folgendes berücksichtigt:
1. INPUT (Ressourcen)
Die bereits in München vorhandenen Strukturen und das Personal mit Qualifikation/Ausbildung im kompletten FHP-Spektrum soll als Expertiseplattform des zukünftigen FHP-Hub dienen, durch externe Beiträge aller weiteren NATO-/EU-/PfP-Experten ergänzt und durch die NATO-Fachgremien zusätzlich beraten werden. Die Infrastruktur sowie Material und Informationstechnik (IT) in München sind in der Liegenschaft Dachauer Straße 128 sowie an der SanAkBw im Wesentlichen bereits vorhanden. Die konzeptionellen Grundlagen zur Digitalisierung wurden in den letzten Jahren bereits geschaffen und sind permanent weiterzuentwickeln.
2. OUTPUT: Das FHP-Lagebild soll mit Dashboards und Geoinformationssytem (GIS)-basierten Layern für MI2-/NRTS-/Surveillance-Produkte erstellt werden.
3. OUTCOME: Die praktische Nutzbarkeit des FHP-Lagebildes seitens der Bedarfsträger, wie z. B. digitales Lagebild sowie MI2-/NRTS-/Surveillance-Produkte zur Vorbereitung von Evidenz-informierten Health Policy-Entscheidungen (z. B. i.R. des Medical Plannings), soll nachgewiesen werden.
4. IMPACT: Letztlich soll der FHP-Hub so die Steigerung und Sicherstellung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte basierend auf dem bestmöglichen Gesundheitszustand der Soldatinnen und Soldaten ermöglichen.
Diskussion
Zur sozialwissenschaftlichen Beschreibung der Entwicklung des FHP-Hubs für NATO-/EU-/PfP-Nationen lassen sich zwei Modelle heranziehen:
Advocacy Coalition Framework: Es handelt sich mit der Entwicklung eines FHP-Hub für zahlreiche Nationen unter aktiver Beteiligung ihrer Experten als Bedarfsdecker und diversen Bedarfsträgern unterschiedlicher Interessen um eine komplexe Public Health-Intervention im weitesten Sinne. Die Zusammenführung von zweifelsfrei auch medizinisch wie militärisch sensiblen Daten ist rechtlich herausfordernd und das Beitragen eigener Surveillance- wie MI2-Daten eine Art soziokulturelles Versuchsprojekt, das auf Vertrauen und gutem Willen aller Beteiligten als einer „Koalition der Willigen“ basiert. Die Herangehensweise – und insbesondere die Nachhaltigkeit einer solchen Einrichtung über lange Zeiträume hinweg – benötigt theoretisch ein williges Netzwerk von langfristig agierenden Akteuren gleicher Interessen und unter zeitgleicher Zurückstellung für das Gesamtvorhaben kritischer Eigeninteressen. Damit ist die Anwendung des Advocacy Coalition Frameworks für das Agenda Setting und die Implementierung eine zweckmäßige Beschreibung der Herangehensweise für die Entwicklung eines solchen FHP Hubs.
Abb. 3: Advocacy Coalition Framework [6][12]
Bei den „relativ stabilen Parametern“ gemäß Abbildung 3 ist im hiesigen Zusammenhang als sog. „Problem“ das fehlende gemeinsame FHP-Lagebild zu nennen. Gemeinsamkeiten bestehen in den ähnlichen soziokulturellen Werten von aktiven wie ehemaligen Soldatinnen und Soldaten/Angehörigen von westlichen Streitkräften. Streitkräfte allgemein und die Allianzen im Besonderen stellen die konstitutionelle Basis des Miteinanders dar. Als „externe Ereignisse“ sind in diesem Zusammenhang – ähnlich wie im folgenden Modell aufgeführt – maßgebliche soziopolitische Änderungen durch die COVID-19-Pandemie und den Russischen Angriffskrieg in der Ukraine seit 2022. Die langfristige Struktur der „FHP-Hub-Koalition“ besitzt seit fast 15 Jahren die grundsätzliche gemeinsame Überzeugung von notwendiger wie engerer Zusammenarbeit, wurde aber durch letztlich kurz-/mittelfristige gegenläufige Interessen verzögert. Aktuell befindet sich die Entwicklung des FHP-Hubs – dem Modell gem. Abbildung 3 zufolge – in der rechten Spalte und dabei vor der Entscheidung durch Regierungsvertreter bzw. Entscheidungsträger der Sanitätsdienste der NATO-/EU-/PfP-Nationen.
Punctuated Equilibrium
Die sicherheitspolitische Großwetterlage der sogenannten Zeitenwende hat als ein wesentlicher (disruptiver) Kontextfaktor die Bereitschaft und damit den guten Willen zum gemeinsamen Engagement für einen FHP-Hub der zahlreichen unterschiedlichen NATO-/EU PfP-Akteure katalysiert und findet seitdem unablässig Ausdruck in den gemeinsamen offiziellen Gremiensitzungen wie digitalen Workshops. Diese Atmosphäre der mitunter seit über 20 Jahren untereinander bekannten internationalen Experten kann als ein „Window of Opportunity“ der Gemeinsamkeiten und damit stellvertretend für die Funktionalität wie Kohäsion westlicher, liberaler Demokratien bezeichnet werden. Dies lässt sich retrospektiv wie zeitnah als sog. „Punctuated Equilibrium“ in der Sozialwissenschaft darstellen [2][11]. Abbildung 4 zeigt zunächst zahlreiche Jahre einer gewissen Stase bzw. eines eher inaktiven Gleichgewichts nach den ersten Entwicklungen wie der DHSC 2010 im Nachklang des biokriminellen Anthrax-Angriffs 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika sowie nachfolgend den SD-Projekten aufgrund des Ebolaausbruchs in Westafrika (2014–2016). Nach der größten Gesundheitskatastrophe des 21. Jahrhunderts (COVID-19-Pandemie) tritt zudem ein unerwartetes, sicherheitspolitisch revolutionierendes Ereignis mit Russlands Angriff auf die Ukraine ein, das zu einer wesentlichen Veränderung in der Dynamik der Bereitschaft zur Zusammenarbeit in der Allianz beiträgt.
Abb. 4: „Punctuated Equilibrium“ in der FHP-Hub-Entwicklung
Das auf evolutionsbiologischen Grundlagen basierende sozialtheoretische Modell des „Punctuated Equilibrium“ trägt zum Studium und zum besseren Verständnis von Konflikten sowie Veränderungsprozessen in komplexen sozialen Systemen sowie zur Veranschaulichung des hiesigen aktuellen Beispiels bei.
Über die letzten zwei Jahrzehnte wurden zahlreiche Digitalisierungsoffensiven der Allianz mit Consultants in einem top down-Ansatz betrieben. Dabei fehlte die federführende und persönliche Verantwortung (sog. „ownership“) als bottom up- oder auch vernetzte Initiative der Fachexperten; letztere waren als Berater der externen IT-Berater tätig und unterlagen dem „militärtypischen“ Dienstpostenwechsel nach 2–3 Jahren. Dadurch entstand der unablässige Expertiseverlust als eine Ursache des Scheiterns solcher Projekte. Aktuell findet sich eine teilweise seit Jahrzehnten untereinander bekannte Expertenallianz zusammen, die ein hohes Interesse an der Realisierung eines gemeinsamen FHP-Lagebildes hat.
Für die später – nach Implementierung – von extern vorzunehmende Prozess- wie Methodenevaluierung des FHP-Hub-Gesamtansatzes wiederum ist im Nachgang das Medical Research Council (MRC)-Framework [7] ein sinnvoll anzuwendendes Modell.
Für die Implementierung wie vollständige Funktionalität des FHP-Hub ist technologisch naturgemäß eine weitergehende Digitalisierung erforderlich, um der militärischen und politischen Führung ein zeitlich relevantes und aktuelles, operatives FHP-Bild zu vermitteln und die Einsatzbereitschaft durch die Prävention von wehrmedizinisch (höchst) relevanten Infektionskrankheiten weiter zu verbessern. Es gilt: „Daten für Taten“. Ohne entsprechende Daten für ein ausreichendes Lagebild – als Grundlage für das Wissensmanagement – können keine sinnvollen und rechtlich wie wissenschaftlich und ethisch verantwortbaren Entscheidungen zur Prävention oder Intervention bei bestehenden und zukünftigen Gesundheitskrisen getroffen werden. Eine der Herausforderungen wird dabei sein, maßgeschneiderte Datenpakete für spezifische Fragestellungen zu erheben und wissenschaftlich-methodisch standardisiert zu analysieren, um möglichst präzise Aussagen zur Entwicklung wehrmedizinisch relevanter Gesundheitsrisiken treffen zu können. Dieses Lagebild muss insbesondere im Kontext des Klimawandels mit der Ausbreitung zoonotischer und bisher subtropischer Vektoren/Erreger/Krankheiten, wie eingangs skizziert, weiterentwickelt werden.
Auch wenn aus Perspektive der NATO die FHP grundsätzlich eine nationale Pflicht ist und bleiben wird, wird ein zentraler FHP-Hub zur systematischen wie umfänglichen Sammlung und Analyse von Daten sowie zur Bereitstellung von FHP-Produkten für den internationalen Gebrauch dazu beitragen, unnötige Doppelarbeit der einzelnen Akteure zu vermeiden. Darüber hinaus wird es Ländern, die nicht über das gesamte Spektrum an FHP-Ressourcen auf nationaler Ebene verfügen, kosteneffizient die Möglichkeit geben, wirksame FHP auf wissenschaftlich fundierter Grundlage umzusetzen.
Der nächste Schritt zu einer engeren Zusammenarbeit mit unseren Verbündeten besteht nun darin, ein gemeinsames, zeitgerechtes, operatives FHP-Lagebild bereitzustellen. Es wird erwartet, dass Deutschland eine Rolle als Logistikdrehscheibe in Europa spielt. Hier bietet Deutschland mit seiner KdoSanDstBw VI 2 MI2 + Surveillance-Einheit in Kooperation mit der bereits etablierten NATO MilMed CoE FHP Branch, unterstützt durch die Sanitätsakademie der Bundeswehr in München sowie allen internationalen Partnern, einen multilateralen Ansatz zur Bildung eines solchen FHP-Hub an.
Literatur
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- Ma J, Lemos MAC, Vieira DM: How is the Advocacy Coalition Framework Doing? Some Issues since the 2014 Agenda. Revista Brasileira de Ciência Política Brasília 2020; 32: 7–42. mehr lesen
- Moore GF, Audrey S, Barker M, et al.: Process evaluation of complex interventions: Medical Research Council guidance. BMJ 2015; 19; 350:h1258. mehr lesen
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- Raes E, Dochy F, Kyndt E, Boon A: Team's Anatomy: exploring change in teams. , letzter Aufruf 22. April 2024. . mehr lesen
- Sabatier PA, Jenkins-Smith HC (Hrsg): Policy Change and Learning. An Advocacy Coalition Approach. Boulder: Westview Press 1993. mehr lesen
- Schoeps S, Holtherm HU, Hoffmann R, et al.: Wissensmanagement in Public Health/-Krisen. Wehrmed Wehrpharm 2022; 46(3): 28-29. mehr lesen
Interessenkonflikt:
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Roßmann K, Frangoulidis D, Ruhl S, Holtherm HU: Das nächste Level im Bündnis: Die Entwicklung des Force Health Protection Hub für NATO-/EU- und Partnership for Peace-Nationen in München. WMM 2024; 68(6): 246-252.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-306
Für die Verfasser
Oberstveterinär Dr. Katalyn Roßmann
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Referat VI 2 – Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung
Dachauer Str. 128, 80637 München
E-Mail: katalynrossmann@bundeswehr.org">katalynrossmann@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Roßmann K, Frangoulidis D, Ruhl S, Holtherm HU: [Force Health Protection – Next Level in Alliance: Developing the Force Health Protection Hub for NATO-/EU- and Partnership for Peace Nations in Munich]. WMM 2024; 68(6): 246-252.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-306
For the Authors
Colonel (MC Vet) Dr. Katalyn Roßmann
Bundeswehr Medical Service Headquarters
Branch VI 2 – Medical Intelligence & Information + Surveillance
Dachauer Str. 128, D-80637 München
E-Mail: katalynrossmann@bundeswehr.org">katalynrossmann@bundeswehr.org