Ethische Stellungnahme zur Duldungspflicht
für Impfungen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
Ethical Statement on the Obligation to Tolerate Vaccinations among Bundeswehr Soldiers
Ralf Vollmutha, Dirk Fischerb
a Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam, Abteilung Forschung – Beauftragter des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr für Geschichte, Theorie und Ethik der Wehrmedizin
b Sanitätsakademie der Bundeswehr München – Institut für Wehrmedizinische Ethik der Bundeswehr
Zusammenfassung
In der vorliegenden ethischen Stellungnahme wird die Duldungspflicht für Impfungen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr unter Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress betrachtet. Bei dieser Ethikkonzeption werden die vier Prinzipien Patientenautonomie, Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip), Benefizienz (Wohltunsprinzip) und Gerechtigkeit bewertet und gegeneinander abgewogen.
Schlüsselwörter: Corona, Infektionskrankheiten, Impfung, Duldungspflicht, Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress
Summary
In this ethical opinion, the obligation to tolerate vaccinations for soldiers in the Bundeswehr is analyzed using the so-called Principles of Biomedical Ethics according to Tom L. Beauchamp and James F. Childress. In this ethical concept, the four principles of patient autonomy, non-maleficence, beneficence, and justice are evaluated and weighed against each other.
Keywords: Corona; infectious diseases; vaccination; duty to tolerate; Principles of Biomedical Ethics according to Beauchamp and Childress
Einleitung und Methode
Im Folgenden wird seitens des Beauftragten des Inspekteurs des Sanitätsdienstes der Bundeswehr für Geschichte, Theorie und Ethik der Wehrmedizin am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam sowie des Leiters des Instituts für Wehrmedizinische Ethik der Bundeswehr an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München eine ethische Bewertung hinsichtlich der Duldungspflicht von Impfungen bei Soldatinnen und Soldaten vorgenommen.
Dies erfolgt anhand der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress, indem die vier Prinzipien Patientenautonomie, Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip), Benefizienz (Wohltunsprinzip) und Gerechtigkeit bewertet und gegeneinander abgewogen werden. Diese methodische Möglichkeit der medizinethischen Problemlösung ist weit verbreitet und auf breiter Basis anerkannt [2][9].
Bei den vier Axiomen handelt es sich um sogenannte Prinzipien mittlerer Reichweite, die eine gute Orientierung bieten und unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen oder Zugehörigkeiten als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können [1].
Während die Prinzipien Patientenautonomie, Non-Malefizienz und Benefizienz ausschließlich auf die einzelne Patientin und den einzelnen Patienten fokussieren, greift das Prinzip Gerechtigkeit weiter und bezieht sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, wie etwa die Ärzteschaft, die Familie, das berufliche Umfeld oder die Solidargemeinschaft [8].
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass es für ethische Dilemmasituationen in den allermeisten Fällen keine allgemeinverbindliche Lösung gibt, sondern differierende Bewertungen und Handlungen resultieren können. Dies ist auch bei gleichgerichtetem Vorgehen – wie bei der Anwendung der Prinzipienethik – abhängig von der persönlichen Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Prinzipien [5].
Im Zuge dieser ethischen Stellungnahme wird bewusst nicht auf einzelne Impfungen abgehoben, sondern versucht, die Thematik allgemeingültig zu bewerten. Dies ist vor allem auch darin begründet, dass eine aus aktuellem Anlass gegebene Fokussierung auf die Corona-Impfung emotional aufgeladen sowie teils ideologisch überfrachtet ist und die medizinethischen Parameter für die Duldungspflicht für Impfungen im Grundsatz bei allen Arten von Impfungen anzuwenden sind.
Ethische Bewertung der Duldungspflicht für Impfungen gemäß den vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress
Patientenautonomie
Ein hohes Gut in der medizinischen Versorgung ist zweifellos der Respekt vor der Patientenautonomie resp. dem Recht der Patientinnen und Patienten, im Hinblick auf den eigenen Körper medizinische Behandlungen und Maßnahmen auf der Grundlage einer fachgerechten Aufklärung selbstbestimmt zu entscheiden (Informed Consent). Dieses Selbstbestimmungsrecht korreliert auch mit verschiedenen Grund- und Menschenrechten und ist entsprechend hoch zu bewerten [4][7].
Im Fall einer Duldungspflicht für bestimmte Maßnahmen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, wie es bei Impfungen der Fall ist, wird die Patientenautonomie, dieses Selbstbestimmungsrecht bzw. das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der zu impfenden Person, zwar in Teilen aufgehoben oder zumindest stark eingeschränkt. Dies geschieht jedoch auf Grundlage einer gesetzlichen Regelung des Soldatengesetzes [6], und es ist zu argumentieren, dass Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr seit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 freiwillig und auf vertraglicher Basis ihren Dienst in den Streitkräften aufnehmen und somit auch die damit verbundenen Einschränkungen in verschiedenen Rechten und Verpflichtungen – wie beispielsweise durch die Kasernierung oder auch die Duldungspflicht von Impfungen – akzeptieren. Im Gegenzug stellen Soldatinnen und Soldaten gerade aus diesem Grund eine besonders vulnerable Patientengruppe dar, was eine entsprechende Berücksichtigung in einem besonders hohen Maß an Sorgfalt, Fürsorge und Beachtung (medizin-)ethischer und rechtlicher Normen seitens des Dienstherrn beziehungsweise der Institutionen und Protagonisten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr zu finden hat [11].
Non-Malefizienz (Nichtschadensprinzip)
Das Nichtschadensprinzip, das in der Prinzipienethik von großer Bedeutung ist, hat seit jeher in der medizinethischen Betrachtung einen sehr hohen Stellenwert, was beispielsweise auch im Hippokratischen Eid und im Genfer Gelöbnis seinen Niederschlag findet [10][12]. In Bezug auf die Duldungspflicht von Impfungen ist darauf abzuheben, ob mit einer Impfung die Gefahr von (dauerhaften) gesundheitlichen Schädigungen einhergeht und welcher Natur diese gesundheitlichen Schäden sind [4].
Realistischerweise kann jedoch die Gefahr von Schädigungen nicht absolut gesetzt werden, da praktisch jede medizinische Behandlung, Medikamentengabe oder ähnliches mit der Gefahr einer gesundheitlichen Schädigung behaftet ist. Entscheidend ist vielmehr,
- wie hoch die Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Schädigungen ist,
- wie ernsthaft und/oder nachhaltig diese Schädigungen sein können und
- welcher Nutzen andererseits durch die Impfung für die zu impfende Person dem gegenübersteht.
Das heißt, aus ethischer Sicht ist ein geringes Risiko einer Schädigung hinnehmbar, wenn durch die Impfung ein viel größeres Gesundheitsrisiko durch die (mit der Impfung zu verhindernde oder abzuschwächende) Krankheit vermieden werden kann. Anders ausgedrückt: Wenn möglicherweise durch eine Impfung ein Schaden entsteht und damit das Nichtschadensprinzip verletzt wird, steht dem der Schaden entgegen, der durch eine Nichtimpfung und die daraus resultierenden Erkrankungen und gesundheitlichen Folgen verursacht wird. Conditio sine qua non für diese Risikoabwägung ist ein hohes Maß an Sorgfalt bei der Auswertung und Bewertung der zugrundeliegenden medizinischen Datenlage, um jedes vermeidbare Schädigungsrisiko zu minimieren oder im Idealfall auszuschließen.
Benefizienz (Wohltunsprinzip)
Ein weiteres Prinzip, das eng mit dem Nichtschadensprinzip korreliert, fokussiert auf das Wohlergehen der zu impfenden Person [8].
Hauptaspekt ist dabei das Auftreten von Impfnebenwirkungen, die deutlich von den Impfschäden abzugrenzen sind. Impfnebenwirkungen bedingen zwar keine gesundheitlichen Schäden oder dauerhaften Nachteile, beeinträchtigen jedoch für einen überschaubaren Zeitraum (von meist wenigen Tagen) das Wohlergehen der zu impfenden Person. Hinzu tritt möglicherweise ein generelles Unbehagen, sofern die zu impfende Person eine Impfung zwar ablehnt, sich jedoch aufgrund der Duldungspflicht dieser medizinischen Maßnahme dennoch unterziehen muss. Gestört wird hierdurch nicht das Wohlergehen, sondern vielmehr das Wohlbefinden.
Analog zum Nichtschadensprinzip ist auch hier davon auszugehen, dass bei sorgfältiger Risikoabwägung der Nutzen sowohl für die zu impfende Person als auch für das militärische Umfeld größer ist als die damit verbundenen Unannehmlichkeiten.
Gerechtigkeit
Das Prinzip Gerechtigkeit/Fairness bezieht sich, wie oben schon dargestellt, explizit nicht nur auf die von einer medizinischen Maßnahme (hier der Impfpflicht) betroffene individuelle Person, sondern auf die Auswirkungen, die aus der Durchführung oder Unterlassung einer medizinischen Maßnahme für andere Personen oder gesellschaftliche Gruppen resultieren [4].
Eine solche Gruppe, die vom Prinzip Gerechtigkeit/Fairness betroffen ist, stellt die soldatische Gemeinschaft, die Bundeswehr in ihrer Gesamtheit dar. Dieser Gemeinschaft gehören die zu impfenden Einzelpersonen einerseits an, wie sie andererseits ihr gegenüber auch eine besondere Verantwortung haben. Es handelt sich hierbei um eine vulnerable (Patienten-)Gruppe [3], da alle Soldatinnen und Soldaten den Restriktionen des soldatischen Dienstrechts und militärischen Betriebs mit einer starken Fokussierung auf die Auftragserfüllung und die militärspezifischen Eigenheiten unterworfen sind. Unter Letzteren sind beispielsweise die Kasernierung oder die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften sowohl im Grundbetrieb als auch in Einsätzen sowie in der Landes- und Bündnisverteidigung, das enge Zusammenarbeiten etwa auf Schiffen, als Flugzeugbesatzungen oder in Kampffahrzeugen zu verstehen.
Im Fall einer (möglicherweise durch eine Impfung vermeidbaren) Infizierung eines Soldaten wäre das Risiko der Krankheitsübertragung auf andere Kameradinnen und Kameraden und somit deren gesundheitliche Schädigung oder zumindest temporäre Beeinträchtigung gegeben. Es könnte ihnen also durch die Impfverweigerung ein unmittelbarer Schaden oder Nachteil entstehen.
Darüber hinaus ist das Prinzip der Gerechtigkeit, wonach Schaden von Dritten abzuwenden ist, auch im Hinblick auf die Einsatzbereitschaft in den Streitkräften (dies sowohl im kleinen Bereich als auch im Ganzen) und die Gefahrenabwehr für die Gesamtgesellschaft anzuwenden: Durch den Ausfall oder die Beeinträchtigung von militärischen Formationen oder Strukturelementen oder auch von zentralen Einzelpersonen besteht im Ernstfall die Gefahr, dass sowohl Soldatinnen und Soldaten als auch Zivilistinnen und Zivilisten zu Schaden kommen und/oder militärische Operationen, mit allen Auswirkungen auch auf die deutsche Gesellschaft, gefährdet werden.
Conclusio
Aus medizinethischer Sicht unter Abwägung der vier Prinzipien nach Beauchamp und Childress ist eine Duldungspflicht für Impfungen nicht zu beanstanden, sondern stellt vielmehr ein Mittel dar, um – möglicherweise unter Inkaufnahme von kalkulierbaren Nachteilen Einzelner – die Masse der Soldatinnen und Soldaten als vulnerable Patientengruppe (und indirekt durch die Erhaltung der Verteidigungsfähigkeit auch die Gesamtbevölkerung) vor Schaden zu schützen.
Bei der Entscheidung, welche Impfungen in die Duldungspflicht einbezogen werden, ist jedoch ein strenger Maßstab anzulegen und es ist unabdingbar, auf breiter wissenschaftlicher Grundlage und evidenzbasiert eine sorgfältige gesundheitliche Schaden-Nutzen-Analyse vorzunehmen.
Literatur
- Beauchamp TL: A defense of the common morality. Kennedy Institute of Ethics Journal 2003; 18: 258–274. mehr lesen
- Beauchamp TL, Childress JF: Principles of biomedical ethics. 8. Aufl. New York–Oxford: Oxford University Press 2019.Bergemann L, Frewer A (Hrsg.): Autonomie und Vulnerabilität in der Medizin. Menschenrechte–Ethik–Empowerment. Bielefeld: Transkript 2018.Deutscher Ethikrat: Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht. Ad-hoc-Empfehlung. , letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
- Fischer D: The phenomenon of allocation. Military pathways in the light of biomedical ethical principles. In: Eagan SM, Messelken D (eds.): Resource scarcity in austere environments. An ethical examination of triage and medical rules of eligibility. Cham: Springer 2023; 89–98. mehr lesen
- Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz–SG). § 17a Gesunderhaltungspflicht und Patientenrechte. , letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
- Hild E: Autonomie in der biomedizinischen Ethik. Frankfurt: Campus 2006; 47–110.Miao G: Mittelpunkt Mensch. Lehrbuch der Ethik in der Medizin. 2. Aufl. Stuttgart: Schattauer 2017.Rauprich O, Steger F (Hrsg.): Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis. Frankfurt/Main: Campus-Verlag 2005.Riha O: Kodifizierung ärztlicher Ethik. Von Hippokratischen Eid zum Genfer Gelöbnis. Stuttgart: Hirzel 2010.Vollmuth R: Zur Instrumentalität und Instrumentalisierung der Militärmedizin. In: Elbe M (Hrsg.): Die Gesundheit des Militärs. Baden-Baden: Nomos 2020; 45–59.Weltärztebund: Deklaration von Genf – Das Ärztliche Gelöbnis. , letzter Aufruf 3. April 2024. mehr lesen
Manuskriptdaten
Zitierweise
Vollmuth R, Fischer D: Ethische Stellungnahme zur Duldungspflicht für Impfungen bei Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr. WMM 2024; 68(6): 261-263.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-309
Für die Verfasser
Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth
Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr
Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam
E-Mail: ralf1vollmuth@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Vollmuth R, Fischer D: [Ethical Statement on the Obligation to Tolerate Vaccinations among Bundeswehr Soldiers.] WMM 2024; 68 (6): 261-263.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-309
For the Authors
Colonel (MC) Prof. Dr. Ralf Vollmuth, MD
Bundeswehr Center for Military History and Social Sciences
Zeppelinstraße 127/128, D-14471 Potsdam
E-Mail: ralf1vollmuth@bundeswehr.org
Digitale Lageführung im Rahmen Force Health Protection
Digital Situation Management for Force Health Protection
Matthias Franka, Gerd Grossmanna, Jennifer Steffensa, Ulli Bauera
a Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr, Referat VI 2 - Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung, München
Zusammenfassung
Im Rahmen der Digitalisierung des militärischen Gesundheitswesens müssen auch die Lagebilder zur Unterstützung der Force Health Protection neu betrachtet werden. Unter Auswertung der Erkenntnisse aus der COVID-19-Pandemie und mit der Etablierung eines Geoinformations-Elements für den Zentralen Sanitätsdienst werden nun Schritte zur Realisierung eines Force Health Protection-Hub unternommen. Damit sollen Informationen von allen beteiligten Nationen gesammelt, aufbereitet und auch wieder zur Verfügung gestellt und Deutschland als mögliche Drehscheibe im Rahmen der Bündnisverteidigung auch im Force Health Protection- Bereich vorbereitet werden.
Schlüsselwörter: Digitalisierung, Lagebild, Force Health Protection, LV/BV, Einsatzbereitschaft
Summary
As part of the digitalization of the military healthcare system, the situation pictures to support Force Health Protection must also be reassessed. With the findings from the COVID-19 pandemic and the establishment of a geoinformation element for the Central Medical Service, steps are now being taken to implement a Force Protection Hub. The aim is to collect and process information from all participating nations, make the findings available to all of them and to prepare Germany as a possible hub within the alliance defense, including the area of force health protection.
Keywords: digitalization; situational awareness; Force Health Protection; ND/AD; operational readiness
Einleitung und Hintergrund
Force Health Protection (FHP) dient der Vorbeugung und Überwachung von übertragbaren Krankheiten, Umwelteinflüssen und anderen krankmachenden Ereignissen zum Schutz und Erhalt sowie zur Verbesserung der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte. Dabei ist es das Ziel, die Einsatz- bzw. Übungsvorhaben im Rahmen der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung ständig zu begleiten und entsprechend zu agieren. Bei der hohen Anzahl an weltweit eingesetzten Soldaten und vor dem Hintergrund der zunehmenden internationalen Krisenlage sowie der Herausforderung im Landes-/Bündnisverteidigungsfall ist eine zeitgemäße und digitale Lageführung im Rahmen des Führungsprozesses unabdingbar.
Basierend auf den durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierten „Essential Public Health Operations“ (EPHO) wird das Public Health-Wissensmanagement in der Bundeswehr ausgerichtet. Dazu sollen aktuelle Informationen, die bedeutend für den Gesundheitsschutz sind, einfließen. Die Erfahrungen der vergangenen Pandemiejahre und auch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine haben gezeigt, dass dies für die Bundeswehr ein möglicher Ansatz ist, die Soldatinnen und Soldaten bestmöglich vor Infektionskrankheiten zu schützen und mögliche Gefahren vorzeitig zu verhindern bzw. zu mindern.
Analoge Karten prägten – auch in Ermangelung von Alternativen – die Lageführung in militärischen Bereichen in den vergangenen Jahrzehnten und haben auch heute noch in bestimmten Anwendungsbereichen ihre Daseinsberechtigung. Jedoch hat sich die Art und Weise, wie Informationen gesammelt, analysiert und präsentiert werden, durch den Einsatz digitaler Technologien grundlegend verändert. Mit dem stetigen Fortschritt der Technologie und der zunehmend größeren Komplexität, wird die effektive Erfassung sowie vor allem deren zeitnahe Analyse/Darstellung von Informationen immer schwieriger, gleichzeitig aber auch immer wichtiger. Die Aufbereitung von Daten in sogenannten Dashboards sowie in digitalen Karten ist ein essenzieller Baustein für die Weiterentwicklung der Force Health Protection. Durch die Digitalisierung bieten sich hier diverse und moderne Möglichkeiten der Gestaltung.
Dieser Artikel stellt die einzelnen Aspekte der digitalen Lageführung im Rahmen der Force Health Protection vor und stellt mögliche Herausforderungen näher dar.
Notwendigkeit digitaler Lageführung
Die digitale Lageführung, insbesondere das Gesundheitslagebild, ist geprägt von vielfältigen Datenquellen, diversen Übertragungswegen, leistungsfähiger Datenverarbeitung sowie der Integration ziviler Technologie. Dies führt zu beschleunigten Entscheidungszyklen und schneller Weiterentwicklung. Um dies zu ermöglichen, müssen die wichtigen Kernelemente Daten, Software und Vernetzung verzugslos ineinandergreifen.
Im Vergleich zu den vergangenen Jahrzehnten hat die Anzahl verfügbarer Daten, sowohl kommerziell, vor allen Dingen aber auch „Open Source“, also im Internet frei verfügbar, massiv zugenommen. Nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie zeigte, wie wichtig tagesaktuelle Daten zur Einschätzung der Lage sind. Sehr schnell wurde das Dashboard der John-Hopkins-University, welches bereits am 22. Januar 2020 startete, über mehrere Jahre hinweg zur ersten Anlaufstelle, um den Verlauf der nachgewiesenen Infektionen weltweit nachvollziehen zu können. Kurze Zeit später wurde durch das Robert Koch-Institut ein auf Deutschland fokussiertes Dashboard (Lagebild) veröffentlicht. Auch für die Bundeswehr war schnell klar, dass eine Übersicht der festgestellten SARS-CoV-2-Infektionen für die Standorte nicht nur nützlich, sondern im Rahmen der Prävention auch zwingend notwendig war, um dynamisch Prognosen sowie Risikoabwägungen und notwendige Maßnahmen im Rahmen der Prävention ergreifen zu können. Aufgrund der Menge an Informationen, die durch die Sanitätsversorgungszentren über die Überwachungsstellen für Öffentlich-Rechtliche Aufgaben im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes gemeldet wurden, war eine analoge Lageführung und manuelle Aufbereitung der Daten nicht möglich. Daher wurde durch die Experten des Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr (Kdo SanDstBw) ein erstes Dashboard in Zusammenarbeit mit den Experten des damaligen Zentrums für Software-Kompetenz (heute Zentrum für Digitalisierung der Bundeswehr (ZDigBw)) und dem Zentrum für Geoinformationswesen der Bundeswehr (ZGeoBw) entwickelt und anschließend im Intranet der Bundeswehr zur Verfügung gestellt. Gerade im Bereich einer möglichst zeitnahen Darstellung ist eine digitale und zumindest in Teilen prozessautomatisierte Arbeitsweise unumgänglich. Daher ist die Digitalisierung der Lageführung auch für den Bereich der Force Health Protection in der Bundeswehr ein hochaktuelles Thema.
Aktueller Stand
Das Geoiformationselement des Zentralen Sanitätsdienstes der Bundeswehr (ZSanDstBw) ist bei KdoSanDstBw, Referat VI 2 - Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung (engl. Medical Intelligence (MedInt)) verortet. Durch die damit zur Verfügung stehende IT-Ausstattung ergibt sich die Möglichkeit, eigene Dashboards auf dem GeoInformations-Portal beim ZGeoBw zu entwickeln und zu betreiben. Derzeit werden verschiedene Dashboards sowohl intern genutzt (nur nach Anmeldung), im Weiteren aber auch für die Nutzung innerhalb der Bw im Intranet Bw unter https://gisportal.geoinfo.svc zur Verfügung gestellt. Unter anderem werden die Verbreitung der aviären Influenza sowie der Afrikanischen Schweinegrippe (Abbildungen 1 und 2) visualisiert und dargestellt.
Abb. 1: Dashboard aviäre Influenza vom 22. März 2024
Die Aktualisierung der Dashboards mit neuen Daten erfolgt momentan wöchentlich, wobei derzeit noch viele Prozessschritte manuell ausgeführt werden müssen. Für die beiden vorgenannten Dashboards werden beispielsweise E-Mails mit Anhängen durch das Friedrich-Loeffler-Institut an MedInt geschickt. Die angehängten Dateien sind dann durch den Analysten zu sichten. Da meist kein einheitlicher Austauschstandard vorliegt, müssen die Daten noch aufbereitet und bereinigt werden, was teils zu einem höheren Arbeitsaufwand führt. Anschließend kann der Prozess zum Upload in das GeoInformations-Portal angestoßen werden. Hier wurden bereits erste Softwareprodukte implementiert, die diesen Teilschritt automatisiert ausführen und dem Bearbeiter somit wertvolle Zeit sparen. Weitere Dashboards werden in Abstimmung mit den jeweiligen Bedarfsträgern erstellt und nach und nach im Intranet Bw veröffentlicht. Die direkte Bearbeitung der entsprechenden Lagebilder ist durch den Endnutzer allerdings nicht möglich.
Weitere Planung
Innerhalb des ZSanDstBw wird derzeit das System HERAS (Health Evaluation and Reporting and Analysis System) als Teil der Digitalisierung Gesundheitsversorgung Bundeswehr entwickelt. Im Rahmen der geänderten Sicherheitslage und der Wiederausrichtung auf die Landes- und Bündnisverteidigung ist nicht nur die Anzeige der gesammelten und aufbereiteten Daten notwendig, sondern auch die Möglichkeit, den Lagebildern unmittelbar neue Informationen hinzuzufügen oder diese zu aktualisieren. Während inzwischen erste Teilschritte automatisiert wurden, ist es weiterhin das Ziel, zukünftig neue Daten über entsprechende Schnittstellen direkt in das System bringen und diese nach einer Prüfung vollautomatisiert verarbeiten zu können. Dies führt zu einer schnelleren und jederzeit möglichen Aktualisierung der Daten, um mittels Lagebildführung in verschiedensten Szenarien agieren und reagieren zu können. Auch der Austausch mit den beteiligten Partnernationen soll auf eine neue bisher noch nicht verfügbare Ebene angehoben werden. Insbesondere mit Deutschland als möglicher Drehscheibe im Rahmen des Host Nation Supports zukünftiger Operationen sollen diese Herausforderungen im FHP-Bereich durch einen neu aufzustellenden innovativen FHP-Hub weiterentwickelt werden. Ziel ist es hierbei, dass zum einen die aktuellen Informationen innerhalb des ZSanDstBw gesammelt werden, vor allen Dingen aber ein ständiger Datenaustausch aller beteiligten NATO-Mitglieder stattfinden soll. Abbildung 3 stellt dar, welche Informationen aus den verschiedenen Gebieten die Stützpfeiler des FHP-Lagebildes sind.
Abb. 3: FHP-Brücke
Der FHP-Hub fördert, unterstützt und strukturiert somit die vorhandene Expertise im nationalen und internationalen Kontext der Force Health Protection. Um dies einfach und schnell zu ermöglichen, ist es daher unerlässlich, gemeinsame Standards und Prozesse zu etablieren und diese in den FHP-Hub international zu integrieren. Ein Beispiel wären hier Informationen zum Host Nation Support. Informationen zu den im eigenen Land befindlichen Krankenhäusern sind meist in den jeweiligen Ländern verfügbar, unterliegen jedoch keinem einheitlichen Standard. Daher müssten in einem ersten Schritt gemeinsame Standards geschaffen werden, um die zusammenkommenden Informationen möglichst ohne manuelle Eingriffe auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Ein weiterer Aspekt, um den oben erwähnten Kreislauf von Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung adäquat begleiten zu können, ist die Verfügbarkeit eines tagesaktuellen Lagebildes der stationierten Kräfte. Zu diesen Informationen müssen dann Daten von internen, vor allen Dingen aber auch externen Anbietern (als Beispiel sei hier ProMED-mail genannt) zeitnah ausgewertet werden. Bei einem Infektionsausbruch oder ähnlichem können die Kräfte vor Ort dann mit entsprechenden Verhaltensweisen vorgewarnt werden. Dies ermöglicht einen effizienten Umgang mit verschiedensten Szenarien sowie deren Entwicklungen und Veränderungen und bereitet einen prozessübergreifenden Ansatz vor, um digitale und interaktive Lagebildführung im nationalen und internationalen Kontext umsetzen zu können. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Nutzung von Methoden der künstlichen Intelligenz, um Modelle zu entwickeln, die Vorhersagen zu möglichen Ausbrüchen machen können.
Herausforderungen bei der weiteren Implementierung
Obwohl die digitale Lageführung viele Vorteile bietet, gibt es auch Herausforderungen bei der Implementierung, die zu lösen sind. Dazu gehört nicht zuletzt die Frage nach der zugrundeliegenden robusten IT-Infrastruktur. Insbesondere das Durchsuchen des Internets bzw. das Sammeln der Daten (sog. crawlen) benötigt einiges an Bandbreite. Anschließend müssen die Daten zur weiteren Verarbeitung vorbereitet werden. Dafür werden dedizierte Server benötigt, wobei hier der Schwerpunkt auf Speicherplatz und Prozessoren liegt. Wenn dann noch Modelle für Vorhersagen entwickelt werden sollen, müssen auch Workstations mit dementsprechenden Grafikkarten zur Verfügung stehen. Gerade bei digitalen Produkten ist die Bereitstellung weiterhin durch Interoperabilitätsprobleme stark eingeschränkt. Daher soll mit dem FHP-Hub eine gemeinsame Plattform entstehen, in der Informationen von allen teilnehmenden Nationen für alle teilnehmenden Nationen zur Verfügung gestellt werden. Damit zusammenhängend spielt auch der Datenschutz unter Berücksichtigung der jeweils zugrundeliegenden Gesetze sowie die IT-Sicherheit eine wichtige Rolle. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen internationalen IT-Sicherheitsvorfälle muss ein möglichst sicherer Datenaustausch ermöglicht und gewährleistet werden. Insbesondere der bilaterale bzw. zukünftig multilaterale Datenaustausch mit und zwischen den Partnernationen bereitet aufgrund der vielen verschiedenen und unterschiedlich genutzten Systeme erhebliche Probleme.Diese verhindern einen zeitnahen Austausch, da derzeit weiterhin überwiegend auf E-Mails zurückgegriffen werden muss. Damit ist der Mensch immer noch das Nadelöhr. Zudem bestehen die Notwendigkeit einer robusten IT-Infrastruktur und ein erhöhter Schulungsbedarf für das zur Verarbeitung eingesetzte Personal. Diese Herausforderungen müssen konsequent angegangen werden, um eine reibungslose Integration zu ermöglichen und diese durchhaltefähig zu gewährleisten.
Diskussion
Im Rahmen der Zeitenwende und der damit einhergehenden Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung hat ein großer Transformationsprozess der Bundeswehr begonnen. Unterstützt durch die Digitalisierung soll hierbei auch im medizinischen Bereich der Schutz der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte verbessert werden.
Ziel ist es, dass sowohl den Entscheidungsträgern als auch den Analysten große Mengen von Daten einfach angezeigt, durchsuchbar, gefiltert und optisch gut erkennbar präsentiert werden. Damit soll gewährleistet werden, dass auch nur die Informationen angezeigt werden, die direkt zur Entscheidungsfindung beitragen. Die Grundvoraussetzung dafür ist allerdings die Verfügbarkeit der Daten. Während im zivilen Bereich der Austausch von Daten über definierte Schnittstellen und Standards meist problemlos funktioniert, ist dies im militärischen Bereich mit mehreren Nationen nicht so einfach. Naturgemäß haben militärische Informationssysteme hohe Sicherheitsvorgaben und sind im Allgemeinen nicht über das Internet erreichbar. Fehlende oder zum Teil nicht implementierte Standards, die Sprachvielfalt und nicht zuletzt die Frage nach der Möglichkeit eines Zusammenschlusses von verschiedensten Informationssystemen stellen hier große Herausforderungen an die Interoperabilität.
Insbesondere mit Deutschland als möglicher Drehscheibe für zukünftige Operationen sollen diese Herausforderungen durch einen neu aufzustellenden und innovativen FHP-Hub gemeistert werden. Damit sollen alle beteiligten Nationen in einem kontinuierlichen Daten-/Informationsaustausch stehen und über die notwendige wissenschaftliche Fachexpertise verfügen können. Im einfachsten Fall direkt über Dashboards, die über eine Webseite die benötigten Informationen anzeigt, um damit die Vorbereitung von Übungen und/oder Einsätzen aus präventivmedizinischer Sicht zu unterstützen und zu begleiten.
Durch Nutzung des derzeit in Entwicklung befindlichen Wissensmanagement-Systems (HERAS) und dem Einsatz moderner Geo-Informationssysteme (hierzu wird durch das ZGeoBw ArcGIS genutzt) können die Lagebilder aus den aufbereiteten Informationen in verschiedenen Schichten mit steigendem Detailgrad bereitgestellt werden. Die oben genannten Aspekte haben zu einem Paradigmenwechsel im Rahmen der Digitalisierung geführt und tragen dazu bei, Innovationen zu forcieren und weiterzuentwickeln.
Kernaussagen
Digitale Lagebilder
- sind in der Lage, komplexe Informationen zeitnah bereitzustellen,
- verknüpfen für ein Gesamt-Lagebild Informationen aus verschiedenen medizinischen Bereichen miteinander,
- unterstützen den Kernauftrag der Force Health Protection, die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte aus dem medizinischen Blickwinkel sicherzustellen und
- können ein internationales Lagebild etablieren, auch mit Deutschland als Drehscheibe für die LV/BV.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Bildquellennachweis
Alle Bilder wurden unmittelbar aus den Dashboards des KdoSanDstBw entnommen bzw. im Referat VI-2 erstellt und sind Eigentum des KdoSanDstBw.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Frank M, Grossmann G, Steffens J, Bauer U: Digitale Lageführung im Rahmen Force Health Protection. WMM 2024; 68(6): 264-268.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-304
Für die Verfasser
Oberstleutnant Matthias Frank
Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr
Referat VI 2 – Gesundheitsüberwachung und -berichterstattung
Dachauer Straße 128, 80536 München
E-Mail: matthias1frank@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Frank M, Grossmann G, Steffens J, Bauer U: [Digital situation management for Force Health Protection]. WMM 2024; 68(6): 264-268.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-304
For the Authors
Lieutenant Colonel Matthias Frank
Bundeswehr Medical Service Headquarters
Branch VI 2 – Medical Intelligence & Information + Surveillance
Dachauer Str. 128, D-80637 Munich
E-Mail: matthias1frank@bundeswehr.org