Bericht zur Französisch-Deutschen Militär-Unfallchirurgie Tagung im Bundeswehrkrankenhaus Berlin vom 30. bis 31. März 2023:
Die Therapie langer Knochendefekte
Für die Therapie langer Knochendefekte etablierten sich weltweit zwei sehr unterschiedliche Rekonstruktionstechniken. Die 1986 erstmals durch Alain Masquelet beschriebene Masquelet-Technik (“Induced Membrane Technique“), die im französischen Sprachraum beinahe alternativlos eingesetzt wird, und die seit 1968 durch Gavriil Ilizarov eingeführte Technik des Segmenttransportes, der man in Deutschland überwiegend den Vorzug gibt. So ist es nachvollziehbar, dass sich spätestens im Auslandseinsatz (Djibouti, Mali, Afghanistan) in der Zusammenarbeit mit französischen Kollegen und auf Fachkongressen zwei Welten berühren. Vor diesem Hintergrund hatten die unfallchirurgischen Chefs, OTA Prof. Dr. Christian Willy, BwKrhs Berlin und Col Dr. Thomas Demoures, Hopital d´Instruction des Armées (HIA) Paris, die Tagung geplant. Die organisatorische Leitung oblag Frau OSA Willner, Berlin. Um Vor- und Nachteile, den Weg zur Auswahl der patientenadaptiert “optimalen” Versorgungstechnik und ggf. die Kombination beider Techniken zu diskutieren, trafen sich daher am 30. und 31. März 2023 erstmalig Unfallchirurgen und plastische Chirurgen aus französischen und deutschen Militärkrankenhäusern. Eingeladen waren zudem kooperierende Kollegen der BG-Kliniken (Berlin, Murnau, Halle), der Charité und des Universitätskrankenhauses in Madrid und Riga (Abbildung 1).
Abb. 1: Teilnehmer zum Auftakt der Tagung am Donnerstag, den 30. März (von links nach rechts): OSA Stierholz (Berlin), OFA Dr. Gaab (Berlin), OFA d. R. PD Dr. Tjardes (Köln), Dr. Lalanza (Barcelona), OFA Dr. Vogt (Berlin), Dr. Spranger (UKB Berlin), J. von Negenborn (Berlin), Lt (SanOA) Schietzel (Berlin), Dr. Langwald (BG Halle), MC Dr. Demoures (Paris), MP Dr. Russo (Paris), Dr. Durand (Paris), OSA Schönenberg (Hamburg), Dr. Ojeda Thies (Madrid), OFA Dr. Wendlandt (Ulm), OTA Prof. Dr. Willy (Berlin). (Bildquelle: Pulpanek, Berlin)
Befürworter des Masquelet Verfahrens empfinden den Transport insgesamt als aufwendiger, langwieriger, zu weilen komplex, anfälliger hinsichtlich Komplikationen (Pin-Irritationen & Schmerz beim Belasten/Bewegen und Transportieren, Pin-Infekt, Pin-Bruch), unkomfortabel, die Beweglichkeit der angrenzenden Gelenke teilweise erheblich einschränkend und sozial stigmatisierend. Der Segmenttransport erfordert ein engmaschiges Monitoring und ein Teaching der Beteiligten, um die genannten Komplikationen zu begrenzen. Auf der anderen Seite kritisieren Befürworter des Segmenttransportes vor allem die unstrukturierte Knochenqualität der Rekonstruktion nach Masquelet, bei der der kortikal tubuläre Aufbau des klassischen Röhrenknochens fehlt. Sie begründen hiermit – eher anekdotisch – ihre unbefriedigenden Erfahrungen und sehen zudem eine fehlende Revaskularisierung des Allograftes, eine fehlendeoder eingeschränkte Defektüberbrückung, keinen festen Anschluss an den angrenzenden Knochen und das Refrakturrisiko. Beide Verfahren genießen jedoch eine große „community“, die ihrer Methode vertraut, und ihr auch bei Misserfolgen treu bleibt – bishin zum Re-Masquelet oder Re-Re-Masquelet .... Dennoch zeigen beide Verfahren tatsächlich herausragend gute Ergebnisse in der Literatur, ohne dass jedoch ihre Grenzen genau definiert wurden (Tabelle 1).
Masquelet-Technik versus Segmenttransport |
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Preisvorteil |
M |
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Zuverlässigkeit |
M |
ST |
Abhängigkeit Auto-/Allograft |
M |
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Anatomisches Regenerat |
M |
ST |
Verzögerung (mehrzeitig) |
M |
(ST) |
Abhängigkeit von Antibiotika |
M |
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Riskanter bei kritischen Infektionen |
M |
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Unabhängig von Defektstrecke |
M |
ST |
Weichteildefektdeckung erforderlich |
M |
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Schmerzbelastung |
ST |
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Überwachung/Monitoring |
ST |
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Patienten Compliance |
M |
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Dynamische Korrektur |
ST |
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Gefahr der Beinlängendifferenz |
M |
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Gefahr der Gelenkkontraktur |
ST |
Tab. 1: Gegenüberstellung der beiden Verfahren (Masquelet-Technik (M) und Segmenttransport (ST)) zur Deckung von knöchernen Defekten. Herausarbeitung des Unterschiedes anhand von praxisnahen Kriterien.
Sich diesem Grenzbereich und den Hauptnachteilen der jeweiligen Methode zu nähern, stand daher im Fokus der Tagung. So wurde z. B. diskutiert über die Nachteile der die Extremität durchbohrenden Fixateur-externe-Pins als Werkzeuge des Segmenttransports (Möglichkeit der Reduktion der Pinanzahl ohne Einbuße bei der Stabilität, alternativer Transport über innenliegende Kabel (Kern und Hackl, beide BG-Murnau; Vogt, Berlin, Abbildung 2). Hochinteressant war die Erörterung der Möglichkeit, die Gesamttragezeit für den Fixateur durch bi- oder trisegmentale Transporte mindestens zu halbieren, wodurch die Frage entstand, warum ab einer bestimmten Defektlänge nicht immer mehrsegmental vorgegangen werden sollte. Weiterhin wurde betont, dass der Transport so früh wie möglich initiiert werden sollte, da er eine katalytische Wirkung auf Biologie, Neoangiogenese und Immunkompetenz „entfacht“.
Abb. 2: OFA Dr. Dennis Vogt, Leiter des Bereiches Septisch-Rekonstruktive Chirurgie am BwKrhs Berlin oblag die wissenschaftliche Leitung der Tagung (Bildquelle: Pulpanek, Berlin).
Während das obligat zweizeitige Masquelet-Verfahren erst nach dem Zwischen-Intervall von sechs Wochen das defektauffüllende Knochenmaterial (z. B. Spongiosa) einbringt, können mit der Transporttechnik alle Transportvorkehrungen im ersten Eingriff zusammengefasst werden. Bei einer Transportleistung von 1 mm/Tag wäre ein Defekt von immerhin 4 cm (8 cm bei bisegmentalem Transport (!)) schon transportiert und mit Kallus „gefüllt“, wenn mit der zweiten Masquelet-Operation gerade erst begonnen wird. Um die unkomfortable Fixateurtragezeit bis zur nachfolgenden Konsolidierung weiter zu verkürzen, kann dann eine Konversion auf ein internes Verfahren erfolgen – vorzugsweise auf einen Nagel (ggf. antiseptisch beschichtet, minimalinvasiv, Konzept: lengthening and than nailing = LATN). Nachfolgend wird die Reifung und Differenzierung des Knochens im „Stillen“ voranschreiten. In Abhängigkeit von der Stabilität der Verankerung (hier kaum Unterschiede zwischen beiden Verfahren) kann der Patient zunehmend voll belasten. Alles in allem lässt der Segmenttransport eine vollumfängliche, die Biologie der Weichteile und des Knochens respektierende, Rekonstruktion samt Knochenneubildung (ohne Allograft) zu – eine Rekonstruktion, die im Falle von panresistenten Keimen den Extremitätenerhalt sichern kann.
Das Masquelet Verfahren benötigt Infektfreiheit (Russo und Durand, beide Paris, Abbildung 3) und eine stabile Weichteildeckung (Demoures, Paris; Ojeda-Thies, Madrid, Abbildung 4) – nicht selten freie Lappen –, die auch ein „Wieder-Auf-Und-Zu“ gestattet. Mit dem Fixateur kann zum einen akut verkürzt werden, zum anderen ist auch ein offener Transport möglich, da sich nicht nur Knochen, sondern auch Weichteile transportieren lassen, so dass mit dem Abschluss des Segmenttransportes Totraum und Weichteildefekt beseitigt sind. Der Transport ist weniger abhängig von mikrochirurgischer Expertise und im Rahmen einer Infektsanierung infolge der bereits angesprochenen Katalysatorwirkung (v. Negenborn, Berlin) unterstützend. Diskutiert wurde zudem über das Potential vaskularisierter Transplantate in seinen verschiedenen Facetten, z. B. - vaskularisiertes Fibulatransplantat mit und ohne Allograft im Sinne der Capanna-Technik (Wendlandt, Ulm; Stierholz, Berlin; Küpper, BG Berlin).
Abb. 3: Links im Bild Dr. Marjorie Durand (IRBA, Paris), rechts im Bild MP (Médecin Principal, NATO OF-3) Dr. Anne-Pauline Russo (HIA Bégin, Paris)
Abb. 4: Links: Col Dr. Thomas Demoures aus dem Army Instruction Hospital Bégin (Paris). Rechts: Dr. Cristina Ojeda Thies (Madrid) (Bildquelle: Pulpanek, Berlin).
Trotz dieser Pro-Transport-Argumente sollte nicht nur transportiert werden. Der Fixateur wird bei etwas höherer technischer Komplexität zwar ein breiteres Spektrum bespielen, könnte aber gerade bei gelenknahen Rekonstruktionen, um die Funktionalität und Beweglichkeit der Gelenke zu erhalten, ideal mit der Masquelet-Technik ergänzt werden (Langwald, BG Halle, Abbildung 5, Ojeda-Thies, Madrid). Genau hier, in der Kombination beider Techniken, besteht noch Freiraum für Neues, ein Stillstand ist nicht erkennbar.
Abb. 5: Dr. Steffen Langwald (BG-Klinik Halle)
Aber auch bei adjuvanten Maßnahmen zeigen sich Weiterentwicklungen: So werden beschichtete Implantate (Trampuz, Charité, Berlin) oder die Anwendung von Bakteriophagen (Willy, Berlin) den rekonstruktiven Spielraum erweitern. Weitere Versorgungsverfahren selbst nach einer Amputation, wie z. B. die transkutane Endo-Exo-Prothese (Willner, Berlin; Schröter, BG Halle) oder Umkehrplastiken (Malzubris, Riga) müssen ebenso in den Versorgungsalgorithmus integriert werden.
Wie sich die Rekonstruktionstechniken auf lange Sicht bewähren werden, muss hinsichtlich Knochenheilung, Belastbarkeit, Infektpersistenz, Reinfektionsrate, Frakturanfälligkeit und prothetischer Versorgung evaluiert werden – am besten gemeinsam. Daher war es dann auch ein Erfolg der Tagung, dass die Teilnehmer, insbesondere die Militärangehörigen aus Deutschland und Frankreich sich darauf verständigten, dass es keineswegs bei diesem einmaligen Austausch bleiben solle. Zukünftig soll eine gegenseitige Einbindung in klinische Fälle sowie Forschungsvorhaben forciert werden. Denn wenn sich durch die angeregten Diskussionen eines herauskristallisiert hat, dann, dass es kein entweder Masquelet oder Segmenttransport oder Fibulatransfer zu sein hat. Möglicherweise liegt in der Kombination der Verfahren die Zukunft.
OFA Dr. Dennis Vogt
Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik 14, Forschungs- und Behandlungszentrum Septische Defektwunden Scharnhorststr. 13
10115 Berlin