Editorial
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
die Neuausrichtung der Bundeswehr auf Landes- und Bündnisverteidigung und die notwendigen Anpassungen der sanitätsdienstlichen Versorgung unserer Soldaten und Soldatinnen im militärischen Einsatz erfordern vom Fachgebiet Urologie vielfältige Überlegungen hinsichtlich Ausbildung und fachlich-inhaltlicher Schwerpunktsetzung. Im Spannungsfeld zwischen gesetzlichen Umstrukturierungen im Rahmen der Krankenhausreform (Notfallversorgungsstufen und Leistungsgruppen) und dem Anspruch, unsere Soldaten im LV/BV Szenario bestmöglich versorgen zu können, gilt es für die Urologie Lösungen zu finden, die sowohl den zivil-rechtlichen als auch den wehrmedizinisch relevanten Aspekten gerecht werden.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte im Internationalen Krisenmanagement haben zu der Erkenntnis geführt, dass die Urologie in der Rettungskette ab der Versorgungstufe 3 erforderlich ist. Der Artikel von Schoch et al. präsentiert hierzu die von der Konsiliargruppe Urologie erhobenen Daten aus der Role 3 des U.S. Air Force Hospitals in Bagram, Afghanistan.
Der Leitartikel in der vorliegenden Ausgabe der wehrmedizinischen Monatszeitschrift präsentiertdas „Konzept der Konsiliargruppe Urologie zum Einsatzurologen“. Für eine qualitativ angemessene und zuverlässige Versorgung im Einsatz (gerade als einziger urologischer Facharzt vor Ort) reichen die Anforderungen, die die Landesärztekammern für die Zulassung zur Facharztprüfung Urologie vorgeben insbesondere bei der Handlungskompetenz, also den „handwerklichen“ Fähigkeiten, aus unserer Sicht nicht annähernd aus. Relevante Eingriffe an den Nieren oder im Becken, die bei urotraumatologischen Notfällen im Krieg erforderlich sein könnten, werden üblicherweise erst als Facharzt bzw. Fachärztin mit der notwendigen Frequenz durchgeführt, damit hier eine ausreichende Qualität abgebildet werden kann.
Diese Expertise wird im Routinebetrieb der Kliniken erworben, wo zumeist große onkologische Eingriffe die Indikation für ablative und rekonstruktive Verfahren darstellen, da im Alltag deutscher Kliniken kaum Traumata mit relevanter Beteiligung der urogenitalen Organe auftreten. Hier bilden also die onkologischen Organzentren die notwendige Grundlage für ausreichende Eingriffe sinnvoller Schweregrade. Der Beitrag zum da Vinci-Operationsroboter von von Dobschütz und Wiedmann geht auf diesen Zusammenhang detailliert ein. Der Artikel von Zimmermann und Liebchen sowie der von Hoppach geben einen Einblick in die komplexen handwerklichen Anforderungen an rekonstruktive Verfahren, um möglichst zufriedenstellende funktionelle Ergebnisse erzielen zu können.
Es wird deutlich, dass die Urologie im wehrmedizinischen Kontext von erheblicher Bedeutung ist und dass sie für die Zukunft gesteigerte Ressourcenzuteilung erfordert, um qualitativ wirken zu können. Wir, die Urologen des Sanitätsdienstes, möchten ihnen in diesem Heft unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit und unsere Schlussfolgerungen zur zukünftigen Einsatzurologie präsentieren.
Wir wünschen Ihnen informative Stunden bei der Lektüre dieses Heftes!
Ihre
Dr. Cord Matthies
Leiter Konsiliargruppe Urologie
Klinischer Direktor BwKrhs Hamburg
Prof. Dr. Hans Schmelz
Klinischer Direktor Urologie BwZKrhs Koblenz
Die Urologie im internationalen Krisenmanagement der Bundeswehr – ein Rückblick auf die urologische Versorgung in Afghanistan
Urology during deployment of the Bundeswehr – Urological treatment in Afghanistan
Justine Schocha, Christian Rufb, Cord Matthiesc, Holger Heidenreichd, Karl von Dobschützd, Hans Schmelza, Tim Nestlera
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz, Klinik für Urologie
b Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik für Urologie
c Bundeswehrkrankenhaus Hamburg, Klinik für Urologie
d Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Klinik für Urologie
Zusammenfassung
Gefechtsassoziierte Verletzungen, insbesondere durch Explosionen und Schrapnelle, sind in internationalen Krisenmanagement-Einsätzen (IKM) häufig und können zu Verwundungen des Urogenitaltrakts führen. In westlichen Ländern treten solche urogenitalen Verletzungen im zivilen Umfeld nur selten auf. Diese Studie wurde mit dem Ziel durchgeführt, die Arbeitsbelastung eines Urologen im Krisenmanagement-Einsatz zu evaluieren und mit der Regelversorgung im Bundeswehrkrankenhaus zu vergleichen.
Daten über operative Eingriffe und ambulante Patientenvorstellungen wurden über einen Zeitraum von 5 Jahren (2015–2020) in einem US-amerikanisch geführten Field Hospital (Role 3) in Bagram Airfield, Afghanistan, erhoben. Deutsche Urologen behandelten im Durchschnitt einen urologischen Patienten pro Tag und führten insgesamt 314 chirurgische Eingriffe durch. Diese wurden in gefechtsassoziierte Eingriffe (Battle Related Injuries (BRI), n = 169; 53,8 %) und nicht-gefechtsassoziierte Eingriffe (non-BRI, n = 145; 46,2 %) unterteilt. In der BRI-Gruppe lag der Schwerpunkt der Eingriffe hauptsächlich auf dem äußeren Genital (n = 67; 39,6 %), während in der non-BRI-Gruppe endourologische Operationen häufiger durchgeführt wurden (n = 109; 75,1 %). Zusätzlich war auch eine höhere Rate an Laparotomien und Beckenoperationen in der BRI-Gruppe zu verzeichnen (n = 51; 30,2 %). Darüber hinaus zeigten sich bei den Eingriffen am äußeren Genital signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen. In der BRI-Gruppe waren 58,2 % (n = 39) der Eingriffe traumabedingte Skrotalexplorationen, ein Verfahren, das in der non-BRI-Gruppe nicht durchgeführt wurde (p < 0,001). Im Gegensatz dazu waren 50,0 % (n = 13) der Skrotalexplorationen in der non-BRI-Gruppe auf den Verdacht einer Hodentorsion zurückzuführen, gefolgt von einer Orchidopexie, während dies in der BRI-Gruppe nur bei 1,5 % (n = 1) der Fälle der Fall war (p < 0,001). Bei den ambulanten Patienten im IKM-Einsatz standen Beschwerden des äußeren Genitals (n = 25 2; 32,7 %) und Nieren-/Harnleitersteine (n = 181; 23,5 %) im Vordergrund. Die konservative Behandlung von Patienten im IKM-Einsatz ähnelt der Behandlung von Soldaten in Deutschland im Frieden. Allerdings erfordern BRI spezielle Kenntnisse in der abdominalen und retroperitonealen Urochirurgie sowie grundlegende Fähigkeiten in der rekonstruktiven Chirurgie, insbesondere bei Eingriffen im Bereich des äußeren Genitals.
Schlüsselworte: Urogenitaltrauma, Kriegsverletzung, Afghanistan, Einsatz, Urochirurgie, Einsatzchirugie
Summary
In modern warfare, battle-related injuries, particularly those caused by blasts, are prevalent and often result in genitourinary trauma. Such injuries are relatively uncommon in civilian settings within Western countries. This study aimed to assess the urological workload for surgeons on deployment and compare it to the domestic workload in the Federal Armed Forces Hospital in Germany. Data about performed surgeries and ambulatory patient consultations were acquired over five years of deployment (2015–2020) in a Role 3 U.S. field hospital in Afghanistan. German urologists managed an average of one urological outpatient per day and carried out 314 surgical procedures. These procedures were classified into battle-related interventions (BRI, n = 169; 53.8 %) and non-battle-related interventions (non-BRI, n = 145; 46.2 %). Within the BRI group, the focus of most interventions was on the external genitalia (n = 67; 39.6 %), while endourological procedures were more common in the non-BRI group (n =109). This aligns with the higher incidence of laparotomies and abdominal or pelvic procedures observed in the BRI group (n = 51; 30.2 %). Additionally, procedures performed on the external genitalia showed significant differences between the groups. In the BRI group, 58.2 % (n = 39) of the interventions involved scrotal explorations due to trauma, a procedure not performed in the non-BRI group (p < 0.001). In contrast, 50.0 % (n = 13) of the scrotal explorations in the non-BRI group were related to suspected testicular torsions, followed by orchidopexy, compared to only 1.5 % (n = 1) in the BRI group (p < 0.001). Regarding outpatients, most consultations were due to issues with the external genitalia (n = 252; 32.7 %) or kidney/ureteral stones (n = 181; 23.5 %,). The management of urological outpatients in a deployment setting is like the care provided to soldiers in Germany. However, BRI demand expertise in abdominal and retroperitoneal urological surgery and fundamental skills in reconstructive surgery, particularly for procedures involving the external genitalia.
Keywords: urogenital trauma; combat injury; Afghanistan; deployment; urosurgery; damage control surgery
Einleitung und Hintergrund
Die Bundeswehr ist im Rahmen internationaler Krisenmanagement-Einsätze (IKM) in verschiedenen Regionen auf der ganzen Welt. Diese Einsätze erfolgen häufig im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen, der NATO oder der Europäischen Union. Ziel dieser Einsätze ist es, zur Stabilisierung von Krisenregionen beizutragen, den Wiederaufbau zu unterstützen und die humanitäre Lage zu verbessern. Ein Beispiel dafür war der Einsatz in Afghanistan, in welchem die Bundeswehr zur Wiederherstellung und Sicherung des Friedens sowie zur Unterstützung der zivilen Bevölkerung beitrug.
In irregulären Konflikten, welche sich häufig im Rahmen von IKM-Einsätzen finden, ist die Sterblichkeit durch Verwundungen in den letzten Jahrzehnten im Vergleich zu konventionellen Kriegseinsätzen stark gesunken [2]. Diese Entwicklung ist hauptsächlich durch die Weiterentwicklung und den weitreichenden Gebrauch von persönlicher Kevlar-Schutzausrüstung bedingt. Dadurch haben sich auch die Verwundungsmuster verändert. Es konnte eine Abnahme an penetrierenden, abdominellen Verwundungen sowie damit einhergehend eine relative Zunahme an äußeren urogenitalen Verwundungen, insbesondere durch Sprengmittel, verzeichnet werden [13]. Das äußere Genital ist in etwa 5 % der gefechtsassoziierten Verwundungen betroffen. Diese zeichnen sich zumeist durch starke Verschmutzung sowie große Weichteildefekte aus [7]. Im zivilen Bereich sind urogenitale Verletzungen hingegen selten und entstehen meist durch stumpfe Gewalteinwirkungen wie Verkehrsunfälle oder Stürze [4][10].
Mit den neuen militärischen Herausforderungen, die sich aus dem IKM-Einsatzspektrum ergeben haben, wachsen auch die Ansprüche an die urologische Versorgung im Auslandseinsatz. Ziel dieser Arbeit war es, die urologische Versorgung bestehend aus ambulanter medizinischer Behandlung und operativen Eingriffen zu analysieren und mit dem ambulanten Patientenaufkommen im Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz zu vergleichen. Darüber hinaus beschäftigt sich diese Studie mit der Frage, ob Urologen vor einer Verwendung im IKM-Einsatz zusätzliche Weiterbildungen im Bereich der rekonstruktiven und plastischen Urochirurgie absolvieren sollten.
Material und Methoden
Über einen Zeitraum von 5 Jahren (2015 bis 2020) wurden anonymisierte Behandlungsdaten von Patienten erfasst, die im US-amerikanischen Field Hospital Role 3 in Bagram, Afghanistan, von deutschen Urologen behandelt und/oder operiert wurden (Abbildung 1). Fehlende Daten aus den Jahren 2017 bis 2018 wurden von der Analyse ausgeschlossen.
Abb. 1: Haupteingang des Craig Joint Theater Hospital in Bagram (Role 3), Afghanistan, benannt nach U.S. Army Staff Sgt. Heathe N. Craig, der 2006 bei einer Rettungsmission tödlich verwundet wurde. (Bild: Tim Nestler)
Insgesamt waren in diesem Zeitraum täglich etwa 10 000 bis 20 000 US-amerikanische und alliierte Soldaten in Bagram stationiert. Zudem wurden von deutschen Urologen auch Zivilisten und Mitglieder von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen behandelt. Um die Verteilung der verschiedenen Krankheitsmuster in der urologischen Versorgung in Afghanistan mit der regulären Versorgung in Deutschland zu vergleichen, wurden urologische Patienten im Bundeswehrkrankenhaus Koblenz über einen Zeitraum von zwei Monaten (10/2022–12/2022) in denselben Kategorien ausgewertet:
- Beschwerden des äußeren Genitals
- Harnleiter-/Nierenkoliken,
- Infektionen,
- Miktionsbeschwerden,
- Hämaturie,
- V. a. Neoplasie und
- sonstige urologische Erkrankungen.
Die statistische Analyse erfolgte mit der IBM SPSS Statistics Software für Windows (Version 24.0). Kategorische Variablen wurden als n (%) dargestellt. Die Daten wurden mit dem Chi-Quadrat-Test nach Pearson analysiert, und Unterschiede galten als statistisch signifikant bei einem p-Wert von < 0,05.
Ergebnisse
Über einen Zeitraum von 4 Jahren behandelten deutsche Urologen in einer US-Einrichtung in Afghanistan 733 Patienten in insgesamt 1 011 ambulanten Konsultationen. Im Durchschnitt wurden 0,7 Patienten pro Tag behandelt (Spanne: 0–8 Konsultationen pro Tag). Bei einer Vorstellung konnten mehrere Diagnosen gestellt werden.
Die häufigsten Gründe für urologische Konsultationen waren Beschwerden im Bereich des äußeren Genitals wie unspezifische Hodenschmerzen, Varikozelen, Hydrozelen, Meatusstenosen und Hernien (n = 252; 32,7 %), Nieren- oder Harnleitersteine (n = 181; 23,5 %) und Infektionen (n = 140; 18,2 %). Seltener wurden die Patientenvorstellungen aufgrund von Miktionsstörungen (n = 78; 10,1 %), Hämaturie (n = 46; 6,0 %) und unspezifischen Rücken- oder Bauchschmerzen (n = 55; 7,1 %) durchgeführt. Der Verdacht auf eine maligne Erkrankung im Auslandseinsatz war selten, aber vorhanden (n = 18; 2,3 %). Die Ergebnisse sind in Abbildung 2 dargestellt.
Abb. 2: Ambulante Patientenvorstellung in Bagram (n = 733): Wiedervorstellungen und Operationsindikationen wurden von der Analyse ausgeschlossen. Die Konsultation eines Patienten konnte mehrere Diagnosen enthalten (n = 770).
Zum Vergleich wurde die Verteilung der Krankheitsmuster in der urologischen Versorgung in einem deutschen Militärkrankenhaus analysiert. In einem Zeitraum von zwei Monaten (10/2022–12/2022) wurden dort 720 Patienten mit 817 Diagnosen behandelt. Im Durchschnitt wurden 15 Patienten pro Tag gesehen (Spanne: 1–25 Konsultationen pro Tag). Häufige Gründe für Konsultationen in Deutschland waren medizinische Untersuchungen und Nachsorge (n = 407; 49,8 %) sowie weitere Gründe, die im Auslandseinsatz nicht auftraten, wie erektile Dysfunktion (n = 40; 5 %), Testosteronersatztherapie (n = 20; 2,4 %), bestätigte oder vermutete Prostatakarzinomerkrankungen (n = 2; 3,5 %) und Nachsorge von Nierenzysten (n = 18; 2,2 %). Diese Kategorien wurden aus der weiteren Analyse ausgeschlossen, was zu einem Patientenkollektiv von insgesamt 302 Patienten führte.
Sowohl im Einsatz als auch in Deutschland waren die meisten Patienten mit Beschwerden des äußeren Genitals vorstellig (im Einsatz: n = 252; 32,7 %; in Deutschland: n = 87; 28,8 %; p = 0,178). In Deutschland traten jedoch signifikant häufiger Miktionsstörungen (n = 76; 25,1 %; p < 0,001) und Nieren-/Harnleitersteine (n = 26; 8,6 % p < 0,001) auf als im Einsatz (Miktionsstörungen: n = 78; 10,1 %; Nieren-/Harnleitersteine: n = 181; 23,5 %).
Die Ergebnisse sind in Abbildung 4 grafisch dargestellt.
Abb. 4: Ambulante Patientenvorstellung in der urologischen Klinik des BwZKrhs Koblenz (n = 302): Insgesamt wurden 817 Diagnosen von 720 Patienten erfasst. Nach Ausschluss von Vor- und Nachsorgeuntersuchungen (407), sowie Vorstellungen wegen erektilen Dysfunktionen (n = 41), Testosteronsubstitutionen (n = 20), malignen Erkrankungen (n = 29) und Zystenkontrollen (n = 18), bestand der auszuwertende Datensatz aus 302 Patientenvorstellungen ohne Wiedervorstellungen. Die Vorstellungsgründe wurden ausgeschlossen, da sie im Auslandseinsatz nicht vorkamen.
Chirurgische Eingriffe wurden in kriegsbedingte (BRI: n = 169; 53,8 %) und nicht-kriegsbedingte (non-BRI: n = 145; 46,2 %) Operationen unterteilt. Bei BRI wurden hauptsächlich Eingriffe an den äußeren Genitalien vorgenommen (n = 67; 39,6 %; p < 0,001), während bei non-BRI endourologische Eingriffe überwogen (n = 109; 75,2 %; p < 0,001). Im BRI-Bereich gab es häufiger Laparotomien und Eingriffe im Bauch- oder Beckenbereich (n = 51; 30,2 %; p < 0,001). Abbildung 5 zeigt die Ergebnisse.
Die Art der Eingriffe am äußeren Genital unterschied sich zusätzlich signifikant in beiden Gruppen. In der BRI-Gruppe waren 58,2 % der Eingriffe skrotale Explorationen mit Debridement oder Ablation, während diese in der non-BRI-Gruppe nicht vorkamen. In der non-BRI-Gruppe wurde hingegen die Hälfte der skrotalen Freilegungen aufgrund des Verdachts auf Hodentorsion mit anschließender Orchidopexie durchgeführt (p < 0,001).
Zusätzlich gab es einen signifikanten Unterschied in der Durchführung von retrograden Urethra-/Zystogrammen (RUG). In der BRI-Gruppe lag die Rate bei 31,7 %, mutmaßlich aufgrund von vermuteten Harnröhrenverwundungen, während sie in der non-BRI-Gruppe nur 2,8 % betrug (p < 0,001). Weitere Unterschiede in der Verteilung endourologischer Verfahren zwischen den Gruppen wurden nicht festgestellt.
Diskussion
In der vorliegenden Studie wurden die Herausforderungen analysiert, mit denen deutsche Urologen im IKM-Einsatz in Afghanistan konfrontiert wurden.
Konsultationsgründe
Die häufigsten Gründe für urologische Konsultationen im Einsatz waren Beschwerden im Bereich des äußeren Genitals. In Deutschland hingegen suchen Patienten hauptsächlich im Rahmen der Prostatakarzinomvorsorge oder aufgrund von Miktionsbeschwerden bei Prostatavergrößerung den Urologen auf. Dieser Unterschied ist insbesondere durch das jüngere Lebensalter der sich im Einsatz befindenden Soldaten zurückzuführen, während in Deutschland die meisten urologischen Patienten zwischen 50 und 80 Jahre alt sind [3]. Probleme wie Epididymitis, Hodentorsion oder Hodenkrebs treten vor allem bei jüngeren Männern auf, was sich auch in den Daten der Patienten im Bundeswehrkrankenhaus zeigt [14]. Nach Ausschluss der Patienten mit Beschwerden, die im Einsatz nicht auftreten (z. B. Vor- und Nachsorge, erektile Dysfunktion, Testosteronersatz, Prostatakrebs, Nachsorge von Nierenzysten), zeigten die restlichen Patienten vor allem Probleme im Bereich des äußeren Genitals und bei der Miktion, die meist durch eine Prostatavergrößerung verursacht wurden. Weitere häufige Gründe für Konsultationen im Einsatz wie Harnsteine, Infektionen, Hämaturie und Miktionsstörungen stimmen mit den häufigsten Konsultationen in Deutschland überein, wie unsere Daten bestätigen. Maligne Erkrankungen sind aufgrund der vor einem Einsatz verpflichtenden medizinischen Tauglichkeitsuntersuchungen insgesamt selten. Dennoch wurden in Einzelfällen Neoplasien des Urogenitaltraktes detektiert, sodass eine Repatriierung der betroffenen Soldaten erfolgen musste. Urologen müssen daher auch im Auslandseinsatz auf das Auftreten urologischer Tumoren vorbereitet sein, welche häufiger vorkommen können als in anderen medizinischen Fachgebieten [11].
Abb.3: Verwundung nach indirektem Feuer mit großem, Hb-wirksamen Skrotalhämatom aufgrund einer Dissektion der V. femoralis: Es erfolgten eine gezieltee Exploration und Blutungskontrolle. (Bild: Tim Nestler)
Urologische Eingriffe im Einsatz
Die chirurgischen Eingriffe der Urologen in Afghanistan wurden durch die Unterteilung der Eingriffe in gefechtsassoziierte und nicht-gefechtsassoziierte Eingriffe analysiert. In den letzten Jahrzehnten hat sich durch die verbesserte Kevlar-Schutzausrüstung die Sterblichkeit bei kriegsbedingten Verwundungen verringert, während die Häufigkeit von urogenitalen Verwundungen zugenommen hat. Dies ist auf die moderne Kriegsführung und den – trotz verbesserter Schutzausrüstung – immer noch unzureichenden Schutz des äußeren Genitals zurückzuführen. Janak et al. berichteten diesbezüglich, dass in 12 Jahren Krieg in Afghanistan und im Irak eine enorme Anzahl von US-Soldaten (n = 1 367) mit urogenitalen Verwundungen registriert wurde [7]. Während nicht-gefechtsassoziierte Eingriffe der regulären Versorgung in Deutschland ähneln, erfordern gefechtsassoziierte Eingriffe zusätzliche Erfahrungen in der abdominalen/retroperitonealen Chirurgie, die durch die großen Tumoroperationen im Inland trainiert werden können. Somit ist trotz der Zunahme an gefechtsassoziierten Verwundungen des äußeren Genitals die operative, urologische Expertise in diesem Bereich notwendig, da es sich hierbei oft um zeitkritische und lebensbedrohliche Verwundungsmuster handelt [12].
Abb. 5: Analyse der Operationsdaten aus Bagram, aufgeteilt in gefechtsassoziierte Eingriffe (BRI) und nicht gefechtsassoziierte Eingriffe (non-BRI).
Folgerungen für die rekonstruktive Urochirurgie
Nach Verwundungen des äußeren Genitals treten häufig Komplikationen wie sexuelle Funktionsstörungen, Harnverhalt/Inkontinenz, Harnwegsinfektionen und posttraumatische Belastungsstörungen auf [8][9].
Um sowohl die Komplikationsrate zu minimieren als auch funktionell zufriedenstellende und ästhetisch ansprechende Ergebnisse zu erzielen, sind spezifische operative Empfehlungen für die langfristige Behandlung urogenitaler Verwundungen erforderlich. Während die chirurgischen Eingriffe bei nicht-gefechtsassoziierten Verwundungen dem in Deutschland üblichen Spektrum entsprechen, stellt die Behandlung gefechtsassoziierter Verwundungen besondere Anforderungen. Diese erfordert zusätzliche grundlegende Kenntnisse in der rekonstruktiven und plastischen Urochirurgie, da diese Verwundungen häufig mit ausgedehnten Weichteildefekten und einer hohen Kontaminationsrate verbunden sind [1][5][6]. Eine erfolgreiche endgültige kosmetische und funktionelle Behandlung des äußeren Genitalbereichs in Deutschland ist nur dann möglich, wenn der Urologe im Einsatz bereits bei der Erstversorgung die richtigen Maßnahmen ergriffen hat. Der Urologe übernimmt daher eine zentrale Rolle als Spezialist für die Behandlung von Verwundungen im Bereich des äußeren Genitals [15].
Ausbildung der Urologen
Die Prävention, das Management und die Nachsorge von urogenitalen Verwundungen bleiben für Urologen eine erhebliche operative Herausforderung. Die spezifisch-urologische, einsatzvorbereitende Ausbildung sollte daher darauf ausgerichtet sein, sie bestmöglich auf die bevorstehenden Aufgaben vorzubereiten. Die Ausbildung der Urologen in der Bundeswehr baut auf der zivilen Facharztweiterbildung auf, ergänzt durch spezielle notfallmedizinische Schulungen. Dabei bilden uroonkologische Operationen im Inland die grundlegende Basis für die Entwicklung chirurgischer Fähigkeiten im Bereich des Abdomens, Retroperitoneums und Beckens. Zudem wird der Bedarf an einer vertiefenden Ausbildung in rekonstruktiver und plastischer Urologie zunehmend erkannt. Urologen spielen auch im Rahmen eines Massenanfalls von Verwundeten eine zentrale Rolle im chirurgischen Notfallteam als Experten für das Abdomen, Retroperitoneum und Becken und müssen dementsprechend gezielt vorbereitet und geschult werden.
Limitationen
Die bedeutendste Limitation dieser Studie besteht in der begrenzten Datenverfügbarkeit, da ein Jahr der Datenerhebung unvollständig ist und bei wenigen Patienten nicht alle Parameter erfasst wurden. Zudem liegen Informationen zum Follow-up der durchgeführten Operationen nicht vor, wie etwa zu Komplikationen, weiteren Eingriffen nach Repatriierung oder dem Behandlungserfolg. Dennoch weisen die analysierten Daten insgesamt eine Homogenität auf und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die fehlenden Daten die Ergebnisse und die Schlussfolgerungen wesentlich beeinflusst hätten.
Schlussfolgerung
Das ambulante urologische Patientenspektrum war im Inland und im Auslandseinsatz weitgehend vergleichbar. Im Rahmen der operativen Eingriffe in Bagram fanden sich jedoch signifikante Unterschiede zwischen gefechtsassoziierten und nicht-gefechtsassoziierten Operationen. Dabei zeigte sich, dass der Urologe innerhalb eines interdisziplinären chirurgischen Teams, insbesondere bei der Versorgung von Verwundungen im Retroperitoneum, Becken und Abdomen, eine zentrale Rolle einnimmt. Diese Spezialisierung, die im Inland primär durch uroonkologische Operationen entwickelt und aufrechterhalten wird, ist im Auslandseinsatz von entscheidender Bedeutung.
Darüber hinaus ist der Urologe besonders bei Verwundungen des äußeren Genitals gefragt. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, sind zusätzlich grundlegende Kenntnisse in der rekonstruktiven und plastischen Urochirurgie erforderlich. Diese Fähigkeiten sind jedoch nicht explizit Teil der Facharztausbildung, aber entscheidend, um bereits im Einsatz die Grundlage für eine erfolgreiche und funktionserhaltende Versorgung im Inland zu legen, die auch ästhetischen Ansprüchen genügt.
Zur Sicherstellung dieser Versorgung wird derzeit von der Konsiliargruppe Urologie ein Konzept zur Aus- und Weiterbildung rekonstruktiver Urologie erarbeitet und in der Klinik für Urologie am Bundeswehrzentralkrankenhaus in Koblenz ein Zentrum für rekonstruktive Urologie aufgebaut, das speziell auf diese Anforderungen ausgerichtet ist.
Literatur
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Vorabveröffentlichungen
Originalarbeit: Justine Schoch, Cord Matthies, Holger Heidenreich, Jens Diehm, Hans Schmelz, Christian Ruf und Tim Nestler: Urology during Afghanistan mission: lessons learned and implications for the future. © World J Urol. 2023, DOI: 10.1007/s00345–023–04475-z, lizensiert unter CC BY-NC-ND 4.0.
Die Arbeit wurde als Vortrag eingereicht beim Heinz-Gerngroß-Förderpreis 2023 der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. und teilweise als extended Abstract in der Wehrmedizinischen Monatszeitschrift 1–2/2024 veröffentlicht.
Manuskriptdaten
Zitierweise
Schoch J, Ruf C, Matthies C, Heidenreich H, von Dobschütz K, Schmelz H, Nestler T: Die Urologie im internationalen Krisenmanagement der Bundeswehr – Ein Rückblick auf die urologische Versorgung in Afghanistan. WMM 2024; 68(12): 534-539.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-375
Für die Verfasser
Oberstabsarzt Dr. Justine Schoch
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Klinik für Urologie
Rübenacher Strasse 170, 56072 Koblenz
E-Mail: justineschoch@bundeswehr.org
Manuscript Data
Citation
Schoch J, Ruf C, Matthies C, Heidenreich H, von Dobschütz K, Schmelz H, Nestler T: [Urology during deployment of the Bundeswehr – Urological treatment in Afghanistan]. WMM 2024; 68(12): 534-539.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-375
For the Authors
Major (MC) Dr. Justine Schoch, MD
Bundeswehr Central Hospital Koblenz
Department of Urology
Rübenacher Strasse 170, 56072 Koblenz
E-Mail: justineschoch@bundeswehr.org