Fliegerärztliche Tätigkeit als
Deputy Flight Surgeon der Mission „Cosmic Kiss“
Roland Nüssea
aTaktisches Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“, Nörvenich
Im Rahmen einer Kooperation des Europäischen Astronautenzentrums der Europäischen Weltraumorganisation und des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe wurde erstmalig ein Fliegerarzt der Bundeswehr in die Betreuung eines deutschen Astronauten eingebunden. Der nachfolgende Bericht umreißt die Tätigkeiten des Fliegerarztes an den Standorten Köln-Lind, Cape Canaveral/USA und Houston/USA vor, während und nach der sechsmonatigen „Cosmic Kiss“-Mission von Missionsspezialist Dr. Matthias Maurer an Bord der Internationalen Raumstation ISS.
Einleitung
Seit 2005 bin ich als Fliegerarzt im Taktischen Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke“ in Nörvenich tätig. Meine Hauptaufgabe dort ist die flugmedizinische Betreuung von Eurofighter-Piloten. Merkmal dieser Tätigkeit ist die Umsetzung eines Fürsorgeprogramms mit sportmedizinischem Schwerpunkt. Im Jahr 2010 nahm ich Kontakt zum Europäischen Astronauten-Trainingszentrum (EAC) der European Space Agency (ESA) auf und etablierte mit dem dortigen sportwissenschaftlichen Team eine fachliche Kooperation zum Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen aus unseren jeweiligen Tätigkeitsfeldern in der Betreuung von Hochwertpersonal. Im Vorfeld der für 2022 angestrebten Verdichtung dieser Kooperation entstand noch 2021 ein reger Austausch mit dem leitenden Fliegerarzt des EAC, Herrn Dr. Vaquer, der mir im Sommer desselben Jahres eine Hospitation am EAC in Köln-Lind anbot. Die Genehmigungen waren schnell eingeholt, die Abordnung sollte auf Kommandierungsbasis in Anlehnung an gängige Verfahren zum Erwerb von Weiterbildungsabschnitten zunächst für sechs Monate erfolgen. Damit würde die Hospitation einen Großteil der „COSMIC KISS“-Mission des deutschen Wissenschaftsastronauten Dr. Matthias Maurer abdecken.
Am 1. September 2021 begann ich meine Hospitation am EAC. Zu Beginn erhielt ich ein Einweisungstraining in Aufbau, Funktion und Betrieb des europäischen Labormoduls „COLUMBUS“ der Internationalen Raumstation (ISS), dem Hauptarbeitsplatz von Dr. Maurer (Abbildung 1). Es schlossen sich Einweisungen in Protokolle und Prozeduren der täglichen raumfahrtmedizinischen Grundlagenarbeit am EAC an. Im Zuge dessen erhielt ich umfangreiche Akkreditierungen, die mir den Zugang zu Kommunikationstools, Informationssystemen, Datenbanken und Boards ermöglichten, mit bzw. in denen ich in den folgenden Monaten Einblicke in die raumfahrtmedizinische Tätigkeit erlangen sollte. Zugeteilt wurde ich Frau Dr. Godard, der erfahrensten Fliegerärztin der ESA und verantwortliche Prime Flight Surgeon für die „COSMIC KISS“-Mission. In der Folge sollte ich sie begleiten dürfen und somit eine Art Ausbildung am Arbeitsplatz erhalten. Was das bedeuten sollte, konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.
Abb.1: Der Autor vor dem 1:1-Modell des Europäischen Labormoduls „Columbus“ (Bildquelle: Dr. Roland Nüsse)
Start der Crew 3
Missionsspezialist Dr. Matthias Maurer sollte ursprünglich am 23. Oktober 2021 mit der Crew 3 vom Weltraumbahnhof Cape Canaveral in Florida zur ISS starten. Die fliegerärztliche Betreuung vor Ort im abgeschotteten Bereich der National Aeronautics and Space Administration (NASA) am Kennedy Space Center (KSC) wurde von einer NASA-zertifizierten Kollegin der ESA wahrgenommen. Ich hatte die Aufgabe, die zum Start eingeladene Familie von Dr. Matthias Maurer und den begleitenden Stab vor Ort zu betreuen und das Crew Support-Team zu unterstützen. Dabei konnte ich von meinen Kommando-Erfahrungen und meinen Auslandseinsätzen als Fliegerarzt der Luftwaffe profitieren.
Es gab keine nennenswerten medizinischen Vorkommnisse, herausfordernd waren allein die Einschränkungen der Abläufe, die sich aufgrund der COVID-19-Pandemie und der unterschiedlichen nationalen und kommunalen Regularien sowie eigener Vorgaben der NASA ergaben.
Eingebunden in die Vorgänge am KSC wurde ich immer dann, wenn meine Kollegin einer Unterstützung bedurfte oder sich fliegerärztliche Aufgaben an der Schnittstelle Stab/Gäste/Crew Support zu Dr. Maurer ergaben. In Erinnerung bleiben mir u. a. verschiedene Abschiedszeremonien, die von der NASA traditionell sehr würdevoll inszeniert werden.
Der Start verschob sich auf den 11. November 2021. Da entgegen der ursprünglichen Planung die Landung der Vorgänger-Crew 2 zeitlich vor den Start der Crew 3 verlegt wurde, erforderte dies die Anwesenheit der Kollegin auf dem Bergungsschiff von SPACE X im Golf von Mexiko. Aus dem Hospitanten wurde so für einen kurzen Zeitraum der einzige ESA-Fliegerarzt auf dem Cape. Den reibungslosen Nachtstart der Falcon-9 Rakete live vor Ort miterleben zu dürfen, war natürlich auch für einen Fliegerarzt eines Kampfflugzeug-Geschwaders eine ganz besonders prägende Erfahrung.
Missionsbetreuung
Zurück in Deutschland unterstützte ich Frau Dr. Godard in jeglicher Hinsicht bei ihrer sehr umfangreichen und verantwortungsvollen Tätigkeit. Ich erlernte Routinen und Prozeduren, wurde an Meetings der einzelnen Fachgruppen beteiligt und übernahm in der Folge mehr und mehr kleinere, später größere Aufgaben. Ich lernte Daten und Inhalte in verschiedenen Formaten zu dokumentieren, zu verschlüsseln und an den dafür vorgesehenen Orten abzulegen. Nicht immer war es einfach, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Meine „Lehrerin“ beteiligte mich fortan an allen Entscheidungsprozessen. Dies konnten z. B. sowohl Freigaben für Ernährungs- oder Trainingspläne sein als auch Änderungen des Dienstplans unseres Astronauten. Der Prime Flight Surgeon wird zu allen Aspekten der laufenden Astronautentätigkeit an Bord der ISS gehört und muss jegliche Änderungen freigeben. Ich wohnte per Live-Schaltung den medizinischen Untersuchungen an Bord der ISS und den Übungen mit medizinischen Inhalten bei. Sechs bis sieben Mal pro Woche hat ein Astronaut der ISS ein gut zweistündiges sportliches Training zu absolvieren (Abbildung 2). Dieses Training wird mit den Sportwissenschaftlern und seinem Fliegerarzt auf der Erde abgestimmt, von diesem freigegeben und in der Regel auch live begleitet.
Abb. 2: Dr. Maurer bei einer Spiroergometrie an Bord der ISS (Bildquelle: Dr. Matthias Maurer)
Einmal wöchentlich fand die „Private Medical Conference“ (PMC) mit unserem Astronauten in einer streng geschützten Kommunikationsverbindung statt, also eine telemedizinische „Sprechstunde“ mit einem Astronauten, der in gut 400 km Höhe mit ca. 27 000 km/h vielleicht gerade irgendwo über dem schönen Allgäu oder über Neuseeland durch den erdnahen Orbit „fällt“. Nach einigen Wochen führte ich diese Sprechstunde allein mit unserem „Patienten“ durch. Im Anschluss an jede PMC war es meine Aufgabe, die Inhalte zu dokumentieren und verschlüsselt in verschiedenen Formaten abzulegen. Im Rahmen nationaler und internationaler Board-Meetings ist durch den Fliegerarzt der körperliche Zustand wöchentlich vorzustellen. Die Aufregung sowohl vor meiner ersten alleinigen Sprechstunde als auch vor meiner ersten Vorstellung „meines“ Astronauten vor dem internationalen Space Medicine Operation Team – im sogenannten SMOT-Briefing – werde ich nicht vergessen.
Die Tage waren sehr lang, die Lernkurve steil. Bis heute bin ich sehr beeindruckt vom Engagement und der oft selbstlosen Bereitstellung der eigenen Arbeitskraft und -zeit der an einer Mission beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sowohl bei der ESA, beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) als auch bei der NASA.
Training bei der NASA
Mit zunehmender Handlungssicherheit konnte ich mehr und mehr Aufgaben übernehmen. Es wurden sowohl von der Seite der Luftwaffe als auch der ESA Überlegungen angestellt, inwieweit absolvierte Trainings und Einweisungen für eine etwaige Zertifizierung als Fliegerarzt der ESA genutzt werden könnten. Mit der Übertragung weiterer Aufgaben und der Zuteilung zusätzlicher Trainings hatte ich meinen Status als Hospitant verloren. Längst war mir die Rolle eines Deputy Flight Surgeon zugewiesen worden. Anlässlich des bevorstehenden Außenbordeinsatzes von Matthias Maurer und der notwendigen Unterstützung dieses Einsatzes aus dem Mission Control Center der NASA in Houston wurden weitere Ausbildungsabschnitte für mich am Johnson Space Center (JSC) organisiert. Im Rahmen meines gut zwölftägigen Aufenthalts dort erlangte ich Einweisungen in die Tätigkeit ausgewählter Abteilungen, so z. B. der NASA Clinic, der NASA Pharmacy, den Labors für Acoustic, Food, Neutral Buoyancy, Life Support und des Astronaut Reconditioning Center, der Trainings- und Rehabilitationseinrichtung am JSC. Zudem bekam ich Gelegenheit, den erfahrenen japanischen Astronauten Köichi Wakata während seines Trainings im größten Indoor-Pool der Welt beobachten zu können und mich von Hans Schlegel, dem siebten deutschen Astronauten (STS 55, 1993 mit der Space Shuttle COLUMBIA und STS 122, 2008 mit Space Shuttle ATLANTIS) in die Komplexität von Außenbordeinsätzen einweisen zu lassen (siehe Abbildung 3).
Abb. 3: Der Autor am größten Indoor-Pool der Welt im Neutral Buoyancy Laboratory der NASA in Houston/Texas (Bildquelle Dr. Roland Nüsse)
EVA-Betreuung
Am 23.März 2022 verließ Matthias Maurer an der Seite seines NASA-Kollegen Raja Chari die ISS für eine Extravehicular Activity (EVA) (Abbildung 4). Nach Thomas Reiter, Hans Schlegel und Alexander Gerst war Dr. Matthias Maurer der erst vierte Deutsche, der einen Außenbordeinsatz durchführte. In einer 18-Stunden-Schicht leisteten Dr. Godard und ich in dem „Heiligtum“ des JSC, dem Mission Control Center, unseren Anteil an der Unterstützung von Dr. Maurers gut 6,5-stündiger EVA. Uns oblag dabei die Überwachung physiologischer Parameter vor, während und nach dem Einsatz, die Unterstützung des NASA Crew Surgeon sowie die Durchführung einer PMC nach der EVA und Vorstellung in den entsprechenden Boards.
Abb. 4: Missionsspezialist Dr. Matthias Maurer bei der Extravehicular Activity (EVA) während seiner „Cosmic Kiss“-Mission (Bildquelle: Screenshot Dr. Roland Nüsse)
Die Einsatz- und Kommunikationsführung durch den Flight Director im Control Center wird mir immer in Erinnerung bleiben. Wo sonst, wenn nicht dort, darf man ein perfektes Crew Resource Management erwarten.
Direct Return
Nachdem ich in so viele Tätigkeiten eingebunden worden war, wurde entschieden, dass ich meine Tätigkeit bei der ESA bis zum Abschluss der sogenannten Reconditioning-Phase nach Abschluss der „COSMIC KISS“-Mission durchführen sollte.
Nun begann der intensivste Teil meiner Arbeit. Die ESA hat sich gegenüber der NASA verpflichtet, europäische Astronauten nach deren Rückkehr von der ISS am EAC gemäß gemeinsam vereinbarter Standards zu untersuchen. Wir hatten Dr. Maurers Rückführung nach Deutschland und den komplexen Ablauf in den Wochen danach zu planen. Meine Aufgaben bzgl. des Rückfluges waren die Zusammenstellung der medizinischen Crew und der medizinischen Ausrüstung. Zudem waren Absprachen mit den NASA-Fliegerärzten, der Flugbereitschaft des Bundesministeriums der Verteidigung und mit Base Operations in Houston zu treffen. Am 6. Mai 2022 flog ich mit einer Global 6000 und einer eigens zusammengestellten Crew zum Ellington Field Joint Reserve Base (EFJRB) nach Houston/Texas. Nachdem Dr. Maurer nach seiner geglückten Landung im Golf von Mexiko mit seiner Crew über Tampa zum Rendezvous zur EFJRB geflogen wurde, konnte ich ihn dort in Empfang nehmen und ihn komplikationslos nach Deutschland bringen (Abbildung 5).
Abb. 5: Der Astronaut und sein Fliegerarzt an Bord der Global 6000 auf dem Repatriierungsflug nach der Landung im Golf von Mexiko (Bildquelle Dr. Roland Nüsse)
Ich hatte nach sechs Monaten meinen einzigen Patienten zurück.
Rehabilitation
Nach unserem Eintreffen auf dem militärischen Teil des Köln-Bonner Flughafens verbrachte ich die ersten Tage und Nächte mit Dr. Maurer im Crew Quarter des :envihab-Labors auf dem Gelände des DLR in einer Zwei-Mann-Wohngemeinschaft (Abbildung 6). Für einen Astronauten bedeutet die Zeit nach der Rückkehr aus dem All in erster Linie Pay-Back-Time. Nun forderte also die Wissenschaft ihre Ergebnisse. Fünf Wochen lang begleitete ich Dr. Matthias Maurer – einem strengen Protokoll folgend – durch alle Untersuchungen. In dieser Zeit fungiert der Fliegerarzt auch als eine Art Anwalt des Astronauten, der diesen auch vor allzu gut gemeinter Übergriffigkeit zu schützen hat.
Abb. 6: Dr. Maurer während der Reconditioning-Phase im Crew-Quarter des :envihab in Köln (Bildquelle Dr. Roland Nüsse)
Nun erwies sich die langjährige Zusammenarbeit mit den Sportwissenschaftlern und der Physiotherapeutin der ESA sowie die sportmedizinische Expertise aus meiner Tätigkeit in Nörvenich als äußerst gewinnbringend. Wir konnten unseren Astronauten in Rekordzeit körperlich rehabilitiert – bzw. raumfahrtmedizinisch korrekt „rekonditioniert“ – in sein Alltagsleben zurückführen. Besonders stolz bin ich auf die Tatsache, dass wir einen Teil der Rehabilitationsmaßnahmen bei uns auf dem Fliegerhorst in Nörvenich durchführen konnten.
Fazit
Ende Juni 2022 endete nach 9 Monaten meine Tätigkeit bei der ESA am EAC in Köln. Als erster Fliegerarzt der Luftwaffe hatte ich die Ehre, der „Hausarzt“ eines im All tätigen Astronauten sein zu dürfen. Ein einzigartiges Privileg und ganz sicher der Höhepunkt meiner beruflichen Tätigkeit. Dass ich, der ich Zeit meines Lebens mit größter Aufmerksamkeit jeglicher Entwicklung in der Raumfahrt gefolgt bin, einmal eine Aufgabe im Mission Control Center in Houston wahrzunehmen hatte, macht mich noch heute in gewisser Weise demütig. Dass ich einen Menschen, der sechs Monate in der Schwerelosigkeit verbracht hatte, nach seiner Rückkehr über Wochen so gründlich habe untersuchen dürfen, war eine „faszinierende“ Erfahrung. Dass zuallererst alle Beteiligten der ESA, der NASA, der Führung der Luftwaffe, des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe, des DLR und meines Geschwaders mir dieses Vertrauen und diese Unterstützung haben zuteilwerden lassen, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit.
Über allem aber steht das mir als „Raumfahrt-Rookie“ entgegengebrachte Vertrauen meines „Patienten“ und die aus dieser Mission entstandene Freundschaft mit Matthias Maurer.
Hoffnung und Glaube nicht zu verlieren, bedürfen Zuversicht und einer gehörigen Portion Optimismus. Wirken alle zusammen, können Lebensträume und vielleicht auch einmal ein Wunder wahr werden.
Durch die Kooperation des Zentrums für Luft- und Raumfahrtmedizin der Luftwaffe mit der ESA und dem DLR ergeben sich auch in Zukunft Möglichkeiten, raumfahrtmedizinische Expertise und Erfahrung aufbauen, erweitern und verdichten zu können.
Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Roland Nüsse
Taktisches Luftwaffengeschwader 31 „Boelcke"
Oswald-Boelcke-Allee 1, 52388 Nörvenich
E-Mail: rolandnuesse@bundeswehr.org