EIN AUSSERGEWÖHNLICHER FALL
Großer Speichelstein als oralchirurgischer Zufallsbefund
Paul Marciaka, Gabor Borosa
a Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz. Abteilung XXIII – Zahnmedizin, Spezialambulanz Oralchirurgie und Implantologie
Zusammenfassung
Behandlungsbedürftige Steinbildungen in den Speicheldrüsen kommen bei etwa 28 bis 59 Patienten je 1 Million Einwohner und Jahr vor, betreffen also durchschnittlich etwa 5000 Menschen in Deutschland. Meist gehen diese mit rezidivierenden schmerzhaften Schwellungen im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme einher, wenn es zu einer Behinderung des Speichelflusses kommt.
Wir stellen hier den außergewöhnlichen Fall eines 72jährigen Patienten mit einem großen (27 x 15 mm) asymptomatischen Speichelstein im Ausführungsgang der rechten Glandula submandibularis vor, der als Zufallsbefund im Rahmen der prothetischen Versorgung entdeckt und komplikationslos operativ entfernt wurde.
Schlüsselworte: Speichelstein, Schmerzen, Schwellung, Abflusshindernis, Sialoadenitis, Glandula submandibularis
Keywords: salivary stone, pain, swelling, discharge obstacle, sialoadenitis, glandula submandibularis
Hintergrund
In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 kam es durch außergewöhnlich starke Regenfälle in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zu Überschwemmungen mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung. Viele Anwohner wurden von den Wassermengen überrascht und konnten sich nicht mehr rechtzeitig vor der Flut in Sicherheit bringen. Das Ahrtal war eines der besonders stark von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen. Soldaten der Bundeswehr leisteten im Verbund mit den Hilfsorganisationen erste Hilfe vor Ort. Viele Flutopfer wurden mit unterschiedlichen Verletzungsmustern stationär im Bundeswehrzentralkrankenhaus (BwZKrhs) Koblenz behandelt.
Die Abteilung XXIII/Zahnmedizin am BwZKrhs Koblenz ist für die zahnärztlich-konsiliarische Betreuung der stationären Patienten aller Kliniken des Krankenhauses zuständig. Dies beinhaltet Fokussuchen, Behandlung akuter Beschwerden und die zahnärztliche Sanierung von Patienten mit allgemeinmedizinischem Risikoprofil. Für die konsiliarische Betreuung der stationären Patienten sind ein Fachzahnarzt für Parodontologie und zwei Fachzahnärzte für Oralchirurgie in der Abteilung verantwortlich.
Im Rahmen dieser Aufgabe kam es am 19. Juli 2021 zur Vorstellung eines Patienten, über den im Folgenden berichtet wird.
Falldarstellung
Anamnese
Ein 72jähriger Mann, der wegen bei der Flutkatastrophe erlittener Verletzungen im BwZKrhs Koblenz stationär behandelt wurde, kam am 19. Juli 2021 zur konsiliarischen Mitbehandlung in der Abteilung XXIII zur Vorstellung. Der Patient berichtete, dass er seinen Zahnersatz, bestehend aus Totalprothesen im Ober- und Unterkiefer, während seiner Flucht vor der Flut verloren hatte und seitdem nur mit enormer Beeinträchtigung Nahrung zerkauen konnte. Er bat um die Herstellung eines neuen Zahnersatzes während seiner stationären Behandlung am BwZKrhs. Sonstige Beschwerden im Bereich des Mund-Kieferbereiches wurden nicht angegebenen. Im Rahmen der Unterstützung der Flutopfer wurde zur Wiederherstellung der mastikatorischen Funktion des Patienten mit der Neuanfertigung einer Ober- und Unterkieferprothese begonnen.
Klinischer Befund
Bei der klinischen Untersuchung vor den Abdrucknahmen wurde ein ca. 2 cm großer, harter, nicht druckdolenter und verschieblicher Tumor im Mundboden rechts getastet. Die Mundschleimhaut zeigte im Bereich der Schwellung keinen Anhalt für eine entzündliche Veränderung. Der Ausführungsgang der Glandula submandibularis rechts war über die Plica sublingualis bis zur ventralen Begrenzung zur Schwellung hin ohne Widerstand sondierbar. Bei Druck auf die Gl. submandibularis rechts konnte Speichel über den Ductus submandibularis exprimiert werden. Der bimanuelle Tastbefund ergab einen ovalen, harten und leicht verschieblichen Fremdkörper im rechten Mundboden.
Röntgendiagnostik
Die radiologische Diagnostik erfolgte mittels Panoramaschichtaufnahme (Abbildung 1). Auf dieser Röntgenaufnahme zeigte sich eine ca. 27 x 15 mm große, hyperdense ovale Struktur, die sich über den rechten Unterkiefer projizierte.
Abb. 1: Panoramaschichtaufnahme mit hyperdenser ovaler Struktur in Projektion über den rechten Unterkiefer
Diagnose: Sialolith
Auf der Grundlage der Ergebnisse der klinischen und radiologischen Untersuchung ergab sich mit allergrößter Wahrscheinlichkeit als Diagnose das Vorhandensein eines großen Sialolithen im Ductus submandibularis rechts. Überraschenderweise bestand trotz der außergewöhnlichen Steingröße keine klinisch relevante Beeinträchtigung des Speichelabflusses über den Ductus sublingualis. Auf näheres Befragen gab der Patient an, einmal vor einiger Zeit kurz anhaltende Schmerzen in dem Bereich gehabt zu haben.
Therapie
Da der Patient bis auf die klinisch erkennbare Schwellung im rechten Mundboden beschwerdefrei war, hatte er deren Ursache nicht weiter zahnärztlich untersuchen lassen. Trotz aktueller Beschwerdefreiheit wurde ihm die operative Entfernung des Speichelsteines zur Vermeidung einer vollständigen Verlegung des Ductus und möglicherweise daraus resultierender Sialoadenitis der Glandula submandibularis und sublingualis empfohlen und angeboten. Nach schriftlich dokumentierter Aufklärung über möglichen Komplikationen und anschließender Bedenkzeit wurde der Termin für den Eingriff in Lokalanästhesie auf den 27. Juli 2021 – noch während seines stationären Aufenthaltes – vereinbart.
Die präoperative Anamnese ergab bei insgesamt gutem Allgemeinzustand des Patienten lediglich eine leichte COPD, sodass der vorgesehene Eingriff unter Lokalanästhesie durchführbar war. Parallel zum vorgesehenen Termin zur Entfernung des Sialolithen wurde mit fachlicher Unterstützung des zahntechnischen Labors der Abteilung XXIII mit der Herstellung eines neuen Zahnersatzes begonnen. Ziel war es, die Behandlung bis zur Entlassung des Patienten aus der stationären Behandlung abzuschließen.
Am 27. Juli 2021 erfolgte der Eingriff in der oralchirurgischen Ambulanz der Abteilung XXIII wie vorgesehen unter Lokalanästhesie. Der Eingriff wurde von einem Fachzahnarzt für Oralchirurgie durchgeführt. Es gelang, einen 27 x 15 mm großen Sialolithen aus dem Ductus sublingualis zu entfernen. Anschließend erfolgte eine Marsupialisation des Ductus und Schaffung einer neuen Gangmündung im Bereich des Mundbodens. Der Sialolith wurde aufgrund eindeutiger klinischer Identifikation nicht zur pathologischen Aufbereitung weitergeleitet (Abbildung 2).
Abb. 2: Nach Eröffnung des Ductus submandibularis und Freilegen des Speichelsteins (A, B) kann dieser geborgen werden (C). Trotz der erheblichen Steingröße (D) war es nicht zu einem Abflusshindernis gekommen.
Im Rahmen der Abendvisite durch den Operateur war der Patient beschwerdefrei und bot keinen Anhalt für Nachblutungen oder eine pathologische Schwellung im Bereich des Operationsgebietes. Postoperativ wurde für 5 Tage weiche Kost verabreicht. Es erfolgte eine vorsichtige Mundhygiene im Operationsgebiet und Mundspülungen mit 0,2 % Chlorhexidin-Lösung. Zur Analgesie erhielt der Patient Ibuprofen 600 mg und er wurde angehalten, mindestens 2 l Flüssigkeit zu trinken und saure Drops zu lutschen, um eine Oligo- oder Xerostomie durch ausreichende Speichelproduktion zu verhindern.
Bei der Verlaufskontrolle am ersten postoperativen Tag konnte bei reizfreien Wundverhältnissen durch Druck auf die Glandula submandibularis Speichel über die neue Gangmündung im Mundboden exprimiert werden. Am 10. postoperativen Tag erfolgte die Nahtentfernung und der Patient konnte – zwischenzeitlich mit dem neu angefertigten Zahnersatz im Ober- und Unterkiefer versorgt und zufrieden mit der dadurch wieder gewonnenen Kaufunktion und Ästhetik – aus unserer Behandlung entlassen werden.
Diskussion
Epidemiologie
Unter den wichtigen Erkrankungen der großen Speicheldrüsen ist die Sialolithiasis mit zwischen 40 % und 50 % aller Fälle vertreten [2]. Die Inzidenz in der Allgemeinbevölkerung wird zwischen 28 bis 59 Fälle pro 1 Million Einwohner über 1 Jahr angegeben [3]. Das mittlere Alter für das Auftreten von Syptomen im Zusammenhang mit einer Sialolithiasis liegt bei 45 Jahren [7], wobei Männer bevorzugt betroffen sind.
Stein-Lokalisation und -Genese
Bis zu 80 % der Speichelsteine finden sich in der Glandula submandibularis und ihrem Ausführungsgang [13]. Ein Grund dafür ist, dass diese Drüse einen stark seromukösen Speichel bildet und diesen über einen langen und gekrümmten Gang (Wharton-Gang) befördert, was die Kalkausfällung und Steinbildung begünstigt [5]. Die Steine sind dabei häufig im distalen Drittel des Ganges lokalisiert. Besonders in der „comma area“, dem Bereich des hinteren Mundbodens, in dem der Wharton-Gang einen knieähnlichen Verlauf mit einem Winkel zwischen 24° und 178° aufweist [6]. Weitere diskutierte Ursachen sind Dehydration, reduzierter Speichelfluss, geänderte Speichelzusammensetzung, Nikotinabusus, primärer Hyperparathyreoidismus und das Eindringen von Bakterien und Nahrungsresten in den Ausführungsgang [14].
Abb. 3: Lokalisation der großen Speicheldrüsen und ihrer Ausführungsgänge (aus [17])
Die meisten Sialolithen werden mit einer Größe von 5 mm–10 mm beschrieben. Alle Steine ab einer Größe von 10 mm in einer Achse werden als Sialolithen ungewöhnlicher Größe bezeichnet. Wenn eine Größe von 35 mm überschritten wird, werden sie als riesig eingestuft [12].
Klinik
Durch die Verlegung des Ausführungsganges kann es zu rezidivierenden und typischerweise im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme auftretenden entzündlichen Schwellungen einer Speicheldrüse kommen, die häufig schmerzhaft sind. Diese bilden sich klassischerweise bei Ausbleiben des Nahrungs- bzw. Geschmacksreizes zurück [1]. Durch einen nicht entfernten obstruktiven Sialolithen kann es im ungünstigsten Verlauf zu einer akuten Sialadenitis kommen. Auch wurden Komplikationen wie Abszesse, Fisteln und phlegmonöse Entzündungen beobachtet [10].
Im hier vorgestellten Fall war es trotz der beachtlichen Größe des Steines nur zu einem kurzzeitigen und einmaligen Auftreten von akuten Symptomen gekommen, was als sehr ungewöhnlich anzusehen ist.
Diagnostik
Zur klassischen diagnostischen Vorgehensweise gehört zunächst die bimanuelle Tastuntersuchung zur groben Bestimmung von Lage, Größe, Beweglichkeit und Form des Steines. Alle diese Parameter können mit hochauflösendem Ultraschall dargestellt werden, der sich als schnelles, wirksames und gut geeignetes primäres Diagnosemittel erwiesen hat und gleichzeitig für eine angemessene Behandlungsplanung eingesetzt werden kann [4]. Im vorgestellten Fall war bei Beschwerdefreiheit der Glandula sublingualis die Diagnose klinisch und radiologisch eindeutig zu stellen, weshalb auf die Sonografie verzichtet wurde. Ebenso kann mit der Sialendoskopie die Obstruktion sichtbar gemacht werden [1]. Weiterhin kann bei unklaren Befunden und schwieriger Lage eine Computertomografie weitere Informationen bringen, da sie empfindlich für den Nachweis von Verkalkungen ist [16].
Therapie
Zur Therapie stehen heutzutage mehrere minimalinvasive Methoden zur Verfügung, wie die interventionelle Sialendoskopie, die transorale Ductus-Chirurgie, die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie und die in den letzten Jahren deutlich verbesserte intraductale Stoßwellenlithotripsie. Dabei lassen sich die einzelnen Therapien kombinieren. Durch diese Methoden konnte die Rate der Sialadenektomien deutlich gesenkt werden, dennoch ist sie aber bei besonders proximaler oder intraglandulärer Steinlage vereinzelt indiziert [8].
Die zu wählende Therapie ist von Lage und Größe des jeweiligen Sialolithen abhängig. Hierbei ist die interventionelle Sialendoskopie umso erfolgreicher, je kleiner und mobiler die Steine sind. Bei größeren Steinen führt die transorale Ductus-Chirurgie in Form einer Gangschlitzung bei einmaliger Anwendung häufig zum Erfolg [1]. Die minimalinvasiven Techniken haben sich zeitgemäß als Therapie der Wahl etabliert [8] und weisen Erfolgsquoten bei Lage des Steines im Ductus submandibularis von 85 % bis 100 % auf. Sie sind verhältnismäßig einfach, lassen sich an unterschiedliche anatomische Gegebenheiten anpassen und können größtenteils in Lokalanästhesie durchgeführt werden [9][17]. Komplikationen wie Wundinfektionen, Nachblutungen, Verletzungen des Nervus lingualis oder nervus hypoglossus und Narbenbildung wie nach einer Sialadenektomie werden dabei vermieden [7][11].
Im hier vorgestellten Fall bot sich die intraorale Ductus-Chirurgie mit Gangschlitzung und Marsupialisation des Ganges an, die erfolgreich durchgeführt werden konnte.
Schlussbemerkung
Nicht immer hält sich die Natur an die Erkenntnisse, die aus Studien und Statistiken gewonnen werden. Und wenn in den allermeisten Fällen rezidivierende Schwellungen und Schmerzen im Bereich der von einem Sialolithen betroffenen Speicheldrüse die Betroffenen zum Arzt führen, so zeigt unser Fall, dass auch ein ungewöhnlich großer Speichelstein asymptomatisch bleiben kann. Er zeigt aber auch, dass eine gründliche klinische Untersuchung bei jeder erstmaligen Vorstellung eines Patienten beim Zahnarzt – auch wenn es „nur“ um die Anfertigung einer neuen Zahnprothese geht – stets geboten ist.
Literatur
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Marciak P, Boros G: Großer Speichelstein als oralchirurgischer Zufallsbefund. WMM 2022; 66(6-7): 245-248.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-20
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Paul Marciak
Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz
Abteilung XXIII – Zahnheilkunde, Spezialambulanz Oralchirurgie und
Implantologie
Rübenacher Str. 170, 56072 Koblenz
E-Mail: paulmarciak@bundeswehr.org
MEDIZINISCHER A-SCHUTZ
Medizinischer A-Schutz am Bundeswehrkrankenhaus Ulm: Notfallübung und Re-Evaluation unter aktuellen LV/BV-Aspekten
Michael Grunerta, Andreas Lamkowskib,Matthias Portb, Helmut Birkenmaierc, Burkhard Klemenza
a Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Abteilung XV – Nuklearmedizin
b Institut für Radiobiologie der Bundeswehr, München
c Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Klinik X – Anästhesie, Intensiv-, Notfallmedizin und Schmerztherapie
Einleitung und Hintergrund
Schon seit 2020, also lange vor dem Ukraine-Konflikt, hatten sich das Bundeswehrkrankenhaus (BwKrhs) Ulm und das Institut für Radiobiologie der Bundewehr (InstRadBioBw) in München in fächer- und dienststellenübergreifender Zusammenarbeit mit der Frage befasst, wie die Notfallversorgung von Patienten mit zusätzlicher radiologisch-nuklearer (RN)-Exposition in der Praxis aussehen könnte. Mit einem Workshop im November 2020 [1] und einer Ortsbegehung in Ulm im April 2021, bei der die vorhandenen Fähigkeiten des BwKrhs analysiert wurden [2], war diese Übung vorbereitet worden. Bis zum 24. Februar 2022 konnte keiner erahnen, dass das aktuelle Lagebild an der Nordost-Flanke der NATO die Bedeutung dieses Themas so eindrücklich klarmachen würde.
Basierend auf der seit 2020 gemeinsam geschaffenen Grundlagen fand am 15. Februar 2022 die interdisziplinäre Notfallübung im Medizinischen A-Schutz statt.
Die Teilnehmenden rekrutierten sich wie beim Workshop und der Ortsbegehung [1][2] erneut aus dem InstRadBioBw (Leitung: Oberstarzt Prof. Dr. Port), der Abteilung F (Medizinischer ABC-Schutz) der Sanitätsakademie der Bundeswehr (SanAkBw, Oberfeldarzt Dr. Eder), der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Notfallmedizin und Schmerztherapie (AINS, Leitung: Oberstarzt Dr. Birkenmaier) und der Klink für Nuklearmedizin des BwKrhs Ulm (Leitung: Oberstarzt Dr. Klemenz) (Abbildung 1).
Abb. 1: Dienststellen- und fächerübergreifendes Team in der Versorgung von RN-Szenarien
Mit der Notfallübung sollte die praktische Durchführung der Notfallversorgung von Patienten mit zusätzlicher RN-Exposition, z. B. von Soldaten in militärischen Konflikten, von Strahlenunfall-Patienten nach einem terroristischen Anschlag („dirty bomb“) oder in einem zivilen Unfallszenario überprüft werden.
Übungsvorbereitung und Einweisung
Einführung und Stationsausbildung
Vor der eigentlichen Übung wurde das beteiligte Personal, insbesondere das der Zentralen Interdisziplinären Notfallaufnahme (ZINA), durch Oberfeldarzt Dr. Lamkowski (InstRadBioBw) in einem Einführungsvortrag auf das „Medizinische Management von Patienten nach radiologischer Exposition“ theoretisch vorbereitet. Neben den präventiven Maßnahmen und Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf den Menschen wurde hierbei auch die Patientenversorgung anschaulich dargestellt.
In der anschließenden praktischen Stationsausbildung wurden alle Teilnehmenden durch Angehörige des InstRadBioBw in die Funktionsweise der Messgeräte eingewiesen (Abbildung 2). Für die Kontaminationsmessung sind in Ulm verschiedene Monitore und Messgeräte vorhanden: Das bewährte Strahlenspür- und Verstrahlungsmessgerät SVG2, der Kontaminationsmonitor CoMo 170 und der identiFINDER®, der als mobiles Gammaspektrometer radioaktive Isotope identifizieren und zusätzlich die Gamma-Dosisleistung als wichtige Kenngröße für die Risikoanalyse von Patienten und Personal bestimmen kann.
Abb. 2 Stationsausbildung der Teilnehmenden aus dem BwKrhs Ulm durch Personal des InstRadBioBw
Vorbereitung durch InstRadBioBw
Die Übung selbst war durch das InstRadBioBw detailliert vorbereitet worden. Das unmittelbar an der Übung beteiligte Personal hatte keine Informationen über das zu erwartende Szenario. Dieses sah folgendes Ereignis vor:
In Ulm hatte sich ein terroristischer Anschlag mit Explosion eines improvised explosive device (IED) mit Radioisotopenbeladung (sogenannte „dirty bomb“) ereignet. Durch Rettungskräfte war bereits vor Ort eine radioaktive Kontamination festgestellt worden.
Übungsablauf
Ausgangslage BwKrhs Ulm
Die Rettungsleitstelle kündigt die Einlieferung eines radioaktiv-kontaminierten, nicht vital bedrohten Patienten mit Oberschenkelverletzung für das BwKrhs Ulm in 20 min an.
Folgende Maßnahmen erfolgten:
Vor Eintreffen des Patienten
Folgende Festlegungen sollten vorher getroffen worden sein:
- Alarmierungsplan erstellen (Telefonnummern von: Klinischem Direktor und Leitendem Oberarzt der Klinik für Nuklearmedizin (NUK), Leiter InstRadBioBw und Mitarbeitern der Zentralen Interdisziplinären Notaufnahmen (ZINA)
- Teambesetzung festlegen (Personenanzahl – so viel wie nötig, so wenig wie möglich; Qualifikationen)
- ZINA (n = 4; 1 Notarzt/Teamleiter, 2 qualifizierte Mitarbeiter der ZINA, 1 Springer/Dokumentator); evtl. Vorhalten Ersatzteam; ggf. bei MANV zusätzlich Facharzt für Triage
- RN-Messung (n = 2 aus NUK): 1 Medizinisch-Technische(r) Radiologieassistent(in) (MTRA), 1 Dokumentator; evtl. Vorhalten Ersatzteam
- Festlegen des Dekon-Platzes mit Material (Rettungswache, Fahrzeughalle)
- Festlegen des Lagerorts der Persönlichen Schutzausstattung (PSA) inkl. Dosimeter, Messgeräte (ZINA und NUK)
- Kurzeinweisung vor Ort zu Strahlenschutzaspekten im konkreten Szenar (Abstand, Aufenthaltszeit, Abschirmung und Aufnahmeschutz)
- Ermittlung der gerätespezifischen Nullrate (messbare natürliche Hintergrundstrahlung) mit CoMo und identiFINDER®, mindestens 10 m von Dekon-Platz entfernt
Eintreffen des Patienten (Abb. 3A)
Für den nicht vital bedrohten Üb-Patienten fand die Versorgung und Dekontamination am vorher festgelegten Dekontaminationsplatz statt (Rettungswache, Wagenhalle, beheizbar, Wasseranschlüsse, ca. 50 m vor ZINA-Eingang). Eine reguläre medizinische Versorgung ist außerhalb der ZINA nur rudimentär möglich und beschränkt sich auf eine initiale Blutstillung und Stabilisierungsmaßnahmen. Falls medizinische Materialien benötigt werden, sind diese ggf. auch aus dem anliefernden RTW zu nutzen.
Messung der radioaktiven Kontamination (Abbildung 3B/C)
Diese Messung ist wesentlich für die Risikoanalyse des medizinischen Personals.
Die Messung der möglichen radioaktiven Kontamination des Patienten wurde zunächst mit dem Kontaminationsmonitor (CoMo 170) durchgeführt, der zwar hochsensitiv eine Kontamination nachweisen, aber nicht die Dosisleistung messen und damit das Risiko für das Behandlungsteam abschätzen kann. Deshalb wurde nach Bestätigung der Kontamination mit dem identiFINDER® das radioaktive Nuklid identifiziert und die Dosisleistung als nicht riskant für das Team der ZINA bewertet.
Bei dem Patienten wurden Wischproben aus Mund und Nase entnommen, welche nach Messung als radioaktiv belastet eingestuft werden mussten. Eine so über das Messverfahren erkannte Kontamination der Schleimhäute kann als Indikator für eine Inkorporation dienen. Der Üb-Patient wurde mit einer FFP3-Maske ausgestattet, um eine weitere Inkorporation (Ingestion, Inhalation) zu verhindern.
Es wurde eingespielt, dass der ansprechbare Üb-Patient typische Prodromalsymptome einer akuten Strahlenkrankheit (acute radiation syndrome: ARS) aufwies: Kopfschmerzen, Übelkeit, Stuhldrang ca. 1 h nach Strahlenexposition.
Weil das Übungsende mit dem Abtransport vom Dekon-Platz in die ZINA festgelegt war, konnten diese Symptome mit Uhrzeit des Auftretens zwar erfasst, aber die weiteren Maßnahmen zur Biodosimetrie (Blutbild, Chromosomenanalyse etc.) nicht geübt werden.
Dekontamination (Abbildung 3D)
Da der Patient nicht vital bedroht war, erfolgte sofort nach dem Kontaminationsmonitoring eine strukturierte Dekontamination, initial mit der Trockendekontamination, die das Entfernen der Kleidung mit Asservierung in Strahlenschutzbeuteln umfasste. Nach jeder Dekontaminationsmaßnahme1 (auch Nass-Dekon) wurde der Effekt gemessen und auf einem vom InstRadBioBw entworfenen und für das BwKrhs Ulm angepassten „Erfassungsbogen Strahlenunfall“ dokumentiert (suboptimale Dokumentation bei eingeschränkter Kommunikation durch die PSA).
Nach Reduzierung der Kontamination auf ein akzeptables Maß konnte der Patient nach einer abschließenden Kontaminationsmessung und Entscheidung des Teamleiters ZINA von der Notfallaufnahme des BwKrhs Ulm übernommen werden.
Der Üb-Patient hatte eine offene Oberschenkelverletzung links mit Fremdkörper, der als radioaktives Schrapnell bestätigt wurde. Der Teamleiter ZINA entschied, das radioaktive Schrapnell von einem Unfallchirurgen in der ZINA und nicht am Dekon-Platz entfernen zu lassen.
Deshalb wurde der Üb-Patient nach Feuchtdekontamination und Blutstillung mit provisorischem Verband auf eine andere Trage umgelagert und zum Übungsende für den Transport in die ZINA vorbereitet.
Limitationen
Wie bei jeder Übung gab es in Bezug auf die Realitätsnähe des Ablaufs einige Einschränkungen:
- Personal und Material mussten nicht alarmiert werden und befanden sich bereits am Dekon-Platz.
- Unmittelbar vor der Übung erfolgte eine theoretische Schulung „Medizinisches Management von Patienten nach radiologischer Exposition“ und praktische Geräteeinweisung.
- Die radioaktive Kontamination war vor Eintreffen des Patienten bekannt.
- Die Abklärung der Prodromi des ARS waren nicht innerhalb der Übung abgebildet.
- Die Asservierung des radioaktiven Schrapnell erfolgte außerhalb des Szenarios.
- Es erfolgte keine Freimessung von Personal und Dekon-Platz aufgrund der Verwendung von umschlossenen Strahlenquellen im Üb-Szenario.
Problemfelder: PSA und regelmäßige Übung
Die bei der Übung verwendete PSA ist für RN-Lagen nicht geeignet; erstens war das Anlegen der vollumfänglich CBRN-tauglichen Vollschutzanzüge mit einem Zeitaufwand von ca. 15 min sehr aufwendig und nur mit Hilfspersonal möglich, zweitens war die Kommunikation im Team und mit den Dokumentatoren (ohne PSA und Abstand zum Patienten) aufgrund des im Anzug integrierten Gebläses extrem eingeschränkt. Letzteres führte zu non-verbaler Kommunikation mit Berührungen und damit zu einer potenziellen Verschleppung von radioaktiven Stoffen durch sekundäre Kontamination.
Für eine isolierte RN-Lage ist eine reduzierte persönliche Schutzausstattung unter Verwendung eines Overalls mit Überschuhen, FFP2-Maske, Schutzbrille und doppelt angelegten Handschuhen (unterschiedliche Farben) ausreichend, weil der vollständige Flüssigkeitsschutz, wie ihn die genutzte PSA bietet, bei RN-Szenaren nur eine untergeordnete Bedeutung besitzt (Abbildung 4).
Abb. 4: Eine gegenüber der PSA für CBRN-Lagen reduzierte Schutzausstattung (Overall, Handschuhe, Schutzbrille, FFP2-Maske) ist für eine isolierte RN-Lage ausreichend und erleichtert die Kommunikation.
Der standardisierte Ablauf der Kontaminationsmessung einschließlich der Dokumentation muss regelmäßig vom Mess-Team (Personal der Nuklearmedizin) geübt werden. Dabei ist auf eine klare Kommunikation zu achten, damit das komplette Team über ein potenzielles Strahlenrisiko informiert ist (Abbildung 5).
Abb. 5: Dekontamination und Versorgung des Patienten in CBRN-tauglichen Vollschutzanzügen mit kontinuierlicher Maßnahmendokumentation
Offene Fragen
Das Auffangen von radioaktiv kontaminiertem Wasser in der Fahrzeughalle muss sichergestellt werden, z. B. in Wannen. Kanalöffnungen müssen ggf. abgedeckt/abgedichtet werden.
Es sollten wasserfeste Patienten-Etiketten und/oder -Armbänder hergestellt werden.
Übungs-Nachbesprechung
Folgende Kernpunkte wurden in der Nachbesprechung diskutiert und müssen konsequent umgesetzt werden (Ü: übungs-spezifisch, A: allgemein):
- Ü: Klare und strukturierte Kommunikation und Dokumentation
- Ü: Risikoabschätzung der RN-Lage für das Personal und den Patienten
- Ü: RN-Lage: Schutzanzüge ohne Lüftungsgebläse verwenden, Vollschutzanzüge mit Gebläse benötigen Kopfhörer/Mikrophon
- Ü: Kontaminationsverschleppung vermeiden
- Ü: Strukturiertes Ablaufschema/Algorithmus mit Standardisierung des Ablaufs: Eintreffen (Triage) – RN-Messung und Risikoanalyse (Probennahme) – Dekontamination(en) mit Kontrollmessungen – Patientenübernahme ins BwKrhs ZINA
- Ü: Messung der Wischproben aus Mund und Nase mindestens 10 m vom Dekon-Platz entfernt (Ort der Nullratenbestimmung)
- Ü: Kontinuierliche Überwachung der absorbierten Dosis des beteiligten Personals durch digitale Personendosimetrie und nach letztem Patienten Freimessung von Personal und Ort
- A: Materiallagerorte für PSA, Dosimeter, Dekon-Ausstattung, Messgeräte, Antidota festlegen
- A: Rechtzeitiges Briefing des Personals mit Auslösen von mind. MANV Stufe 1
Bewertung unter LV/BV-Aspekten und aktuellem Lagebild an der Nordost-Flanke der NATO
Vorstellbare Szenare
Die Teilnehmenden an der Übung sahen die folgenden Szenare als denkbar/vorstellbar an:
1.Die Role 4-Versorgung von verletzten Patienten mit RN-Exposition (z. B. aus Regionen höherer Radioaktivität wie Tschernobyl, nach Beschuss eines KKW Verletzung durch radioaktive Schrapnelle) wird als wahrscheinlichstes Szenario eingeschätzt. Dies bedeutet:
- Role 4 = relativ lange Vorbereitungszeit, mind. 48 h
- Patienten-Informationen liegen i.d. R. vor
- Patienten sind i.d. R. vor dem Transport dekontaminiert, d. h. nur noch geringe Restkontamination
2. KKW-Beschuss und Austritt größerer Mengen radioaktiver Substanzen
- Ein solches Szenar erfordert die Durchführung von Maßnahmen nach Empfehlung der Strahlenschutzkommission. Diese haben sich an den Vorgaben des Radiologischen Zentrums des Bundes gem. §106 Strahlenschutzgesetz zu orientieren.
3. Terroristische Sabotageakte
- Resultierende Maßnahmen entsprechen dem Übungsszenar der Notfall-Übung und erfordern die Anpassung an einen höheren Patientendurchsatz.
4. Nuklearer militärischer Konflikt
- Ein solches Szenar erfordert eine medizinische Versorgung mit allen verfügbaren Kräften.
Zu treffende Maßnahmen
Aus den Übungserfahrungen und vor dem Hintergrund der vorstellbaren Szenare resultieren folgende Maßnahmen:
1. Vorbereitungsmaßnahmen bei RN-Lagen (u. a. Alarmierung, Einsatzbereitschaft des Dekontaminationsplatzes herstellen, Algorithmus anwenden)
- Med. A-Schutz/RN-Lage im Krankenhaus-Alarm- und Einsatzplan (KAEP)
- Integration der RN-Lage auf Alarmserver-Ebene (Aktivierung in Ulm am 1. April 2022)
- Meldung an das Einsatzführungszentrum Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr: Erreichbarkeit/Tel.-Nr. der beteiligten Kliniken /Fachdisziplinen (AINS, NUK, InstRadBioBw)
- Algorithmus/SOP „Patientenversorgung nach A/RN-Exposition“ (Abbildung 6)
- Mitarbeit in der klinikübergreifenden Sicherheitskonferenz (KlüSiKo) des Landes Baden-Württemberg (BW) (Das BwKrhs Ulm arbeitet mit den Kliniken AINS, Unfallchirurgie-Orthopädie und NUK in der KlüSiKo des Landes BW zusammen, an der neben der BW-Krankenhausgesellschaft und anderen Kliniken auch Vertreter von Polizei, Feuerwehr und aus dem Innenministerium teilnehmen. In der Hauptsitzung im April am BwKrhs Ulm wurde das RN-Konzept des BwKrhs Ulm vorgestellt.)
- Weitere Netzwerk-Bildung (ZMZ, BG-Kliniken)
- Kooperation mit Sanitätsregiment 3, Dornstadt (landgestützte PatDekonEinr)
Abb. 6: Algorithmus/SOP „Patientenversorgung nach A/RN-Exposition“
2. Qualifikation und Eigenschutz des Personals mit Dekon-Konzept für Patienten und Personal im Medizinischen A-Schutz
- Schulungen für Führungspersonal des BwKrhs Ulm (März 2022)
- Schulungen ZINA-Personal im Med. A-Schutz
- Schulung NUK-Personal (RN-Messung, Dokumentation)
- Schulung der klinischen Fachdisziplinen im med. A-Schutz (Unfallchirurgie, Dermatologie, Innere Medizin usw.)
- Notfall-Übungen mit erweitertem Umfang
3. Material und Infrastruktur
Abgeleitet aus der Analyse der Fähigkeiten des BwKrhs Ulm zum Umgang mit Patienten mit RN-Kontamination [2] und den Ergebnissen der Notfallübung halten die Übungsteilnehmenden nachfolgende Maßnahmen im Bereich der materiellen Ausstattung und in Bezug auf die Anpassung der Infrastruktur für geboten:
- Kurzfristige Beschaffung einer ausreichenden Anzahl von persönlichen Schutzausstattungen (PSA, größtenteils vorhanden), zusätzlicher digitaler Personendosimeter (Beschaffung eingeleitet), Dekontaminationsmittel und notfallmedizinischer Mittel für A-Lagen
- Zeitnahe Beschaffung eines Ganzkörperzählers (GKZ) im BwKrhs Ulm und upgrade des GKZ im BwZKrhs Koblenz zur Bestimmung von Nuklidart und -verteilung sowie zum Therapiemonitoring inkorporierter radioaktiver Substanzen2
- Kurzfristige Beschaffung von zwei mobilen VLEP (vorgeschobener leichter Entstrahlungs-, Entseuchungs- und Entgiftungsplatz)
- Zeitnahe Beschaffung einer mobilen, fahrzeuggestützten Dekontaminationseinheit, die bedarfsabhängig auch an oder zwischen den benachbarten Kliniken am Oberen Eselsberg eingesetzt werden kann
- Kurz- bis mittelfristig Einrichtung einer radioaktiven Raumüberwachung an den Eingängen des BwKrhs zur permanenten Kontaminationsüberwachung aller Patienten, mit der potenziell kontaminierte Patienten frühzeitig erkannt und eine Kontamination des Krankenhauses durch kontaminierte „Selbsteinweiser“ verhindert werden kann
Im BwKrhs Ulm wurden bereits seit Ende 2021 u. a. folgende Materialen beschafft:
- 5 zusätzliche Messgeräte;
- Dosimeter für ZINA-Personal,
- Antidota-Vorrat für 100 Manntage
- Abschirmbehälter für Op
Der Ganzkörperzähler zur Inkorporationsmessung befindet sich für Ulm in der priorisierten Beschaffung.
Überlegungen zur langfristigen Weiterentwicklung
- Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 muss damit gerechnet werden, dass sich langfristig nuklear-bewaffnete Kräfte an der NO-Flanke der NATO gegenüberstehen. Dieser Entwicklung sollte unserer Auffassung nach Rechnung getragen werden, wobei die nachfolgenden Optionen bestehen:
- Als wichtige Säule in der weiterführenden Patientenversorgung wäre eine interdisziplinär nutzbare Station mit CBRN-nutzbaren Dekorporationsbetten mit ITS-Standard, separaten Ein-/Ausgängen, Schleusensystem, Abklinganlage und Eingriffsräumen in räumlicher Nähe zur Nuklearmedizin (FPGesVersBw 2025+) notwendig.
- Damit könnte im Wirkverbund mit anderen Partnern des deutschen Gesundheitssystems die innerklinische Versorgung der Patienten an den beiden großen BwKrhs in Koblenz und Ulm sichergestellt werden, zumal die sanitätsdienstliche Expertise wie bei Großeinsatz- und Katastrophenlagen auch mit hoher Wahrscheinlichkeit bei einem RN-Szenar von ziviler Seite eingefordert wird.
- Das BwKrhs Ulm verfügt als einzige Klinik mit der erdversenkten Anlage (EVA) über eine Einrichtung, die separate Eingänge besitzt und über einen Kreisverkehr für An- und Abtransport, einen großen Dekontaminationstrakt, Zentralsterilisation, Operations- und Pflege-Säle verfügt. Eine Ertüchtigung dieser Anlage erscheint realisierbar und würde unter LV/BV-Aspekten ein erhebliches Nutzungspotenzial aufweisen.
Aufbauend auf den bereits geleisteten Vorarbeiten befindet sich ein Konzept zur Dekontamination in der klinischen Versorgung von (CB)RN-exponierten Patienten und zum Eigenschutz des Personals als Pilotprojekt am BwKrhs Ulm in Erstellung. Eine Abstimmung mit dem InstRadBioBw und SanAkBw Abt. F (MedABCSch) sowie in der weiteren Entwicklung auch mit den Instituten für Pharmakologie und Toxikologie sowie Mikrobiologie der Bundeswehr ist angestrebt, damit alle relevanten Belange in CBRN-Szenarien berücksichtigt werden können.
Fazit und Ausblick
Das BwKrhs Ulm hat erstmals eine Notfallübung mit einem RN-Szenario durchgeführt und ist für ein begrenztes RN-Szenario im Vergleich zu vielen anderen Kliniken der Maximalversorgung relativ gut vorbereitet.
Die Fähigkeiten zur adäquaten Patientenversorgung in einem RN-Szenar sind schon teilweise vorhanden. Die im Vorfeld und während der Übung definierten Fähigkeitslücken müssten rasch geschlossen werden. Neben den kurzfristigen, teilweise schon umgesetzten bzw. priorisierten Projekten erscheint es gerade unter aktuellen – auch politischen – Aspekten der LV/BV angezeigt, auch die mittelfristigen Maßnahmen jetzt einzuleiten.
Das bisher verfolgte Konzept einer dienststellenübergreifenden und interdisziplinären Herangehensweise an das komplexe Thema Medizinischer A-Schutz hat sich hervorragend bewährt. Medizinischer A-Schutz kann nur gemeinsam im Systemverbund der BwKrhs, speziell im Wirkverbund der Kliniken in Ulm und Koblenz, angegangen werden. Aus dem InstRadBioBw kann international anerkannte wissenschaftliche Spitzenexpertise unmittelbar für die Patienten nutzbar gemacht werden. Durch die Mitarbeit in militärischen und zivilen Netzwerken ist es dann wie im BwKrhs Ulm möglich, auf höchstem Niveau auch unter bedrohlichen Lagen unsere Patienten bestmöglich zu versorgen.
Nächste Schritte
Im Juni 2022 soll eine erweiterte Übung am BwKrhs Ulm stattfinden. Ziele sind:
- Eine größere Anzahl von RN-kontaminierten Patienten soll versorgt und weitere Schnittstellenprobleme aufgedeckt und abgestellt werden.
- Das eigene Personal soll handlungssicher in RN-Szenarien mit den Schwerpunkten Dekontamination und strukturierte Koordination der Einsatzlage ausgebildet werden.
- Weitere Dienststellen (BwZKrhs Koblenz, SanRgt 3) sollen einbezogen werden mit dem Ziel, die Prozesse im Medizinischen A-Schutz für den Sanitätsdienst zu vereinheitlichen.
Literatur
- Grunert, M, Port, M, Birkenmaier, H, Klemenz, B: Wie gelangen Strahlenopfer ohne Eigen- und Fremdgefährdung ins Krankenhaus? Workshop Medizinischer A-Schutz am Bundeswehrkrankenhaus Ulm (Rettungskette Role 2-4). WMM 2021; 65(6): 248–251. mehr lesen
- Grunert, M, Port, M, Birkenmaier, H, Klemenz, B: Medizinischer A-Schutz am Bundeswehrkrankenhaus Ulm - vorhandene Fähigkeiten und Fähigkeitslücken. WMM 2021; 65(9-10): 381–384. mehr lesen
Für die Verfasser
Oberfeldarzt Dr. Michael Grunert
Bundeswehrkrankenhaus Ulm
Klinik für Nuklearmedizin
Oberer Eselsberg 40
89081 Ulm
E-Mail: MichaelGrunert@bundeswehr.org">michaelgrunert@bundeswehr.org
1 Insgesamt sollen maximal zwei weitere Dekontaminationen mit Dokumentation, wenn möglich simultan zur medizinischen Grundversorgung stattfinden.
2 Vor dem Hintergrund der aktuellen Krisensituation an der Ostflanke der NATO wird die Schließung dieser Fähigkeitslücke von den Übungsteilnehmenden als dringlich bewertet.