Oberstarzt Professor Dr. Paul Schürmann (1895–1941), Namensgeber des Preises der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V.
Eine kritische Analyse
Volker Hartmann
Zusammenfassung
Der Beitrag thematisiert Leben und Wirken von Oberstarzt Prof. Dr. Paul Schürmann, Namensgeber des 1966 gestifteten Preises der VdSO e. V. (heute DGWMP e. V.). Als bedeutender Wissenschaftler und Tuberkuloseforscher in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts beendete er seine universitäre Karriere an der Charité aus politischen Gründen und wechselte als Sanitätsoffizier an die wiederbegründete Militärärztliche Akademie. Dort baute er das Institut für Allgemeine und Wehrpathologie auf und avancierte zum Lehrgruppenkommandeur der Forschungsabteilung. Bei der Anfertigung von Dokumentationsfilmen über den Sanitätsdienst fiel er im Juli 1941 in Russland. In der Arbeit soll der aktuelle Forschungsstand zu Paul Schürmann auch vor dem Hintergrund der Medizin im NS-System wiedergegeben und diskutiert werden, in welches Spannungsfeld man auch als Arzt und Sanitätsoffizier mit festem moralischem Kompass in einem durch Ideologie infizierten wissenschaftlichen Umfeld kommen konnte.
Schlüsselwörter: Tuberkulose, Charité, Militärärztliche Akademie, Institut für Allgemeine und Wehrpathologie, wehrmedizinische Forschung, Zweiter Weltkrieg, Dokumentationen über den Sanitätsdienst
Abb. 1: Prof. Schürmann um 1940 (Foto Militärgeschichtliche Lehrsammlung der SanAkBw)
An der Nordseite des Telefonmastes 1399 westlich der Beresina-Autobahnbrücke bei Borissow endete am frühen Morgen des 2. Juli 1941 das Leben von Professor Dr. Paul Schürmann. Seit dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 befand er sich bei der Vorausabteilung der 18. Panzerdivision, die Anfang Juli die wichtigen Brücken über die Beresina erreichte. An jenem 2. Juli 1941 vermeldete das Kriegstagebuch der Division, die inzwischen einen Brückenkopf über den Fluss erkämpft hatte, lediglich:
„Igelstellung liegt in schwerem feindlichen [!] Artilleriefeuer … Flakgeschütze werden zusammengeschossen. Neue Panzer-Abteilung ansetzen, um nach vorn Luft zu schaffen.“ [33]
Weshalb starb einer der herausragenden deutschen Pathologen, Hochschullehrer und Wissenschaftler an diesem entlegenen Ort in Weißrussland?
Stiftung des Preises
Am 21. August 1966 tagte die Vertreterversammlung der Vereinigung deutscher Sanitätsoffiziere e. V. (VdSO) zum Auftakt des XX. Kongresses der Confédération Interalliée des Officiers Médicaux de Réserve (CIOMR) an der Akademie des Sanitäts- und Gesundheitswesens der Bundeswehr in München. Am Ende ihrer Sitzung widmete sie sich einem besonderen Anlass:
„In Anwesenheit zahlreicher Gäste und der Witwe und Töchter von Oberfeldarzt Prof. Dr. Paul Schürmann wurde anlässlich des 25. Todestages der ‚Paul-Schürmann-Preis‘ zur Förderung der wissenschaftlichen Arbeit auf wehrmedizinischem Gebiet verkündet.“ [34]
Auf der kleinen Feier in der Aula der Sanitätsakademie der Bundeswehr in der Schwere-Reiter-Straße trug im Anschluss Oberstarzt Dr. Johann Friedrich von der Heide die Vita des Namensgebers vor und eine Gedächtnisvorlesung von Prof. Dr. Konrad Lang (1898–1985) aus Mainz befasste sich mit der Geschichte des Blutersatzwesens. Lang hatte im Krieg als Mitarbeiter Schürmanns und Leiter des der Forschungsabteilung der Militärärztlichen Akademie unterstehenden Instituts für Physiologische und Wehrchemie unter anderem an Blutersatzstoffen gearbeitet.
Die Veranstaltung endete mit einer Vorführung der von Schürmann mitgefilmten Dokumentation „Seite an Seite“, der den Sanitätsdienst während der Luftlandung in Kreta 1941 thematisierte.
Im Stiftungstext des Preises hieß es:
„Allen ehemaligen deutschen Sanitätsoffizieren ist Paul Schürmann als Leiter des Pathologischen Instituts sowie als Gründer und erster Kommandeur der Lehrgruppe C der ehemaligen Militärärztlichen Akademie in unvergesslicher Erinnerung. Sie schätzten in ihm den begeisternden akademischen Lehrer mit einem warmen Herz für die Jugend, den opferbereit helfenden Arzt, den vielseitigen und tiefgründigen Forscher, der alle diese Eigenschaften in soldatischer Pflichtauffassung und bescheidener Selbstverständlichkeit zu höchstem Persönlichkeitswert vereinigte. So hat Paul Schürmann das zeitlose Leitbild des deutschen Sanitätsoffiziers vorbildhaft verkörpert. Der Paul-Schürmann-Preis soll daher in seinem Geiste zu wissenschaftlichem Arbeiten und Denken anregen. Die Stiftung des Preises entspricht der Zielsetzung der VdSO als Wehrmedizinische Gesellschaft.“ [3;vgl.auch24]
Der Preis wurde zwei Jahre später, am 16. November 1968, in Köln Wahn vor großem Publikum erstmals verliehen. Die Festrede mit dem Thema „Paul Schürmann und seine Beziehungen zur Militärärztlichen Akademie“ hielt der Düsseldorfer Ordinarius für Geschichte der Medizin, Flottenarzt d. R. Prof. Dr. Hans Schadewaldt (1923–2009) [41]. Zudem verleiht die Deutsche Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. (DGWMP e. V.), vormals die VdSO, seit 1972 die Paul-Schürmann-Medaille an Persönlichkeiten, die sich um das Militärsanitätswesen verdient gemacht haben. Im Zuge der Feierlichkeiten anlässlich des 200. Stiftungsfestes der Pépinière im Oktober 1995 an der SanAkBw enthüllte der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr in Anwesenheit des Präsidenten der DGWMP das Straßenschild „Paul-Schürmann-Ring“ im Kasernenbereich. Im Sommer 2017 wurde es im Rahmen der durch den Generalinspekteur der Bundeswehr angeordneten Überprüfung aller Kasernen nach Wehrmachtsdevotionalien wieder entfernt.
Abb. 2: Beispiele für Verleihungsurkunden aus den Jahren 1995 und 2024
Die vorliegende Arbeit soll den gegenwärtigen Forschungsstand zu Paul Schürmann darlegen. Sie versteht sich auch als Beitrag weiterer notwendiger Forschungen zum Wehrmachtssanitätsdienst und seiner personellen und institutionellen Kontinuitäten, wie sie bereits 2017 von Ralf Vollmuth in seiner grundlegenden Betrachtung über die Problemstellungen im Traditionsverständnis des Sanitätsdienstes postuliert wurden [55] (vgl. auch [18]). Insbesondere soll vor diesem Hintergrund der Frage nachgegangen werden, ob bei der inhaltlichen Betrachtung des überaus positiven Stiftungstextes aus dem Jahre 1966 heute neue Erkenntnisse oder auch Bewertungen über Paul Schürmann getroffen werden können. Sie dient zudem der Einordnung, ob 60 Jahre nach der Stiftung Paul Schürmann auch im Blick auf die Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr vom März 2018 und der Regelung „Traditionspflege im SanDstBw“ vom Juni 2021 [10;53] als sinnstiftendes Vorbild und traditionswürdiger Namensgeber eines Preises für die heutigen Sanitätsoffiziere der Bundeswehr gelten kann, insbesondere in Anbetracht seines Wirkens als Pathologe in der Zeit der NS-Gewaltherrschaft.
Versuchen wir daher zunächst, uns der Person, dem Arzt, dem Wissenschaftler und dem Soldaten Paul Schürmann zu nähern.
Abb. 3: Paul-Schürmann-Medaille
Frühe Jahre
Geboren wurde Paul Schürmann am 25. Juli 1895 in Gütersloh. Er entstammte einer dort alteingesessenen Bauern- und Kaufmannfamilie. Nach Besuch des örtlichen Gymnasiums erlangte er im Sommer 1914 das Notabitur, um danach als Kriegsfreiwilliger und Infanterist im westfälischen Infanterieregiment 15 zu dienen. Schürmann erlebte an der Westfront die Schrecken des Angriffs- und Stellungskrieges an der Aisne, bei Arras und in Flandern. Bereits im Oktober 1914 wurde er durch einen Schuss in die rechte Schulter schwer verwundet und nach langer Genesungszeit infolge einer passageren Lähmung der Hand im Juni 1915 vorläufig als dienstuntauglich entlassen. Dies ermöglichte ihm, noch während des Krieges in Freiburg und Heidelberg Medizin zu studieren. Der Oktober 1917 sah ihn erneut als Soldat, schon als Feldhilfsarzt, einem im März 1916 für nichtapprobierte Unterärzte, mithin noch Medizinstudenten, neu eingeführten Sanitätsdienstgrad, kommandiert zu linksrheinischen Reservelazaretten und einer Prosektur des Heeres in Würzburg. In dieser infolge der Kriegsereignisse wichtigen Einrichtung kam der junge Schürmann erstmalig mit dem Fach der pathologischen Anatomie in Kontakt. Im Jahr darauf, im Mai 1918, erkrankte er, angesteckt im Lazarettdienst, an der Tuberkulose (TBC), deren weitere Erforschung, Diagnostik und Behandlung ihn in den Folgejahren nicht mehr loslassen sollte. Im Dezember 1918 wurde er aus der Armee entlassen.
Aus- und Weiterbildung
Nach Staatsexamen 1920 in Heidelberg und Approbation 1921 wurde Paul Schürmann am 12. Juli 1921 von der Heidelberger Universität aufgrund einer Sonderregelung ohne Dissertation zum Dr. med. ernannt. Er arbeitete zunächst als Medizinalassistent am Krebsforschungsinstitut in Heidelberg unter Otto Richard Teutschländer (1874–1950) und der Deutschen Heilstätte Davos, wo er begann, sich erstmals wissenschaftlich mit der TBC zu befassen. Sein weiterer Werdegang und sein wissenschaftliches Leben wurde im Anschluss von drei der bedeutendsten Vertreter der pathologischen Anatomie in Deutschland beeinflusst: Zunächst von Christian Georg Schmorl (1861–1932) am Pathologischen Institut des Stadtkrankenhauses Dresden Friedrichstadt, an dem die größte Prosektur Deutschlands etabliert war. Hier wirkte er bereits 1924 als Oberarzt. Im Anschluss zog es ihn zur universitären Lehre und Forschung, indem er ab 1926 bei Theodor Fahr (1877–1945) am Pathologischen Institut der Universitätsklinik Hamburg zunächst in gleicher Oberarztfunktion praktizierte und bereits 1927 mit dem Thema „Zur Frage der Gesetzmäßigkeiten im Ablauf der Tuberkulose unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungslehre Rankes“ [50] habilitiert wurde. Schließlich wechselte Schürmann am 1. April 1930 zu Robert Rössle, einem der Amtsnachfolger Rudolf Virchows (1821–1902) am Pathologischen Institut der Berliner Charité.
Der Tuberkuloseforscher
Seine Habilitationsschrift und zahlreiche vorhandene Orginalarbeiten zeugen von außerordentlicher wissenschaftlicher Akribie und Begeisterung gerade für die Erforschung der Tuberkulose, aber auch anderer Erkrankungen, wie der Nephrosklerose [44] und der Infarktnekrose [49]. Bereits Schmorl hatte Schürmann veranlasst, sich mit Rankes Lehre des Primärkomplexes und der ersten pathognomonischen Zeichen der TBC zu befassen. Später schrieb er darüber – neben seiner Habilitation – handbuchartige Darstellungen in prominenten Fachmedien [46]. Für seine wissenschaftlichen Abhandlungen standen ihm dabei in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich höhere Zahlen an Autopsien als heute zur Verfügung. Beispielsweise konnte Schürmann anhand von 1 000 Leichenöffnungen Quantität, Morphologie und Stadien tuberkulöser Veränderungen beschreiben und somit Aussagen zu dem pathognomonischen Bild früher Infektionsstadien treffen.
„Alle Arbeiten Schürmanns ruhten auf einem sehr soliden Fundament, auf eingehenden Beobachtungen und auf einem sehr sorgfältigen Studium der Literatur. Man hatte das Gefühl, dass Schürmann z. B. sämtliche massgeblichen Tuberkulosearbeiten des 19. Jahrhunderts genau gelesen hatte.“ [28]
Von ihm stammen die ersten Beobachtungen einer echten tuberkulösen Re-Infektion: Die Folgen der Erstinfektion können völlig ausheilen, und die neue Ansteckung ruft wiederum einen Primär-Komplex hervor, vornehmlich bei älteren Menschen.
„In dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit der 1927 von Léon Charles Albert Calmette (1863–1933) und Camille Guerin (1872–1961) entwickelten BCG-Impfung der Neugeborenen mit einem durch Fortzüchten auf besonderen Nährböden im Laufe von 13 Jahren fixiert-apathogen gemachten Tuberkelbazillenstamm. Aber schon 1928 mußte er erkennen, dass eine Impfung mit diesem Schutzstoff keinen höheren Immunitätsschutz verlieh, als die in unseren Breiten in der Regel erworbene stille Feiung durch eine überstandene primäre Spontaninfektion.“ [41][S.216]
In Anbetracht seiner Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der TBC war es nur folgerichtig, dass Schürmann als pathologischer Gutachter im Rahmen der Aufklärung des weltweit größten Impfunglücks des 20. Jahrhunderts zu Rate gezogen wurde. In Lübeck waren 1930 von 246 erstmals in Deutschland mit BCG geimpften Neugeborenen 77 aufgrund einer unsachgemäßen Behandlung und Verwechslung der BCG-Stämme mit hochvirulenten Tuberkelbazillen gestorben [27;47]. Das Unglück hatte in Öffentlichkeit und Fachwelt auch international größtes Aufsehen nach sich gezogen. Schürmann selbst, der schon in ersten Untersuchungen die durch die orale Aufnahme im Verdauungstrakt der Kinder entstandenen Primärkomplexe feststellte, schrieb später zu dem Unglück:
„Die Beobachtungen über die primäre Haftung des Virus bei der Fütterungsinfektion lehren uns, dass die Fütterung zu einem Haften an mehreren Stellen, und zwar anscheinend an allen Orten, die überhaupt vom Mund aus erreichbar sind, führen kann. Der in der Literatur festgelegte Begriff der Fütterungstuberkulose ist von Lubarsch und anderen Pathologen schon dahin erweitert worden, dass zu ihm außer der Darm- auch die primäre Gaumenmandeltuberkulose gehört. Dies muss erneut betont und noch hinzugefügt werden, dass auch die Rachentonsillen-, Mittelohr- und Aspirationslungentuberkulose zu ihm gehören können. Die Kenntnis dieser Verhältnisse kann von praktischer Bedeutung für die Feststellung der Infektionsquelle sein, und ich muss anführen, dass unter den gefütterten Kindern in Lübeck, das erste, allerdings aus tuberkulösem Haushalt stammende Kind, als es bald nach der Fütterung an Halslymphknotentuberkulose erkrankte, aus Nichtbeachtung der genannten Verhältnisse als Fütterungsinfektionsfall verkannt und damit nicht als Warnungssignal gewertet wurde.“ [47][S.265] Das Impfunglück wurde übrigens noch 2022 einem Review nach neuesten Gesichtspunkten unterzogen. [14]
Wie Georg Dhom in seiner Geschichte der Histopathologie aufführt, ist Paul Schürmanns wissenschaftliches Werk nicht nur auf die TBC beschränkt, sondern bis heute
„… vor allem aber mit der malignen Nephrosklerose verbunden, die er zusammen mit H.E. MacMahon (1901–1996, später Professor für Pathology an der Tufts University) aus Boston eine fundamentale morphologische Studie widmet. Natürlich geht sie auf Anregung seines Lehrers Fahr zurück. Erst in Berlin aber unter Robert Rössle greifen die Autoren dieses Thema auf. In den Mittelpunkt rücken sie die Schrankenstörung am Endothel der Arteriolen und der kleinen Arterien, die sie die Dyshorie (oros: die Grenze) nennen. Vor allem mit Hilfe der Mallory-Färbung wird die zur Nekrose führende Arteriolenerkrankung, die nicht nur auf die Niere beschränkt ist, beschrieben. Pathogenetisch begründen Schürmann und MacMahon den auch heute noch gültigen Anspruch vom Primat des Hochdrucks: Das `krankheitsbestimmende Prinzip` ist die auf den Hochdruck eingestellte Kreislaufregulation.“ [13][S.433]
Dhom weist in diesem Zusammenhang weiter darauf hin, dass Schürmann sich bereits zum frühen Zeitpunkt auch international vernetzte. So traf der später führende französische Pathologe Jacques Delarue (1901–1971) auf Anregung des Basler Pathologen Frédéric Roulet (1902–1985) Schürmann in Davos, um mit ihm aktuelle Entwicklungen der TBC zu diskutieren [13][S.55].
1930 wechselte Paul Schürmann nach Berlin. Nur fünf Jahre später wurde er aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, noch nicht vierzigjährig, zum persönlichen Ordinarius und ordentlichen Professor an der Berliner Universität ernannt. Wie Murken schreibt, lehnte er Berufungen als Direktor der Pathologischen Institute der Universitäten Basel, Freiburg und Münster ab [29][S.932].
„Äußerer Höhepunkt seiner Forschertätigkeit war die Verleihung des Hamburger Martini-Preises vom 12. Februar 1936 für seine Verdienste vor allem auf dem Gebiet der Tuberkulose.“ [29][S.932]
Der Dr. Martini-Preis ist der älteste medizinische Preis Deutschlands und wird seit 1883 bis heute zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verliehen.
Abb. 4: „Die sogenannte spezifische Arteriolenerkrankung bei Mallory-Färbung. Vas afferens erweitert, von Endothel weitgehend entblösst; ausgedehnter Untergang des blauen Grundhäutchens. Aus Fibrin bestehender blauer Grundbelag. An Stelle eines Grundhäutchendefektes Austritt von Fibrin durch die Arteriolenwand.“ [13][S.433;44][Abb.20]
In der Pathologie der Berliner Charité – Politische Reflexionen
Seit dem 1. April 1930 arbeitete Paul Schürmann an exponierter Stelle als Prosektor, Oberarzt des anatomischen Bereichs, und stellvertretender Institutsleiter am von Rudolf Virchow begründeten Lehrstuhl für Pathologie an der Charité in Berlin. Auch unter dem dort seit 1929 berufenen Direktor Robert Rössle war die damals multifaktoriell aufgestellte Pathologie eines der bedeutendsten wissenschaftlichen Institute im Deutschen Reich. Mit Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 kam es aber auch dort – wie in allen Universitäten resp. Medizinischen Fakultäten Deutschlands – zu einer grundlegenden Änderung hochschulpolitischer und gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen im Sinne nationalsozialistischer Zielsetzungen. Das Berliner Pathologische Institut sah sich dabei zunächst einer starken Beobachtung durch verschiedene NS-Organisationen ausgesetzt, da Rössles Vorgänger Otto Lubarsch (1877–1933) [38] zwar deutsch-national gesinnt, aber doch als zum Protestantismus konvertierter Jude von sogenannter „nicht arischer“ Abstammung“ war und sich in der Weimarer Republik im persönlichen Umgang einige Feinde gemacht hatte. Zudem entsprachen vergleichsweise viele Mitarbeiter, darunter international angesehene Forscher, nicht mehr den rassischen Kriterien der Nationalsozialisten. Rössle hatte in den Jahren zuvor sukzessive die wissenschaftliche Ausrichtung der Berliner Pathologie verändert und die bisherige Institutsvielfalt zerschlagen, die sich z. B. in einer bakteriologischen, experimentell-biologischen bis hin zu einem „Institut für experimentelle Zellforschung“ zeigte. Das neue Institut passte er wissenschaftspolitisch zugunsten eines althergebrachten und im Sinne von Virchow gesetzten morphologischen Schwerpunkts an und sah sich als Konstitutionspathologe gegenüber künftigen gesellschaftspolitischen Herausforderungen gewappnet. Im Pathologischen Institut gab es wie in der gesamten Medizinischen Fakultät nahezu kein grundsätzliches oppositionelles Verhalten gegen die Eingriffe der neuen Machthaber, die Beseitigung der universitären Selbstverwaltung, die rassistische und politische Diskriminierung bzw. die resultierende „Gleichschaltung“. Einzig Paul Schürmann erlaubte innerhalb enger Freiräume ein eigenständig-unangepasstes Vorgehen bei bestimmten Entscheidungen, was später noch aufzuführen und zu diskutieren ist. Vielmehr arrangierte man sich im Sinne von sog. „Kollaborationsverhältnissen“ [26]. Personell galt es im Frühjahr 1933 das durch die neuen Machthaber erlassene Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 mit seinem § 3 in Kraft treten zu lassen, der die Entlassung von Personen „nicht arischer“ Abstammung, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, anordnete. Obwohl man viele Jahre mit den Kollegen bestens zusammengearbeitet hatte, mussten nun 25 % des Personalbestands des Pathologischen Instituts entlassen werden, darunter bedeutende Wissenschaftler bzw. Schüler von Robert Rössle, wie Peter Rona (1871–1945), Leonid Doljanski (1900–1948) oder Arnold Strauss (1902–1965). Rössles Wirken im NS-Unrechtsstaat wird heute als problematisch bewertet [6]. Die nunmehr freien Stellen wurden zumeist mit NS-affinen jungen Ärzten besetzt, die später z.T. ethisch fragwürdige Wissenschaft im Sinne der Machthaber ausübten.
Abb. 5: Paul Schürmann 1931 während des Calmette-Prozesses: Porträtzeichnung des Pressezeichners Emil Stumpp (Bild: Wikimedia commons)
In einem solchen Umfeld bewegte sich nun auch Paul Schürmann in seiner Zeit an der Charité. Seine Tätigkeit als Prosektor war vielschichtig und anstrengend – morgens Sektionen, mittags Demonstrationen vor den Klinikern, nachmittags Unterrichte für die Studenten und abends Forschung, Tag für Tag. Als morphologisch geprägter Tuberkuloseforscher passte Schürmann hervorragend in Rössles neue Fachlichkeit im Institut. Inwieweit er in die damaligen Personalentscheidungen involviert war, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit klären. Auf jeden Fall muss er als Stellvertreter Rössles von den Vorgängen Kenntnis gehabt haben. Allerdings ist davon auszugehen, dass er nur äußerst beschränkte Möglichkeiten und Einfluss hatte. Rössle schrieb später, Schürmann sei nicht nur den Medizinstudenten, sondern auch den Assistenten des pathologischen Instituts ein väterlicher Freund und Berater gewesen.
„Was er immer war, ob Dozent, ob Soldat, ob Freund, ob Gegner, immer war er es ganz.“ [40][S.458]
Bekannt geworden ist auf jeden Fall seine Unbestechlichkeit in grundsätzlichen Fragen der Erziehung des akademischen Nachwuchses und fachlicher Dokumentation. Prüll schreibt:
„So ist überliefert, dass Schürmann seine Studenten wiederholt auf die Bedeutung `hippokratischen` Gedankengutes für die zeitgenössische Medizin hingewiesen und sich selbst eines Tages geweigert hatte, für die Ermordeten des Konzentrationslagers Oranienburg gefälschte Totenscheine auszustellen. Schürmann hatte anstelle dessen die wahren Todesursachen angegeben.“ [39][S.160]
Hierzu gehörte außerordentlicher Mut, zeigte aber einem über Jahrzehnte der Wahrheit verpflichteten Arzt und Wissenschaftler, womit man es nun politisch auf welchem Niveau zu tun hatte: der schleichenden schuldhaften Verstrickung der deutschen Medizin in die Zerstörung von Wissenschaft und Kultur. Schürmann scheute sich auch nicht, sich in einem Gutachten an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung gegen die Karriere eines von Rössle empfohlenen, seiner Meinung aber nur durchschnittlich begabten habilitierten Kollegen auszusprechen, der immerhin SS-Mitglied und später tätig in verschiedenen Konzentrationslagern gewesen ist: Robert Neumann (1902–1962). Prüll zitiert:
„Schürmann, der Neumann schon als Studenten kennen gelernt hatte, attestierte diesem fehlende Originalität und den Arbeitsstil eines Soldaten, der nicht nach links und rechts schaut.“ [39][S.165] (vgl. auch [37][S.395])
Nach vorliegenden Kenntnissen war Paul Schürmann nicht Mitglied der NSDAP oder ihrer Unterorganisationen. Auch das heute noch debattierte Bekenntnis von 900 Universitätsprofessoren zu Adolf Hitler vom 11. November 1933 hat er nicht unterzeichnet. Es gibt keine Unterlagen, die ihm eine Affinität zum neuen Führerstaat nachweisen können. Vielmehr gibt es eine Reihe von Belegen, die darauf hindeuten, dass er die ideologische Gleichschaltung durch das NS-System ablehnte. Eine kürzlich aufgefundene Quelle, die Erinnerungen des berühmten 1. Oberarztes der Chirurgischen Abteilung der Charité, Professor Dr. Rudolf Nissen (1896–1981), der jüdisch stämmig die Klinik und Deutschland trotz aller Bemühungen seines einflussreichen Chefs, Prof. Dr. Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), dem Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik der Charité, im Mai 1933 verließ, zeigt die Haltung von Paul Schürmann:
„Am stärksten berührte mich das Ergebnis einer Besprechung der Oberärzte der Charité, das P. Schürmann, der Prosektor des Pathologisch-Anatomischen Institutes, überbrachte. Wegen der langen Dauer des Operationsdienstes hatten wir für unsere Assistenten in der Chirurgischen Klinik ein eigenes Esszimmer eingerichtet und damit auf die gemeinsamen Mahlzeiten im Casino der Charité verzichtet. Die Oberärzte aller Charitéabteilungen waren zusammengekommen, um ihrer Stellungnahme zu meinem `Fall‘ Ausdruck zu geben. Sie taten das in der Form, dass sie vorschlugen, die Herren der Klinik sollten ins gemeinsame Casino zurückkehren und ich sollte im nächsten Jahr der präsidierende Oberarzt werden. […] Schürmann, den ich im Laufe der Zeit sehr liebgewonnen hatte, war so eindringlich, dass es richtig schmerzhaft war, ihm eine negative Antwort zu geben. Er war tief unglücklich über die politische Entwicklung. Kurz darauf nahm er einen längeren Urlaub, um an einem skandinavischen Institut zu arbeiten. Sein dezidierter politischer Antagonismus machte ihn bald verdächtig. Er fand, um Verfolgung durch die Partei zu entgehen, einen damals oft gewählten Ausweg: Den Eintritt ins aktive Heer. Nach Deutschland kehrte er erst zurück, als die Formalitäten erfüllt waren. Die Uniform … schützte ihn vor dem Zugriff der Nazis.“ [31][S.158]
Tatsächlich befand sich Schürmann ab 1934 auf einem sechsmonatigen Forschungsaufenthalt oder auch „Arbeitsurlaub“, wie Rössle später schrieb, am Kopenhagener Biologischen Institut der Carlsberg Stiftung. Er sollte dort die Methoden der Lebendzüchtung von Geweben erlernen, eine Fähigkeit, die in Deutschland verloren gegangen war. Das aus Geldern der Rockefeller Stiftung finanzierte Institut wurde von dem Krebsforscher und ehemaligen Gastabteilungsleiter für Gewebezüchtung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Biologie in Berlin-Dahlem, Professor Albert Fischer (1891–1956), geleitet. Dort arbeiteten auch verschiedene Emigranten aus Deutschland, wie z. B. der Biochemiker und spätere Nobelpreisträger Fritz Lipmann (1899–1986), den Schürmann in seiner Zeit kennenlernte [37][S.190].
Die Umstände seines Wechsels an die im Oktober 1934 wieder begründete Berliner Militärärztliche Akademie, die Nachfolgeeinrichtung der alten Pépinière, lagen somit eindeutig im Bereich der immer größeren Einflussnahme der Nationalsozialisten auf den universitären Institutsbetrieb. In diesem Zusammenhang sind auch die autobiographischen Hinweise von Werner Wachsmuth interessant, einem Privat-Dozenten für Chirurgie, späteren Lehrstuhlinhaber und NS-Gegner, der ebenfalls in die Wehrmacht wechselte und hierzu Rat bei Sauerbruch, suchte:
„Sauerbruch hörte sich meine Not an und meinte: `Vor wenigen Wochen hat auf dem selben Stuhl Paul Schürmann gesessen, in der gleichen Not wie Sie. Er wollte weg von der Universität, und ich habe ihm in die Reichswehr geholfen.`“ [57]
Auch andere Autoren bestätigen, Schürmann habe sich vor den immer stärkeren Beeinflussungen der Universität durch das NS-Systems in die Wehrmacht zurückgezogen [21;31][S.364]. Der Pulmologe Müller schrieb später in einer Erinnerung an Schürmann:
„Wir alle wissen, dass es mehrere, sehr verschiedene Möglichkeiten gab, sich den Einflüssen der damals herrschenden Partei zu entziehen. Man konnte emigrieren, man konnte im Rahmen einer kirchlichen Organisation arbeiten, man konnte zur Wehrmacht gehen.“ [28][S.390]
Anlässlich der ersten Verleihung des Paul-Schürmann-Preises 1968 fasste Hans Schadewaldt seine Eindrücke so zusammen:
„Mit klaren [!] Blick sah allerdings Paul Schürmann nach 1933 die ersten Anzeichen einer Politisierung und Radikalisierung der deutschen Universität, und er dürfte auch sofort die schwerwiegenden Folgen für die wissenschaftliche Arbeit erkannt haben, die sich für einen, nur der Wahrheit und Erkenntnisgewinnung verpflichteten Forscher daraus ergaben. So zog er als einer der ersten, … die Konsequenzen und trat als Stabsarzt am 1. Februar 1935 in die damalige Reichswehr ein.“ [41][S.216]
Für Schürmann bedeutete es auf jeden Fall den entscheidenden Karriereknick an der Universität, denn sein bisheriges wissenschaftliches Oeuvre, die Erforschung der Tuberkulose, endete nun abrupt.
Anfänge in der Militärärztlichen Akademie (MA)
Als einer der ersten Wissenschaftler wurde Paul Schürmann am 1. Februar 1935 zunächst mit dem Dienstgrad „Stabsarzt“ an die Akademie berufen. Diese zentrale Ausbildungseinrichtung für Sanitätsoffiziere der Wehrmacht lag im Gebäude der 1919 aufgelösten „Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen“ an der Invalidenstraße direkt gegenüber der Charité. Heute beheimatet das repräsentative Gebäude das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz.
Abb. 6: Das Gebäude der ehemaligen Militärärztlichen Akademie in Berlin, Ecke Invalidenstraße/Scharnhorststraße (Foto: Dr. Hartmann)
Die der Heeressanitätsinspektion unterstehende Militärärztliche Akademie hatte erst im Oktober 1934 ihren Dienst aufgenommen und beheimatete die angehenden aktiven Sanitätsoffiziere, die als eingeschriebene Studenten der Medizinischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität die gleichen Lehrveranstaltungen besuchten, wie die zivilen Kommilitonen. Zusätzlich hatten die Soldaten gestaffelt eine straffe wehrmedizinisch geprägte Weiterbildung zu absolvieren, die z. B. die Fächer Kriegschirurgie, Wehrhygiene, Sanitätstaktik oder Kriegspathologie umfasste. Sie wurden dort von erfahrenen habilitierten Sanitätsoffizieren und Vorständen der wissenschaftlichen Abteilungen wie Paul Schürmann unterrichtet.
Nach seiner Aufnahme in die Akademie richtete Schürmann seinen Blick zunächst auf den Aufbau seines neuen Instituts für Allgemeine und Wehrpathologie, denn er sah die Militärpathologie als die Basis für die anderen medizinischen Disziplinen mit militärmedizinischer Bedeutung.
Bereits im Ersten Weltkrieg hatte der bedeutendste deutsche Pathologe des 20. Jahrhunderts, Ludwig Aschoff (1866–1942), erstmals bei Armeen und in der Heimat Feldprosekturen eingerichtet, die Bedeutung der Pathologischen Anatomie für den Sanitätsdienst erschlossen und als Kriegspathologie resp. Konstitutionspathologie auch für weitergehende wissenschaftliche Zwecke formuliert [36]. Zusätzlich wurde die schon in der alten Pépinière angelegte Kriegspathologische Sammlung im Ersten Weltkrieg systematisch auf 7 500 Präparate und 70 000 Sektionsprotokolle [59] erweitert und ab 1934 zunächst als „pathologisch-anatomische Abteilung“ der neuen Militärärztlichen Akademie unterstellt. Sie
„…diente nicht nur der Erhaltung und Vervollständigung der Sammlung, sondern auch der wissenschaftlichen Forschung und pathologisch-anatomischen Aus- und Fortbildung der Sanitätsoffiziere.“ [59][S.250]
Abb. 7: Prof. Schürmann am Schreibtisch in der Militärärztlichen Akademie (Foto: Militärgeschichtliche Lehrsammlung der SanAkBw)
Schürmann konnte somit nahtlos an die im Weltkrieg begründeten und auch nach dem Krieg unfall- und gewerbemedizinisch weitergeführten Bestände anknüpfen und darauf aufbauend neue und weitergehende Institutsstrukturen etablieren. Bereits im Oktober 1935 stand ihm ein voll ausgerüstetes pathologisch-anatomisches Labor zur Verfügung, in dem histologische Untersuchungen zur Klärung von Krankheits- und Todesfällen vorgenommen wurden. Es gelang ihm somit, auch das neue Fach der militärischen Gerichtsmedizin einzurichten und zunächst als gerichtsmedizinische Untersuchungsstelle der Pathologie zu unterstellen. Während des Krieges wurden dort auch gerichtsmedizinische Gutachten über Opfer von Kriegsverbrechen erstellt, ebenso wurden Vernehmungsprotokolle aus Lazaretten gesammelt, in denen Zeugen ihre Beobachtungen gegenüber Lazarettpersonal dokumentierten. Zusammengearbeitet wurde hier mit der Wehrmachtuntersuchungsstelle, die Völkerrechtsverbrechen gegen deutsche Soldaten an allen Fronten ermittelte [9].
Fachlich befasste er sich in diesen Jahren mit einigen wenigen Arbeiten über die Infarktnekrose [49], den Hitzschlag resp. den Kollaps [45] und den Ertrinkungstod, über dessen pathologische Relevanz er 1936 ein „Merkblatt für die Untersuchungen bei Todesfällen beim Baden und Richtlinien für die Leichenöffnung“ herausgab. Die Verbindung zur universitären Forschung nicht abreißen zu lassen war ihm dabei stets ein besonderes Anliegen. So organisierte er Fachtagungen an der Akademie, bei der die bedeutendsten Pathologen der damaligen Zeit anwesend waren, wie 1937 Erich Letterer (1895–1982), Ludwig Aschoff und Arnold Lauche (1890–1959). Wie Prüll berichtet, erhielt Schürmann in Zusammenhang mit seiner Ernennung als ordentlicher Professor im Sommersemester 1935 den Auftrag, an der Berliner Universität die „Kriegspathologie“ in Vorlesungen und Praktika zu unterrichten, ab Wintersemester 1938/39 übte er den Lehrauftrag für „Wehrpathologie“ aus [37][S.190].
Abb. 8: Prof. Schürmann während der Vorlesung in der Militärärztlichen Akademie. (Foto: Militärgeschichtliche Lehrsammlung der SanAkBw)
Der Lehrer und Dozent
Aus Nachrufen, Würdigungen und Beschreibungen von Zeitgenossen geht hervor, dass eine der besonderen Stärken von Paul Schürmann in seiner Persönlichkeit lag. Er wurde als bescheidener, uneigennütziger, aber äußerst gewinnender Charakter von unbestechlichem Urteil bezeichnet. Zudem erwarb er hohes Ansehen durch seine Fähigkeit, den jungen Studenten und jüngeren Mitarbeitern an der Charité durch die Vermittlung der alten ärztlichen Tugenden zum Vorbild zu werden. Der von ihm aus Hamburg an die Charité vermittelte Medizinalassistent Heinz Klinger berichtete später über seinen Lehrer:
„Seinen jüngeren Mitarbeitern war er ein Beispiel an Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit. Immer wieder hat er uns eingeprägt, dass Wahrheit die Grundlage ärztlichen Handelns sein müsse. Dazu gehöre auch das Eingestehen von Irrtümern und begangenen Fehlern.“ [22]
Auch (angehende) Sanitätsoffiziere der MA, die den Krieg überlebten und später in der Bundeswehr dienten, erinnerten sich an Schürmann als hilfsbereiten wie kompetenten Lehrer und befähigten Dozenten in allen Fragen der Wehrmedizin.
Als am 2. Dezember 1936 der 141. Stiftungstag der Akademie feierlich begangen wurde, hielt Schürmann vor großem Publikum den Festvortrag mit dem Titel „Grundfragen der ärztlichen Ausbildung des militärärztlichenNachwuchses“ [48] (siehe auch [4]). Die Inhalte sind auch heute noch bemerkenswert und aktuell. Schürmann nahm unter Bezugnahme auf die von Fichte und Schelling geprägten historischen Grundsätze der Universität zur Frage Stellung,
„…ob das Ziel der Lehrtätigkeit eine enzyklopische Wissensübermittlung werden darf, oder ob weiterhin in einer Erziehung zur schöpferischen Anwendung der selbsttätigen Vernunft das erzieherische Ideal zu sehen ist, in neuen Situationen richtig zu handeln.“ [4][S.45]
Er kam zu dem Schluss, es sei notwendig, dass sich auch in der militärärztlichen Ausbildung ein ärztlich-wissenschaftlicher Geist breit mache und fortpflanze. Im Gesamten zeigt der Vortrag als einer der wenigen erhaltenen Primärquellen Schürmanns aber auch den Mut und die gradlinige Nonkonformität dieses Sanitätsoffiziers. Denn er geht auf Distanz zu jeder nationalsozialistischen Indoktrination und erwähnt die neuen Machthaber mit keinem Wort. Im Gegenteil, Schürmann scheute sich nicht, mehrfach den in der Weimarer Republik bekannten DDP-Politiker, Reichstagsabgeordneten, Psychologen und Arzt Willy Hellpach (1877–1955) als Zeugen für die Wirkung akademischer Tätigkeit zu erwähnen. Während der Kommandeur der MA, der damalige Oberstarzt Dr. Gunderloch, seine Begrüßungsansprache zum Festakt mit den Worten endete:
„Ehrfurchtsvoll wollen wir an dem heutigen Festtage unseres Führers und seines Werkes gedenken und die Wünsche, die wir für unser Vaterland und unseren Führer auf dem Herzen haben, zusammenfassen mit dem Ruf: ‚Unser Vaterland, das Deutsche Volk und sein Führer, unser oberster Befehlshaber Adolf Hitler Sieg Heil!“ [4][S.45]
schloss Schürmann seinen Festvortrag mit dem apolitischen Passus:
„Es liegt an uns Universitätsprofessoren, dem Nachwuchs vorbildliche Lehrer zu sein, im Sinne des Goethe-Wortes: Der Mensch ist kein lehrendes, sondern ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen.“ [48][S.267]
Einer seiner Schüler, Rainer W. Müller, schrieb später (1966):
„Wer damals mit Schürmann zusammenarbeiten konnte, war von seiner Persönlichkeit fasziniert. Er war ein Vorbild für viele von uns. Sein Weg, sein Schicksal und sein Ende waren so, als hätten sie gar nicht anders sein können.“ [28][S.390]
Kommandeur der Lehrgruppe C
Neben Schürmanns originärem Institut für Allgemeine und Wehrpathologie wurden seit 1936 auch andere Forschungsinstitute an der Militärärztlichen Akademie eingerichtet. Sie wurden 1938 zur Lehrgruppe C zusammengefasst, mit Paul Schürmann als Kommandeur. Damit gab es erstmals in der Geschichte des deutschen Sanitätsdienstes eine einheitliche Forschungsgruppe bzw. eine unter einem Dach zusammengefasste Wissenschaft, Forschung und Lehre. Es handelte sich 1938 neben der Pathologie um die nachfolgend genannten Einrichtungen, deren Struktur sich im Verlaufe des Krieges teilweise änderte; genauso kamen weitere Institute hinzu, andere wurden ausgegliedert:
- Institut für Allgemeine und Wehrhygiene,
- Institut für Tropenmedizin und Tropenhygiene,
- Institut für Allgemeine und Wehrphysiologie,
- Institut für Physiologische und Wehrchemie sowie
- Institut für Allgemeine Pharmakologie und Wehrtoxikologie.
Schürmann wirkte hier als Kommandeur Ende der dreißiger Jahre und zu Beginn des Krieges vor allem in organisatorischer und administrativer Funktion. Es zeigte sich aber nach Kriegsbeginn sehr schnell, dass die wehrmedizinischen Forschungen sich auch infolge der Polykratie des Wehrmachtssanitätswesens mit ihren fachlichen Rivalitäten zwischen den Protagonisten nur schwer bündeln ließen und zahlreiche Rücksichtsnahmen erforderlich waren. Vornehmlich die schnell etablierten luftfahrtmedizinischen Forschungseinrichtungen mit ihren ausgewiesenen Fachleuten entwickelten unter der Ägide des Luftwaffensanitätsdienstes [8] ein nicht mehr zu kontrollierendes Eigenleben, das Schürmann auch zum organisatorischen Rückzug zwang. Hier ist vor allem der Freiburger Pathologe Franz Büchner (1895–1991) [25;7] zu nennen, der zu Kriegsbeginn Schürmanns Pathologie in Berlin unterstellt wurde, sich aber gegen den Willen der Akademie schnell emanzipierte und durch das O.K.W. der Luftwaffe unterstellt wurde, um ein „Institut für Luftfahrtmedizinische Pathologie des Reichsluftfahrtministeriums“ in Freiburg aufzubauen.
In eine ähnliche Richtung entwickelte sich die Zusammenarbeit mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin Buch. Noch vor Kriegsbeginn, im September 1938, hatte Schürmann vorgeschlagen, mögliche Kriegsschäden des Zentralnervensystems für forschungswürdig zu erachten und gab den Anstoß zu der ersten zentralen Erfassung derartiger Verwundungen [51]. Zu diesem Zweck sollte in der dem Institut in Buch angeschlossenen Forschungsklinik eine Reserveklinik für Kopfschussverletzte eingerichtet werden. Nach Kriegsbeginn veranlasste Schürmann im Rahmen der Herausbildung militärischer Strukturen im Institut die Kommandierung von militärischem Personal nach Berlin-Buch [42]. Letztlich wurde das Institut unter seinem Direktor, dem Gehirn-Pathologen Hugo Spatz (1888–1969) aber der Luftwaffe als „Aussenabteilung für Gehirnforschung des Luftfahrtmedizinischen Forschungsinstituts des RLM“ unterstellt. Spatz hat ab 1940 im Rahmen des Euthanasie-Programms (Aktion T 4) wissentlich Hunderte Gehirne von Ermordeten untersucht und fixiert [43].
Es ist davon auszugehen, dass auch Schürmanns Einfluss auf die eigenen Institutsdirektoren sicherlich begrenzt war. Immerhin hatte er es mit Persönlichkeiten wie dem Heidelberger Hygiene-Ordinarius Ernst Rodenwaldt (1878–1965) zu tun, dem Direktor des Instituts für Tropenhygiene, „der die Persönlichkeit des intellektuellen, militaristischen Fanatikers der Rassentrennung [verkörperte]“ [15],dem Wehrphysiologen Otto Friedrich Ranke (1899–1959), dessen zwielichtiges Spezialgebiet Pervitin und andere leistungssteigernde Medikamente [54] waren und der an Sanitätsoffizieranwärtern der Militärärztlichen Akademie 1938 „die ersten systematischen Drogenversuche in der Militärgeschichte“ [32]durchführte oder auch dem Toxikologen und Giftgasexperten Wolfgang Wirth (1898–1996), der ebenso Kampfstoffversuche mit LOST – auf freiwilliger Basis – bei Sanitätsfähnrichen der Militärärztlichen Akademie durchführte [60].
Diese ehrgeizigen und in ihren Fächern wie Forschungsvorhaben autarken Institutsdirektoren erhielten als zivile Lehrstuhlinhaber ihre Aufträge direkt von der Heeressanitätsinspektion. Im Einzelnen konnte Schürmann mutmaßlich keinen Einfluss auf die Forschungsprojekte dieser Institutionen nehmen.
Wehrmedizinische Forschung nach Kriegsbeginn
Vor allem nach Kriegsbeginn zeigten sich zudem deutliche Tendenzen einer Radikalisierung der wehrmedizinischen Forschung im Sinne der NS-Machthaber, die sich später im Laufe des sich entwickelnden „Totalen Krieges“ bis hin zu ethisch verwerflichen Untersuchungen und zum Teil verbrecherischen Humanexperimenten entwickeln sollten. Beispielsweise konnte anhand neueren Quellenstudiums auch dem Leiter des Instituts für Physiologische und Wehrchemie, Konrad Lang, der 1966 bei der Stiftung des Paul-Schürmann-Preises als Professor und Institutsleiter in Mainz den Festvortrag hielt, zumindest die Mitwisserschaft, wenn nicht gar die aktive Zusammenarbeit mit der SS zu verbrecherischen Versuchen seiner Serumkonserven im KZ Buchenwald nachgewiesen werden [30]. Die oben aufgeführten Namen, die auch durch weitere der Lehrgruppe C formell unterstehende Beratende Ärzte ergänzt werden könnten, sind jeder für sich mit solchen vornehmlich in der zweiten Kriegshälfte vorgenommenen Forschungen – wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise – verwoben. Auf diesem Gebiet bestehen auch heute noch deutliche Forschungsdefizite [55][S.S9–S10].
In besonderer Weise machte sich ein Schürmann direkt unterstehender Wissenschaftler verbrecherischer Versuche schuldig: Gerhard Panning (1900–1944), Leiter seiner Gerichtlich-medizinischen Untersuchungsstelle, die später zu einem Institut für Wehrgerichtliche Medizin umgewandelt wurde und der in Personalunion auch zum Beratenden Gerichtsmediziner der Heeressanitätsinspektion avancierte. Als Spezialist für Schussverletzungen und Waffenwirkungen testete Panning im Sommer 1941 sowjetische DumDum-Munition an Kriegsfangenen, die ihm von einer der berüchtigten SS-Einsatzgruppen zugeführt worden waren. Ein Kriegsverbrechen ohnegleichen, das er in einem wissenschaftlichen Aufsatz kaschierte, womit er seine Vorgesetzten bewusst täuschte. Allerdings kamen seine Versuche auf verschlungenen Wegen Widerstandskreisen zur Kenntnis [23;35]. Schürmann war zum Zeitpunkt dieser Verbrechen bereits tot.
Es stellt sich nun die Frage, ob Schürmann sich bewusst war, in welche Richtung sich die in seiner Lehrgruppe zusammengefasste Wehrmedizin im Kriege entwickeln würde – auch in Kenntnis der zahlreichen Wissenschaftler, ihrer Eigenheiten und der Forschungsaufträge aus der Heeressanitätsinspektion, die ab 1940 immer offensichtlicher alles förderten, was im weiteren Sinne zur Stärkung der Wehrkraft ohne Rücksicht auf bisherige hippokratische ethische Prinzipien (`Primum non nocere`) beitrug. Der Freiburger Luftwaffenpathologe Büchner schrieb in seinen Erinnerungen über Schürmann:
„Ich denke … besonders an den Weitblick, die wissenschaftliche Großzügigkeit und die Zähigkeit von Paul Schürmann, allerdings auch an die tragische Einengung, die er in seinen wissenschaftlichen Absichten alsbald erfahren hat…“ [7]
So trug auf der ersten Kriegstagung der Beratenden Ärzte der Militärärztlichen Akademie vom 3. Januar 1940, bei der Paul Schürmann anwesend war, der Heeressanitätsinspekteur Prof. Dr. Anton Waldmann (1878–1941) in eindeutiger Weise vor:
„Übergeordnet ist der Gesichtspunkt: wie stärke ich die Wehrkraft? Das bedingt folgendes: während in Friedenszeiten das Helfen und Heilen um jeden Preis in buchstäblichem Sinne dieser Worte für das ärztliche Handeln maßgeblich ist, muss jetzt in der Kampfzeit um unser nationales Sein oder Nichtsein auch diese ärztliche Ethik unterordnen dem oben genannten Gesichtspunkt nämlich: wie stimme ich ärztliches Helfen und Heilen auf die Erhaltung und Festigung der Wehrkraft ab?“ [58]
Allerdings gibt es hierzu keine persönlichen Aufzeichnungen Schürmanns mehr. Ihm selbst sind in den drei Jahren Kommandeurszeit keine ethisch bedenklichen Untersuchungen nachzuweisen, zumal er nahezu keine Forschungstätigkeit mehr ausübte. Es gibt vielmehr viele Hinweise, dass Schürmann auch als Kommandeur,
„…den Freiraum [nutzte], den er in seiner hervorgehobenen Stellung hatte, um eigene Vorstellung der ärztlichen Tätigkeit umzusetzen, ohne dafür bestraft zu werden.“ [39][S.160]
Es erscheint deshalb problematisch, Schürmann zu unterstellen, er habe wissentlich oder unwissentlich mit dazu beigetragen, den Grundstein für spätere Verletzungen der ethischen Prinzipien der Wissenschaft durch wehrmedizinische Forschung zu legen. Allerdings neigt der Verfasser zur Ansicht, dass Schürmann schon zu diesem relativ frühen Zeitpunkt doch die Richtung geahnt hat, in die sich auch die Forschung in der Wehrmedizin entwickeln würde, und dass seine Wahl, aus der Universität in den Sanitätsdienst der Wehrmacht zu wechseln, vielleicht doch nicht die „aristokratische Form der Emigration“ gewesen ist, wie sie der Arzt, Schriftsteller und Pépinière-Zögling Gottfried Benn (1886–1956) einmal bezeichnete, sondern nur ein zeitverzögerter Pfad in das Unrecht, aus dem es als Ausweg diesmal nur die Anpassung an die Verhältnisse oder das Wechseln des Sujets geben konnte.
Denn tatsächlich wandte sich Schürmann, der früher begnadete Forscher, der nun in der Wehrmacht nicht mehr forschte, unbeschadet seiner Aufgaben als Lehrgruppenkommandeur, seit Sommer 1940 einem anderen nicht-wissenschaftlichen Bereich zu, den er als unbelastet ansah und in dem er relativ frei nach eigenen Vorstellungen agieren konnte.
Die Filmografie
Eine besondere Leidenschaft Schürmanns lag in der Fotografie und im Filmen. Als erster Militärarzt in Deutschland verstand er es, einschlägige Lehrfilme zu planen, zu konzipieren, zu drehen und sich als Regisseur zu betätigen, indem er sanitätsdienstliche Abläufe, insbesondere die improvisierte Behandlung und Bergung der Verwundeten, deren Erstversorgung und Weiterbehandlung in Feld- und Kriegslazaretten mit dem neuen Medium ins allgemeine Bewusstsein rückte. Selbstverständlich entsprach dies auch den Intentionen der Heeressanitätsinspektion, die sich in ihrer Öffentlichkeitsarbeit, damals gerne auch als Propaganda bezeichnet, gegenüber anderen Wehrmachtsteilen stets benachteiligt sah. Diese Begeisterung für die Möglichkeiten der Fotografie führte nach Beginn des Krieges gegen Frankreich dazu, dass Schürmann sich mit einem Filmtrupp der Militärärztlichen Akademie vordersten Einheiten anschloss, um möglichst authentische Aufnahmen zu dokumentieren. Dies war auch persönlich für ihn eine gefährliche Tätigkeit. Er musste trotz seiner Aufgabe als Filmschaffender mehrfach auch Verwundeten vor Ort aktiv Hilfe leisten und wurde an der Aisne in Nordfrankreich erstmalig auch im Zweiten Weltkrieg verwundet.
Abb. 9: Prof Schürmann mit Kamera. (Foto Militärgeschichtliche Lehrsammlung SanAkBw)
Im Einzelnen dokumentierte Schürmann zunächst die sanitätsdienstliche Versorgung in dem damals wegen des hohen Anteils adliger und später im Widerstand agierender Offiziere berühmten Infanterie-Regiment 9 („Graf Neun“), beim gefechtsmäßigen Übergang über die Aisne bei Rethel in Frankreich im Frühsommer 1940. Der dabei entstandene Film „Kriegs-Sanitätsdienst“ wurde vor einigen Jahren im Bundesarchiv wieder aufgefunden. Er ist ein eindrucksvolles Zeugnis des filmischen Schaffens von Paul Schürmann, der sich nicht scheute, einen bewussten Kontrapunkt zu den ansonsten üblichen glorifizierenden Wochenschauen und Kriegsberichten zu setzen, in denen das leidende Wesen, dessen Verwundung und dessen Tod (für „Führer, Volk und Vaterland“) keine Rolle spielten. Schürmanns Film thematisierte dagegen auch schwerste verstümmelnde Verwundungen des Menschen, tödliche Verletzungen, Verluste beim Sanitätspersonal oder auch die Behandlung von Kriegsgefangenen als Ausdruck auch im Kriege gelebter Humanitas. Der sorgfältig geschnittene Film, moduliert mit zurückhaltender Musik und erklärendem Kommentar, verzichtet gänzlich auf nationalsozialistischen Duktus, lediglich in der Schlussszene wird Adolf Hitler bei einem seiner seltenen Besuche eines Lazaretts ohne Kommentar gezeigt.
Der Verfasser geht davon aus, dass Schürmann nicht nur selbst gefilmt, sondern auch aktiv bei der Endfassung des Films mitgewirkt hat. Für die Produktion des Films wurde eine verhältnismäßig lange Zeit benötigt. Dieser Umstand einer relativ langen Postproduktionsphase, d. h. Belichtung, Schnitt, Tonspurbearbeitung, Unterlegung mit Musik bis hin zur endgültigen Bildfassung mit Tonspur wird bei der Betrachtung von Schürmanns weiteren Filmen noch eine große Rolle in der Bewertung spielen. Denn die Uraufführung des Dokumentarfilms fand erst neun Monate nach den Dreharbeiten, am 4. April 1941 statt, und wie der „Deutsche Militärarzt“ berichtete,
„…in Berlin in einer nicht öffentlichen [!] Vorführung vor geladenen Gästen … [darunter] Generaloberst Fromm, Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres; der Sanitätschef der Kriegsmarine, Admiralstabsarzt Dr. Fikentscher und der Sanitätschef der Luftwaffe, Generalstabsarzt Prof. Dr. Hippke; Generalleutnant von Hase, Kommandant von Berlin; der Reichsgesundheitsführer, Staatsrat Dr. Conti; der geschäftsführende Präsident des Deutschen Roten Kreuzes und Inspekteur des Sanitätsdienstes der Waffen-SS Dr. Grawitz.“ [1]
Im weiteren Beitrag wird relativ sachlich über den Film berichtet, mit vorsichtigen Hinweisen auf die für damalige Verhältnisse ungewöhnlichen Szenen:
„Seine erschütternd wahren Bilder brauchen weder Grauen noch Entsetzen zu wecken, zeigen sie doch auf, wie sich überall schnell tapfer und sachgemäß Hände regen, die den Verwundeten helfen, sie bergen, ihnen Schmerzen nehmen und sie retten. … Wenn Verluste eintreten, und der Infanterist im feindlichen Feuer jede Deckung ausnutzt, muss der Sanitätssoldat sie verlassen und die Verwundeten bergen. Der Kampf fordert von ihm die gleiche unerschrockene Haltung … [und] auch keinen geringeren Einsatz und keine geringeren Opfer.“ [1]
Im Jahr darauf, noch vor der Präsentation des Filmes „Kriegs-Sanitätsdienst“, widmete sich Schürmann einer weiteren filmischen Darstellung, die allerdings in keinen späteren Würdigungen in Bezug auf den nach ihm benannten Preises auftaucht. Er reiste vom 17. bis 26. März 1941 ins besetzte Polen zur Anfertigung eines Lehrfilms mit dem späteren Titel „Kampf dem Fleckfieber“ [17][S.108]. Die Aufnahmen wurden im Institut für Fleckfieberforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau gedreht, der spätere Dokumentarfilm kann online auf der Homepage des United States Holocaust Memorial Museum (USMM) angesehen werden [12]. Leiter des Instituts war der Berliner Hygieniker und Mikrobiologe Prof. Dr. Hermann Eyer (1906–1997), der später (1943) im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Fleckfieberversuchsstation des Hygieneinstituts der Waffen-SS bei medizinischen Experimenten im Konzentrationslager Buchenwald mitgewirkt hat. Der die Krankheit wissenschaftlich erklärende und in seinen Bildern, u. a. mikroskopischen und Trickfilmaufnahmen, durchaus beeindruckende Film zeigt neben der Entlausung von Betroffenen in einem Entlausungszug die Impfstoffherstellung des Fleckfieberserums nach der Methode des polnischen Biologen Prof. Dr. Rudolf Weigl (1883–1957), der durch Läusefütterung mittels frischen Blutes und anschließender Gewinnung des Serums aus dem Läusedarm erzeugt wurde. Weigl, der in einer Außenstelle des Instituts wirkte, rettete später Tausenden Menschen das Leben, die als Fütterungspersonal dienten und dadurch als kriegswichtig freigestellt nicht von den Nationalsozialisten verfolgt werden konnten.
Zu Beginn des Films werden bei der Darstellung der Epidemiologie des Fleckfiebers allerdings antisemitische und rassistische Narrative bedient: Die Erkrankung komme vor allem bei der verlausten jüdischen Landbevölkerung in Ostpolen vor, die somit als Überträger zu gelten habe und den deutschen Soldaten bedrohe. Szenen zeigen jüdische Erkrankte, möglicherweise sind auch Aufnahmen aus Ghettos eingespielt. Es heißt in der Vertonung:
„Ein altes Fleckfieberzentrum befindet sich in Wolhynien, wo wie auch sonst in Polen die jüdische Bevölkerung betroffen ist. Unglaublicher Schmutz und der ewige Handel mit verlausten Kleidungsstücken sorgen für eine unkontrollierbare Verbreitung der Seuche.“
Dieser Vorspann stammt mit aller Wahrscheinlichkeit aus der Feder von Hermann Eyer, der in einem Fachartikel zur Epidemiologie des Fleckfiebers vom Mai 1942 ausdrücklich auf die Juden als auslösende Ursache im Frieden und Krieg sowie auf die Bedeutung des Kleiderhandels für die Verbreitung des Fiebers hinweist [16].
Es stellt sich hier die Frage der Mitwirkung oder der Billigung Schürmanns. Der Verfasser geht aber davon aus, dass Schürmann bei der späteren Postproduktion des Films nicht beteiligt gewesen sein konnte, denn bereits wenige Tage nach der Rückkehr aus Polen brach er zu einem weiteren filmischen Unternehmen auf den Balkan auf. Schürmann begleitete hier mit seinen Fotografen unter anderem die Fallschirm- und Gebirgsjäger, die ab 20. Mai 1941 auf Kreta landeten. Mit einer JU 52 auf den Flugplatz Maleme eingeflogen, drehte er dort Szenen eines weiteren Lehrfilms über den Truppensanitätsdienst während der schweren Kämpfe in unwegsamem Gelände. Der daraus resultierende Filmbericht „Seite an Seite“, der gemeinsam von Schürmanns Filmtrupp aus der Militärärztlichen Akademie und PK-Mitarbeitern der Wochenschau gedreht, geschnitten und später auch propagandistisch instrumentalisiert wurde, ist ebenfalls im Filmarchiv des Bundesarchivs Koblenz vorhanden und steht auch in der Militärgeschichtlichen Lehrsammlung an der Sanitätsakademie der Bundeswehr zur Verfügung. Der Film ist inzwischen auch auf Youtube unter dem Titel „Kreta 1941 Sieg der Kühnsten“ frei verfügbar [11]. In dieser Fassung sind der Originalvorspanntitel „Seite an Seite“ und der Hinweis auf die Urheberschaft der Forschungsgruppe der Militärärztlichen Akademie herausgeschnitten. Gezeigt wird die Erstversorgung von Schwerverwundeten unter feindlichem Feuer, der schwierige Rücktransport in weitergehende Sanitätseinrichtungen und erstmalig auch die Rückführung von Verwundeten durch Lufttransport in Lazarette auf dem griechischen Festland.
Aus heutiger Sicht ist der Film im Gegensatz zu dem 1940 gedrehten und eher wissenschaftlich-dokumentarisch geprägten „Kriegs-Sanitätsdienst“ jedoch ein propagandistisches Machwerk, das den Angriff der Fallschirmjäger und deutsches Soldatentum im Sinne des Nationalsozialismus positiv konnotiert. Zahlreiche Szenen im Film sind aus Aufnahmen der Propaganda-Kompanien eingefügt, haben keinen sanitätsdienstlichen Hintergrund, sondern zeigen militärische Aktionen untermalt von heroisierender Musik und markigen Kommentaren. Darin eingebunden sind Schürmanns sanitätsdienstliche Clips, die durchaus einen Eindruck von den besonderen Schwierigkeiten der Versorgung vor Ort geben, aber den katastrophalen Hintergrund der blutigen Schlacht nicht realistisch wiedergeben können.
Aber auch hier ist davon auszugehen, dass Schürmann infolge des Kriegsverlaufs nicht an der eigentlichen Konzeption des Filmes beteiligt gewesen sein konnte. Denn er wurde während der Dreharbeiten auf Kreta am 25. Mai 1941 in vorderster Frontlinie schwer verwundet. Einer der am Angriff beteiligten Stabsärzte, Dr. Stöckel, berichtete später über eine Begegnung mit Schürmann auf Kreta:
„Stabsarzt Bauer (Stab Luftlande-Sturmregiment, vgl. [20]) und ich gehen eines Tages durch die Reihen der Verwundeten, da, ich traue meinen Augen nicht, sitzt unser Schürmann in einer Box verschmitzt lächelnd und frühstückt munter darauf los und lädt uns außerdem ein, an seinem frugalen Mahle teilzunehmen. Er hatte einen Lungensteckschuß, wie er sagte. Stabsarzt Werner (Lg SanAbt 11 Luftwaffensanstaffel Gardelegen, vgl. [20]) kam auch noch hinzu und so erzählten wir wohl eine Stunde lang und rauchten unsere Zigaretten, Schürmann fröhlich mit, wie er überhaupt tat, als sei seine Verwundung nur eine lächerliche Sache. Durch unsere Ln.Kp. hatte ich für alle Fälle einen Landeplatz für Fieseler Störche vorbereiten lassen, ganz nahe bei dem H.V.P. und ich versuchte einen Sanitäts-Storch für Schürmann zu organisieren. Es gelang sehr bald, ihn mit einer JU 52 aufs Festland zu bringen.“ [17][S.108–109]
Abb. 10: Prof. Schürmann mit Zigarre (Foto: Militärgeschichtliche Lehrsammlung SanAkBw)
Dort wurde Schürmann im Feldlazarett 624 im Athener Städtischen Krankenhaus Sismanoglion bis zum 8. Juni 1941 behandelt. Dreieinhalb Wochen später lebte Schürmann nicht mehr. An der Filmproduktion arbeitete er somit in beiden Fällen nicht mehr mit. Die aufwändige und zeitintensive Postproduktionsphase der Streifen musste somit von anderen Personen vorgenommen worden sein.
Diese beiden letztgenannten Filme „Kampf dem Fleckfieber“ und „Seite an Seite“ wurden erst im Dezember 1941 – sechs Monate nach Schürmanns Tod – in feierlichem Rahmen und unter Beteiligung der Spitzen der Wehrmachts-Sanitätsdienste öffentlich im Berliner Ufa Palast am Zoo uraufgeführt [5].
Schürmanns letzter Einsatz
Kaum aus Griechenland zurück, ließ sich Paul Schürmann zehn Tage später mit seinem Filmtrupp zur Heeresgruppe Mitte nach Polen kommandieren, um – zugeordnet dem Stab der 18. Panzerdivision – den Einsatz des Sanitätsdienstes in einer Panzereinheit beim Angriff auf die Sowjetunion zu dokumentieren. Nach Überschreitung des Bugs nördlich von Brest-Litowsk am 22. Juni und raschem Vormarsch auf Minsk wurde eine Kampfgruppe der Division für einen Panzerraid über 100 km ins Hinterland der Sowjets zusammengestellt. Schürmann meldete sich zu den vordersten Truppen. Ziel war die Einnahme der operativ wichtigen Autobahn- und Eisenbahnbrücken über die Beresina bei Borissow. Weltgeschichtlich bedeutend waren die Beresina-Brücken bereits im November 1812 geworden; hier überquerte die napoleonische Armee bei ihrem katastrophalen Rückzug den Fluss. Während des Vormarsches traf ihn ein weiterer ehemaliger Schüler, Franz-Ulrich von Stuckrad-Barre, und berichtete:
„Ich kam gerade mit Befehlen meines Chef zum H.V.-Platz und traute meinen Augen nicht, als ich auf einer Bank vor dem Haus Schürmann ruhig und fröhlich wie immer sitzend sah. Er war braun gebrannt von seinem Einsatz auf Kreta und erzählte so nebenbei, wie er alle privaten Dinge behandelte, dass er sich gerade an dem Tag den letzten Verband seiner Kreta-Verwundung abgenommen hatte. Etwa eine halbe Stunde ließen wir uns Zeit zu einem Gespräch, das wie immer mit ihm, nur Wesentliches berührte. Danach brachte ich ihn zu unserem Panzer-Regiment, wo er filmen wollte. Ich hoffte sicher, Schürmann in den nächsten Tagen wiederzusehen, aber es gab auf haarsträubenden Wegen so weite Entfernungen, dass ich nicht einmal dazu kam, ihm persönlich zum EK I zu gratulieren. Sein Grab in Borissow liegt an einer Stelle, die für meine Division historische Bedeutung bekommen hat. Nur war leider am 2. Juli die Lage noch so, dass wir nicht alle an der Beerdigung teilnehmen konnten.“ [17][S.109] (vgl. auch [52])
In schweren Kämpfen konnte am 1. Juli 1941 die Autobahnbrücke über die Beresina von Panzereinheiten gestürmt und ein Brückenkopf am Ostufer gebildet werden. In den frühen Morgenstunden des 2. Juli erfolgte nach Artilleriebeschuss ein Gegenstoß der Sowjets, dem seinerseits wieder durch einen Entlastungsvorstoß der I./Pz.Rgt. 18 begegnet wurde. Schürmann muss sich dabei bereits in der Nacht im feindlichen Feuer über der Brücke befunden haben und starb „mit der Leica in der Hand“ [40][S.458]am frühen Morgen des 2. Juli 1941 durch ein Artilleriegeschoss. Posthum erhielt er für seine Leistungen auf Kreta die Auszeichnung mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse und wurde rückwirkend zum 1. Juli 1941 zum Oberstarzt befördert.
Bei der Gesamtbetrachtung des Geschehens der letzten vier Monate im Leben Paul Schürmanns, das nahezu ausschließlich von seinen Filmvorhaben geprägt war, kommt man zwangsläufig zur Fragestellung, weshalb er sich dies auferlegte. Es war äußerst ungewöhnlich, dass er sich als relativ hoher Dienstgrad in vorderster Frontlinie bewegte, und dies doch wegen relativ banaler Filmprojekte, die auch andere nach seinen Ausführungen hätten durchführen können. Zudem wurde er dort mehrfach verwundet, ließ die Verwundungen nicht ausheilen und setzte damit wissentlich sein Leben aufs Spiel. Schürmann konnte in diesen vier Monaten auch nicht ansatzweise seinen umfangreichen Aufgaben an der Akademie als Institutsleiter und Kommandeur der Forschungsgruppe nachkommen. Was mag ihn also bewogen haben, als erfahrener und lebensälterer Sanitätsoffizier und Wissenschaftler trotz größter Gefahr in vorderster Linie Filmaufnahmen zu tätigen, und das als Ehemann und Familienvater dreier kleiner Töchter? Denn dass er damit sein Leben aufs Spiel setzte, muss ihm klar gewesen sein, vor allem auch in Anbetracht seiner durchaus schweren Verwundungen, die er nicht ausheilen ließ. Ahnte er die unheilvollen Entwicklungen in der wehrmedizinischen Wissenschaft voraus? Erkannte er die Schwierigkeiten mit den ihm organisatorisch unterstellten NS-affinen Wissenschaftlern? Oder war es Pflichtgefühl auch gegenüber seinen jungen Zöglingen, die an der Front dienen mussten, das ihn vom Schreibtisch ebenso in die vordersten Linien trieb? Diese Fragen sind sicherlich spekulativ und lassen sich nur schwer valide beantworten; auch die Zeitgenossen äußerten sich über die Umstände seines Todes eher verunsichert.
Von der Heide schrieb in seinem Gedächtnisvortrag zur Stiftung des Preises:
„Löste damals sein Tod tiefe Ergriffenheit bei allen denen aus, die ihn kannten, hinterließ dieses so bis zum letzten kraftvoll erfüllte Leben auch eine bis heute fühlbare Lücke…“ [19, S. 336}
Wachsmuth interpretierte:
„Aus Verzweiflung über die Greueltaten der Diktatur meldete er sich später … freiwillig nach Rußland an die Front und fiel dort an der Berezina.“ [54]
Aus fachlicher Sicht äußerte sich Robert Rössle Jahre später:
„…wenn aber die … Aufgabe von jedem Bildberichter erfüllt werden konnte, so verbindet sich für die Freunde und Schüler Schürmanns damit außer dem Gefühl der ewigen Trauer die Erbitterung über ein unseliges Ende durch ein unnützes Opfer.“ (40, S. 458)
Abb. 11: Schürmanns Feldgrab am Beresina Damm im Sommer 1941 (Foto: Militärgeschichtliche Lehrsammlung SanAkBw)
Hier wären Aufzeichnungen aus Schürmanns persönlichem Umkreis hilfreich, die allerdings nicht mehr existieren. Der Verfasser kann sich in Anbetracht dieser heute wohl nicht mehr zu klärenden Fragen nicht ganz von der Überlegung lösen, er habe sich vor der Verantwortung seiner Position wegbegeben in einen anderen von ihm selbst zu gestaltenden Freiraum – in einen Bereich, in welchem er relativ frei agieren und eigene Akzente setzen konnte, in dem er aber zusätzlich bewusst sein Leben aufs Spiel setzte oder vielleicht in Anbetracht der oben aufgeführten Spannungsfelder den Tod nicht fürchtete.
Paul Schürmann wurde zunächst am Damm der Autobahnbrücke in einem Feldgrab beigesetzt, im Herbst 1941 erfolgte die Umbettung in den neuen zentralen Ehrenfriedhof Borissow. Während des Krieges besuchten zahlreiche Angehörige des Sanitätsdienstes die gut erreichbare und an der Rollbahn nach Moskau gelegene Ruhestätte. Fotografien beider Grablagen befinden sich in der Militärgeschichtlichen Lehrsammlung der Sanitätsakademie der Bundeswehr. Die Lage des Grabes war anhand von genauen Aufzeichnungen bei dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bekannt, konnte aber lange Zeit nicht wieder aufgefunden werden, da der Friedhof nach der Rückeroberung Borissows durch die Rote Armee 1944 eingeebnet und später überbaut wurde. Inzwischen soll sich das Grab gemäß Meldung des Volksbundes [56] anonym im Block 28 des neuen Zentralfriedhofs Berjosa in Belarus befinden.
Abb. 12: Prof. Schürmanns Grab nach der Umbettung auf die Kriegsgräberstätte Borissow (Foto: Militärgeschichtliche Lehrsammlung der SanAkBw)
Zusammenfassende Bewertung
Paul Schürmann war in seiner Zeit einer der hervorragenden Tuberkuloseforscher, ein geachteter Wissenschaftler und ein angesehener Hochschullehrer. Robert Rössle schrieb in seinem Nekrolog auf ihn Jahre später:
„Um Paul Schürmann werden wir Zeit unseres Lebens trauern. Mit ihm ist eine große Hoffnung der deutschen Pathologie dahingegangen“ [40][S.457]
Verfügbare Quellen zeigen ihn zudem als mutigen Mediziner mit einem festen moralischen Kompass, der seine universitäre Karriere vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Umgestaltung des deutschen Hochschulwesens aufgab. Nach seinem Wechsel zur Wehrmacht im Frühjahr 1935 trug er neben dem Aufbau seines anatomisch-pathologischen Instituts als einer der ersten Sanitätsoffiziere entscheidend dazu bei, eine einheitliche Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Militärärztlichen Akademie zu etablieren und eine aus mehreren Instituten bestehende Lehr- und Forschungsgruppe aufzubauen. Die Zentralisierung der Wissenschaft gelang durch die polykratischen und von Rivalitäten geprägten Strukturen in den militärischen Sanitätsdiensten aber nur teilweise. Zudem sind durch Angehörige, im Umfeld der Forschungsgruppe und durch die ebenfalls unterstellten Beratenden Fachärzte im weiteren Verlaufe des Krieges zum Teil ethisch bedenkliche, verwerfliche und verbrecherische Untersuchungen an Kriegsgefangenen und Insassen von Konzentrationslagern vorgenommen worden. Es gibt aber bis heute keine Hinweise darauf, dass Paul Schürmann in solche Handlungen verstrickt war, davon Kenntnis hatte oder dafür eine persönliche Verantwortung und Schuld gehabt hätte.
Als erster Sanitätsoffizier erkannte er das Medium der Filmografie auch für die Darstellung des Sanitätsdienstes im Krieg und drehte unter hohem persönlichem Einsatz entsprechende Dokumentationen an vorderster Front. Dabei erlitt er in Russland einen frühen Soldatentod.
Die Stiftung des Paul-Schürmann-Preises der VdSO e. V. im Jahre 1966 erfolgte im historischen Kontext des Aufbaus der Bundeswehr, in der enge Traditionslinien zu einer sauber kämpfenden Wehrmacht formuliert, Verstrickungen in deren Verbrechen aber konsequent ausgeblendet wurden. Auch im neuen Sanitätsdienst, in dem viele Sanitätsoffiziere der ehemaligen Heeressanitätsinspektion dienten, und besonders im Wehrmedizinischen Beirat sah man sich als unbelastet oder gar Opfer der Diktatur und betonte den tiefen Humanismus der damals Verantwortlichen.
„Nicht unwesentlich zu dieser Kontinuität in der personellen Entwicklung beigetragen hat die Standesorganisation der Sanitätsoffiziere, die am 19. Juni 1954 gegründete `Vereinigung ehemaliger Sanitätsoffiziere e. V.`, die sich Mitte 1957 in `Vereinigung deutscher Sanitätsoffiziere e.V´ umbenannte.“[30][S.370]
Eine selbstreflektierende Sichtweise, ein kritischer Blick auf die eigene Vergangenheit oder gar das Eingeständnis der Beteiligung an ethisch verwerflichen Forschungen bzw. eigener NS-Indoktrination standen nicht auf der Agenda (Vgl. [55][S.S9–S10].
In diesem Zusammenhang galt es damals, einen Sanitätsoffizier der Wehrmacht zu finden, einen honorigen und anerkannten Wissenschaftler als Namensgeber für den höchsten Preis der Vereinigung, der dem Ideal der „unsichtbaren Flagge der Humanitas“ entsprach, einem Ideal, das man im Grunde selbst gerne verkörpert hätte. Paul Schürmann war eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte, der Arzt und Soldat war, sich für stringente wehrmedizinische Forschung und Lehre einsetzte, aber nicht als Parteigänger der NS-Ideologie galt. Ferner konnte ihm keine persönliche Schuld für verwerfliche Versuche nachgewiesen werden. Im Gegensatz zu allen anderen damals noch lebenden Wehrmedizinwissenschaftlern hatte er sich persönlich tapfer an die vorderste Front begeben, ist dort gefallen und das auch noch früh. Er entsprach deshalb diesem Ideal damals in bester Weise.
Aus heutiger Sicht ist Paul Schürmann allerdings mehrschichtiger zu betrachten. Er kann durchaus einem differenzierten Widerstandsbegriff zugeordnet werden, der gerade im Bereich der ansonsten NS-affinen Medizin im Deutschland der dreißiger Jahre sehr selten gewesen ist. Zunächst gab er seine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere in der Universität auf, um dem Zeitgeist, der ideologischen Gleichschaltung durch das NS-Regime nicht dienen zu müssen. Im Heeressanitätsdienst, in der Militärärztlichen Akademie, suchte er ein geschütztes Umfeld, das ihm Freiräume ermöglichte. Insbesondere in der Friedenszeit konnte er hier Akzente in der Entwicklung eines Wissenschaftsbetriebs im Sanitätsdienst setzen, aber vor allem auch in der ethischen Bildung der jungen Sanitätsfähnriche. Nach Kriegsbeginn wurden die Freiräume enger, denn auch die Heeressanitätsinspektion entfernte sich immer mehr von den hippokratischen Prinzipien, seine wichtigen Protagonisten waren ebenso zunehmend vom Ungeist des NS-Gedankenguts befallen und in verbrecherische Versuche involviert. Schürmann als genauer Beobachter hatte dies erkannt, zog seine Schlüsse daraus und engagierte sich gegen Ende seines Lebens nur noch in einem ihm unverdächtigen Bereich.
Nach meiner Bewertung zeigt die Vita dieses Mannes eindrücklich, in welches verzehrende Spannungsfeld man auch als Arzt und Sanitätsoffizier mit einem festen moralischen Kompass in einem durch Ideologie infizierten wissenschaftlichen Umfeld kommen konnte, und welche Möglichkeiten überhaupt noch blieben, dort zu existieren oder sich diesen Prozessen – bis zur letzten Konsequenz zu entziehen. Sein politisch instrumentalisierter Nachruf im „Deutschen Militärarzt“ 1941 weist noch einmal eindrücklich auf dieses Spannungsfeld hin:
„Schürmann fiel, aber mit der Erinnerung an diesen bis zum letzten getreuen Gefolgsmann des Führers und Kämpfer für sein Vaterland wird sein Werk weiterleben und ihm ein leuchtendes Denkmal sein.“ [2]
Ein getreuer Gefolgsmann des Führers ist Schürmann wahrlich nicht gewesen.
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Manuskriptdaten
Zitierweise
Hartmann V: Oberstarzt Professor Dr. Paul Schürmann (1895–1941), Namensgeber des Preises der Deutschen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie e. V. – Eine kritische Analyse. WMM 2025; 69(3): 62-79.
DOI: https://doi.org/10.48701/opus4-429
Verfasser
Flottenarzt a.d. Dr. Volker Hartmann
Hafenstraße 20, 67346 Speyer
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